Gipfel oder Meer? Schnee oder Salzwasser? „Wir Kreter sind ein Bergvolk und keine Insulaner“, sagt Simula Paraschaki mit Überzeugung. 75 Prozent der Insel bestehen tatsächlich aus Bergen. „Die Menschen wohnen dort mit ihren Olivenbäumen, ihren Trauben, mit ihren Schafen und Ziegen. Droben haben sie ihr Leben. Viele haben gar keinen Bezug zum Meer“, erzählt die gebürtige Dänin, die vor mehr als einem Vierteljahrhundert nach Kreta kam. So viel zu den Vorurteilen. Dass man Kreta eher mit Sandstränden, Olivenhainen und Sonnenbaden in Verbindung bringt, kommt ja nicht von ungefähr.
Eine griechische Insel mit Powder, Harscheisen und Firn-Abfahrten?
Die griechische Ägäisinsel ist in der Skitouren-Szene wahrlich nicht als Hotspot bekannt. Kein Wunder, denn zur dortigen Brettl-Community gehören halt nur ein paar Dutzend, naja, Freaks. Vielleicht sind es auch hundert, so genau weiß das selbst Simula Paraschaki nicht, obwohl sie auf Kreta zur Spitze des winterlichen Tourensports zählt. Früher war sie im Nationalteam für Skibergsteigen aktiv.
Ein Vorurteil über den „typisch griechischen“ Lebensstil jedenfalls bewahrheitet sich, als es so gegen 12 Uhr zur Skitour am Psiloritis losgeht. Mittags! Warum der für das nordeuropäische Gemüt eher späte Aufbruch kein Ausdruck von südländischer Lässigkeit ist, wird sich noch zeigen. Erstmal muss eine wirklich rumpelige Piste von Vistagi in das höchste kretische Massiv bewältigt werden. So weit, bis die Schneegrenze erreicht ist. 900 Höhenmeter stehen trotzdem noch bis zum Gipfel an, erklärt Nikiforos Steiakakis am Ausgangspunkt. Denn mit 2325 Meter Höhe ist der knapp unterhalb des Psiloritis gelegene Stolistra gar nicht so niedrig. Trotzdem: Beim Start muss man die Skispur von Schneefeld zu Schneefeld legen. Diese schmiegen sich in die Mulden und Rinnen, die sich anfangs noch zwischen Kermeseichen und Sträuchern sowie Kalkplatten und Schuttrücken verstecken. Doch dann folgen gigantische weiße, gleichförmige Hänge, die sich ohne Hindernis über die Westflanke bis zum Gipfelgrat hinaufziehen.
„Es sieht alles so nah aus, weil wir keine Referenzpunkte im Gelände haben“, warnt Steiakakis, der unzweifelhaft zu den Ski-Protagonist*innen der Insel gehört: Erst Stunden später werden die Höhen des Massivs erreicht sein. Bald zeigen sich die Vorteile des späten Aufbruchs: Weiter oben am Berg wird die Schneeoberfläche so eisig, dass es gar nicht abwegig erscheint, von Tourenski auf Steigeisen zu wechseln. Bei einer Skitour auf Kreta begegnen einem meist drei Schneearten im Laufe des Tages: Morgens findet sich häufig eine eisige Kruste. Mittags firnt der weiße Stoff auf. Und nachmittags verwandelt sich die Masse dann gerne in einen Nassschneesumpf. „Es hat also seinen Grund, warum wir Kreter immer erst so spät starten“, kommentiert Paraschaki verschmitzt. Es ist nämlich sicherer und angenehmer, sich erst am frühen Nachmittag an die Abfahrt zu machen.
Eigener Insel-Skitourenstil
Dass das Tourengehen auf Kreta seinen eigenen Stil entwickeln konnte, hat sicher auch damit zu tun, dass es wenig Vorbilder gab. Eigentlich mussten die Menschen hier sich das Know-how dafür selbst aneignen. Der 45-jährige Steiakakis ist ein gutes Beispiel dafür, denn er war wintersportmäßig ein Spätzünder. „Erst mit 32 Jahren habe ich Skifahren gelernt: Auf dem griechischen Festland und in den Alpen“, erzählt der Mann aus Heraklion, der zuvor anspruchsvolle Bergtouren in Himalaja und Hindukusch gemacht hatte. In den vergangenen Jahren hat sich eine kleine Ski-Community auf der Insel etabliert. So gibt es jetzt sogar einen Outdoor-Laden in dem Bergdorf Livadia am Psiloritis. Den betreibt der örtliche Klempner. Überhaupt ist die überschaubare Szene geprägt von Persönlichkeiten. So auch von „Papa Andreas“, wie der Pfarrer Andreas Kokkinos aus Livadia von allen genannt wird. Er soll den Weg für den Skitourismus geebnet haben. Als „die jungen Leute mit den bunten Klamotten und den merkwürdigen Brettern“ nämlich erstmals in den Bergdörfern auftauchten, waren sie nicht wirklich willkommen.
Im Laufe der Zeit aber begannen die Tourengeher*innen damit, die Kinder in den Dörfern im Skifahren zu unterrichten. Besagter Klempner und der Bürgermeister halfen dabei. Mangels Lifte mussten die Kinder die geliehenen und uralten Abfahrtsski in der Hand den Berg hinauftragen. Auch Papa Andreas kam immer wieder zum Training nach der Sonntagsmesse. Jetzt kann er zumindest flachere Hänge hinunterrutschen, sagt er. Der größte Traum des Pfarrers ist, es einmal mit Ski hinauf bis zur Kapelle am Psiloritis-Gipfel Timios Stavros (2456 m) zu schaffen – und heil wieder runterzukommen. Den kleinen Steinbau samt dem benachbarten Glockengerüst dort oben kann man schon mal übersehen, wenn er sich im Frühjahr unter Schneeverwehungen versteckt.
Denn viele Skitouren im Ida-Gebirge, wie das Massiv auch genannt wird, können einfach kombiniert werden. Bei der Aussicht von den Bergspitzen bietet sich ein faszinierender Kontrast von mediterranem und alpinem Ambiente. So auch am Stolistra: Rechts glitzert das Lybische Meer, links blinkt die Kretische See – neben den verschneiten Höckern der Psiloