Vor diesem Interview kreuzten sich unsere Wege an der Eiger-Nordwand: Nachdem gute Verhältnisse in einer langen Schönwetterphase über Social Media verbreitet wurden, kam es im April 2022 zu einem nie da gewesenen Massenandrang - Siegrist wurde bei einem Erstbegehungsversuch mit den Huberbrüdern durch Eisschlag verletzt, ausgelöst durch zahlreiche andere Seilschaften; mein Vorhaben, fürs Bayerische Fernsehen eine Durchsteigung der Wand zu drehen, endete schon im Vorbau, weil wegen des Ansturms keine sichere Durchsteigung mehr möglich war.
Der Eiger als Wohnzimmer
Malte Roeper: Dein neues Projekt mit den Hubers - die wievielte neue Route am Eiger ist das für dich? Wie lange warst du insgesamt in der Wand?
Stephan Siegrist: Es ist jetzt die vierte neue Route und wenn ich mal kurz überschlage, dann sind es etwa vierzig Durchsteigungen über die verschiedenen Routen – zusammengezählt etwa sechs Monate, die ich dort war.
Der Eiger ist für dich langsam sowas wie ein Wohnzimmer?
Da ich ganz in der Nähe wohne ist es einfacher, die Verhältnisse abzuschätzen. Und es ist natürlich schon ein Platz, wo man sich inzwischen auch wohlfühlt. Wenn ich mich zurückerinnere an meine Winterbegehung der Heckmair-Route damals, also meine erste Tour überhaupt am Eiger, da war natürlich die Anspannung deutlich größer als heute.
Musst du dich nicht manchmal kneifen? Auch du hast ja sicher als kleiner Junge geträumt: Ich werde Bergsteiger. Und jetzt hast du die Eiger-Nordwand, die Wand der Wände in den Alpen, so oft durchstiegen, dass du die Tage dort gar nicht mehr zählen kannst.
Das ist schon auch ein Glücksfall, muss man ehrlich sagen. Ich meine, es ist eine Riesenwand, da kann immer was runterkommen. Da muss man auch dankbar sein, dass nichts passiert ist.
Im Laufe der Jahre sind viele deiner Freunde abgestürzt. Entwickelt man da irgendwann eine Form von Routine?
Routine würde ich nicht sagen, aber es ist schon so, dass man vielleicht etwas abgebrüht wird, weil man das auch irgendwo einordnen muss. Sonst gehst du gar nicht mehr zum Bergsteigen. Aber gerade am Eiger habe ich zwei gute Freunde verloren, und zwar in Routen, die für sie überhaupt kein Problem waren. Wenn ich jetzt einsteige und wieder an die Stellen komme, wo meine Freunde abgestürzt sind, hinterlässt das auf jeden Fall Spuren.
Der eine war Julian Zanker, der mit Thomas Huber und dir an der Tausend-Meter-Nordwestwand des Cerro Kishtwar in Indien unterwegs war. Er ist in der Rampe gestürzt. Und der andere?
Giovanni Quirici, mit dem wir in Kirgistan unterwegs waren. Ein 8c-Kletterer, der war im rechten Wandteil, also auf der objektiv sicheren Seite, in der Sportkletterführe „Chant du Cygne“ unterwegs, das ist 6c bis 7a. Man weiß nie, wo es passieren kann.
Vor drei Jahren ist David Lama abgestürzt, der war ja wirklich ein ganz besonderer Mensch - aber ich muss sagen, wirklich überrascht war ich nicht: immer 180 durch die Kurve. Zeitgleich ist aber eine Autorenkollegin und langjährige gute Freundin von mir an Krebs gestorben - die hatte nie irgendwas besonders Gefährliches gemacht und ungesund gelebt hatte sie auch nicht. Der Tod ist also einfach launisch?
Das habe ich mir auch schon überlegt. Ich sehe draußen so viele Leute, wo du denkst, das geht nie gut, das knallt früher oder später. Und andere, die sehr vorsichtig vorgehen, die sterben und du denkst: Vielleicht ist es vorherbestimmt, da kannst du machen, was du willst. Dann der Unfall von David und fast gleichzeitig der vom Julian…, da machst du dir viele Gedanken.
Du hast mal erzählt, dein Sohn ist noch bei David auf dem Schoß gesessen?
David war immer mal wieder bei uns und es war echt süß zu sehen, wie er zuerst gar nicht wusste, was er mit dem Baby anfangen sollte. Und dann hat er das so schön gemacht. Das sind Erinnerungen, die natürlich hängenbleiben.
Du selber hattest in all den Jahren auf all deinen Touren und Expeditionen keinen einzigen ernsthaften Unfall?
Doch, aber die waren ausgelöst durch andere. Zweimal Steinschlag, einmal hatte ich da einen Schädelbruch, das andere Mal hat es mir das untere Sprunggelenk zertrümmert. Und das dritte Mal hat mich ein Auto umgefahren, da war ich auf dem Velo. Ansonsten schätze ich mich glücklich, dass ich noch nie dabei sein musste, wenn ein Kollege gestorben ist. Ich glaube, das würde das Ganze für mich grundsätzlich ändern.
Du scheinst also eine gute Umsicht und Vorsicht zu haben, um Gefahren entsprechend zu antizipieren und abzubiegen. Kann kein Zufall sein, solange wie du dabei bist.
Ja, vielleicht.... bin ich nicht sicher. Zum einen hab ich bei einer neuen Tour immer überlegt: Wo geht die durch, wo kann man die möglichst sicher vor objektiven Gefahren durchziehen? Und dann ist es aber schon auch Glück, dass nichts passiert. Man braucht ein gutes Team, in dem man auch auf den Kollegen schaut, dass nichts passiert. Und man darf sich nicht zu schade zu sein, auch einmal umzudrehen.
Kommt noch irgendwas nach dem Tod oder ist es vorbei?
Wenn ich aussuchen könnte, was noch kommt, dann möchte ich danach mal ein Adler sein, der in den Bergen rumfliegt und sich die Mühe mit dem Gehen nicht mehr machen muss.
Ich glaube schon, dass es noch etwas gibt nach dem Tod, ob es eine Wiederauferstehung ist oder vielleicht, dass du ein Bewacher, ein Schutzengel wirst von jemandem. Ich glaube, irgendwo geht es weiter, ja.
Wenn heute die Jungen anfangen, die sehen Leute wie dich, die Hubers oder Stefan Glowacz und wissen: Wenn es gut läuft, kann ich davon leben. Das ist eine mögliche Karriere. Als du angefangen hast, vor etwa dreißig Jahren, war das damals ja noch kein denkbares Karriereziel. Hattest du einen Karriereplan?
Nein, überhaupt nicht, ich habe einfach das gemacht, was ich liebte, man hat sich keine Gedanken gemacht. Wie du sagst, dass man davon leben konnte, das hat so nicht existiert. Über die Jahre hat sich das dann so entwickelt. Heute denke ich manchmal, dass viele sich zu sehr überlegen, wie sie sich vermarkten können, bevor sie was angehen.
Welche Erwartungen hatten deine Eltern an dich?
Ich kam mit 17 relativ spät zum Klettern, da war ich schon in der Lehre zum Zimmermann. Meine Eltern haben das mit dem Bergsteigen nicht so gern gesehen. Mein Vater hatte eine Zimmerei, ich war der einzige Sohn und es war klar: Ich werde die Firma übernehmen. Also für meinen Vater war das klar, für mich bald weniger. Dann gab es natürlich Reibereien: „Wieso musst du ständig in die Berge gehen und irgendwas klettern und so viel Zeit damit verbringen?“ Ich musste das immer ein bisschen schönreden: „Ich mache jetzt doch die Bergführerausbildung, für das muss ich trainieren und so.“ Auf die Art habe ich mich ein bisschen durchgeschlichen, ihm auch immer gesagt, ich weiß nicht recht, ob das was wird mit mir und der Zimmerei.
Besser wurde es eigentlich erst, als ich mit 24 einmal mit den Eltern eine mehrtägige Tour auf ein paar Viertausender im Wallis gemacht habe. Da hat mein Vater gesagt: „Jetzt verstehe ich, warum du das machst. Wenn ich in deinem Alter wäre, ich würde es wahrscheinlich auch so machen.“ Und das hat auch unsere Beziehung wieder sehr gestärkt. Heute ist es absolut kein Thema mehr. Er hat auch einen Nachfolger gefunden, aber damals war das schon eine schwierige Zeit.
Und deine Mutter?
Mit ihr war es immer sehr entspannt. Sie hat auch immer versucht, zwischen dem Vater und mir zu schlichten.
Wie waren deine Anfänge als Profi? Dass Alexander Huber so in die Medien kam, verdankte er der Zusammenarbeit mit dem Fotografen Heinz Zak, Stefan Glowacz seiner Zusammenarbeit mit Uli Wiesmeier. Wie war das bei dir? Waren und du Thomas Ulrich auch so ein fixes Team?
Ja, genau, Thomas hat viel dazu beigetragen, dass ich einen Schritt weiterkam. Das Sprungbrett war aber dann schon 1999 diese Eiger-Live-Sendung, wo wir uns kennengelernt haben. Da wurde ich dann auch in Deutschland wahrgenommen. [Anmerkung der Redaktion: Die Live-Übertragung einer Durchsteigung der klassischen Heckmair-Route war eine schweizerisch-deutsche Co-Produktion. Siegrist war einer der vier Bergsteiger und Malte Roeper Co-Kommentator fürs deutsche TV.]
Als du anfingst mit Klettern, da war das ja noch so ein kleiner Männerbund am Rande der Gesellschaft. Jetzt ist es in der Mitte der Gesellschaft angekommen und was mich am meisten fasziniert: Die Kletter- und Boulderhallen stehen jetzt genau dort, von wo wir früher immer geflüchtet sind, nämlich in den großen Städten. Wie hast du diese Entwicklung miterlebt?
Es ist sicher schön, dass viele Leute realisiert haben, dass das Klettern für die physische, aber auch für die mentale Fitness sehr viel bringen kann. Heute betreiben es sehr viele einfach nur als allgemeines Fitnesstraining. Was ich natürlich schon etwas schade finde, dass sich die Konsumgesellschaft so etabliert hat: Auch wenn ich rausgehe, konsumiere ich einfach. Und manchmal finde ich den Zugang von den Hallenkletterern draußen in der Natur etwas beschämend, aber das darf man nicht verallgemeinern. In jedem Fall bringen diese Hallenkletterer oft ein unglaublich hohes Niveau mit nach draußen.
Wenn man früher rausging an diese Insider-Treffpunkte, im Klettergarten oder im Gebirge, hatte man nicht auch das Gefühl, dass man ein bisschen aus der Gesellschaft rausging - in einen freien ungeregelten Raum? Das ist jetzt eigentlich nicht mehr so der Fall. Man geht raus ins Freie, aber aus der Gesellschaft aussteigen für einen halben Tag, das tut man eigentlich nicht mehr.
Ja, genau. Aber die Community, zusammen draußen zu sein, das Erlebnis als kleine Gemeinschaft, das finde ich auch heute noch etwas vom Schönsten.
Bitte noch ein paar Anekdoten von früher - es gab diese WG mit Roger Schäli in einem Haus, das zu schäbig war, um Asylbewerber unterzubringen...
Da gab es sogar einmal einen Artikel im Alpin, weil eigentlich jeder und auch viele vom Ausland wussten, dass die Tür immer offen ist. Diese WG hatte ich über zehn Jahre, die Mitbewohner haben ab und zu gewechselt. Es war tatsächlich so, dass zeitweise, wenn ich nach Hause kam und ins Bett wollte, schon jemand drin lag und ich musste mir dann daneben irgendwo einen Platz suchen. Und da gingen natürlich auch entsprechend die Partys ab, es war eine supercoole Zeit. Eine Zeit, die ich schon - muss ich ehrlich sagen - heute etwas vermisse.
Bist du von der WG direkt in dieses große Haus gewechselt, wo du jetzt mit deiner Familie lebst?
Es gab zum Glück noch eine Zwischenstufe, da waren wir vier Bergführer. Das war dann so ein bisschen ein Annähern an das zivilisiertere Leben.
Wie sieht dein Leben jetzt so aus? „9-to-5“ wird es bei dir nicht geben...
Es geht ja beim Bergsteigen um Wetter und Verhältnisse, das macht die Organisation mit der Familie entsprechend schwierig. Ich habe Montag, Dienstag normalerweise immer die Kinder, da bin ich Papa und Hausmann. Den Rest der Zeit versuche ich, zum Klettern zu gehen, zum Bergsteigen, es gibt Sponsorenverpflichtungen, andere Projekte, auch mit dem Fernsehen. Und das sind natürlich dann immer etwas kompliziertere Abstimmungen, weil viele Personen involviert sind. Wirklich ganz fokussiert sein kann ich erst wieder auf Expedition, dann gibt es keine Ablenkung, dann ist klar: Okay, sechs Wochen bin ich dort. Ich bin auch nicht verbunden mit dem Internet, es gibt bei mir keine Social-Media-Posts oder was auch immer. Und die Zeit genieße ich unglaublich. Ich sage jetzt nicht gerade, es sind Ferien, aber mentale Ferien sind es auf jeden Fall und es ist natürlich auch ein Privileg.
Sind die Tage in der Wand auf der emotionalen Ebene nicht auch eine totale Erholung, weil es fast zwangsläufig immer so harmonisch ist? Man ist ja darauf angewiesen, dass man mit seinem Seilpartner in Harmonie ist.
Ich würde sagen zu neunzig Prozent, es gibt natürlich auch bei uns einmal Diskussionen. Aber der Vorteil ist, man muss eine Lösung finden in dem Moment. Denn wenn es keine Lösung gibt, dann heißt es: Wie kommen wir nach Hause, oder? Deshalb finde ich es auch eine gute Lebensschulung, es braucht auch die Diskussionen. Und man darf nicht vergessen, dass wir alle ein wenig Alphatiere sind…. „jetzt will ich aber!“
Aber grundsätzlich kann man sagen, es ist schon sehr loyal. Und bei Kollegen wie Thomas und Alex Huber hab ich manchmal fast das Gefühl, die sind wie meine Brüder, weil wir schon so viel zusammen erlebt haben. Gleichzeitig verspüre ich auf Expedition nach sechs Wochen schon einen sehr starken Drang, endlich wieder die Familie zu sehen. Manchmal ärgere ich mich auch, was ich alles verpasst habe mit den Kindern. Auf der einen Seite liebe ich es unglaublich, wegzufahren, andere Kulturen zu sehen und den Kopf nur für dieses Projekt da zu haben. Aber wenn dann zuhause irgendwas ist, dann hast du schon das Gefühl, du bist jetzt eigentlich am falschen Ort.
Gab es den Fall schon mal konkret?
Auf der letzten Expedition, da ist mein älterer Sohn - er ist Wettkampfschwimmer - im Trainingslager ohnmächtig geworden: Kopf angehauen, musste ins Spital in Spanien, sprach kein Wort Spanisch, die kein Wort Englisch. Dank der heutigen Möglichkeiten mit dem Satellitentelefon konnte ich mit ihm und mit meinem wenigen Spanisch mit den Ärzten sprechen, so dass er zumindest wusste, was los war. Das war während der Coronazeit, da war der ja von jeglichen Besuchern abgeschottet, auch vom Trainer und so weiter.
Bei großen Bergsteigern gab ja oft einen Moment von Initiation in der Jugend. Bei Wolfgang Güllich gab es die Geschichte, dass er mit sechzehn oder siebzehn mit Reinhard Karl zusammen die erste freie Begehung einer Route in der Pfalz versucht hat. Der berühmte Reinhard Karl kommt nicht rauf, Güllich schafft es, Reinhard klopft ihm auf die Schulter: Ritterschlag. Bei den Hubers war das, glaube ich, der Moment, wo sie mit vierzehn und sechzehn, eine Route im Kaiser freigeklettert haben und der Hüttenwirt hat den Minderjährigen ein Maß Bier hingestellt. Gab es sowas bei dir auch?
Also ich kann mich erinnern, dass ich mal die Lauperroute am Eiger solo in vier Stunden gemacht habe, also links von der Nordwand. Das hat sich rumgesprochen und dann kam der Jürg von Känel zu mir und hat gesagt: „Ja, Wahnsinn, super“ und so. Das war schon irgendwie ein Zeichen, wo ich gedacht habe, das ist jetzt vielleicht tatsächlich nicht ganz so schlecht. Da fühlt man sich schon geehrt. Und dann gab es damals das „Ravage“, ein Klettermagazin aus der Schweiz. Und die haben dann was veröffentlicht: ich hab eine 7c on sight geklettert - damals war das noch was, heute natürlich nicht mehr. Und dann gleichzeitig den Eiger im Winter, da hat man schon gemerkt: Was ich da mache, irgendwie ist das was.
Dein Sponsor war seit jeher Mammut, jetzt bist du dort Athletenmanager - oder wie heißt deine Bezeichnung?
Ich bin das Verbindungsglied von außen, von den Athleten, die wir draußen haben, nach innen ins Geschäft. Über die Jahre habe ich das Business ja kennengelernt, und da gab es natürlich immer die Diskrepanz zwischen dem, was du draußen erlebst und dem, was erzählt und berichtet wird. Ich habe nichts mit den Verträgen zu tun. Mein Job ist, dass der Informationsfluss besser läuft.
Du bist im Dezember fünfzig geworden. Hattest du irgendeinen bestimmten Wunsch oder nur den Wunsch, dass der fünfzigste Geburtstag schnell vorbeigeht?
Ich hab mich nicht so vor dem Fünfziger gefürchtet. Aber ja, wenn ich dann auf andere schaue, die auch fünfzig sind, dann denke ich mir mal, sch..., jetzt musst du dich ein bisschen zusammennehmen, wie du sprichst und so. Aber es hilft auf jeden Fall, dass ich auch immer mit Jungen unterwegs bin. Da bleibst du, glaube ich, schon auch ein bisschen jünger. Was ich mir sicher wünsche, dass ich gesund bleibe, noch vieles machen kann und entsprechend auch viel Zeit mit der Familie verbringen kann.
- Ende -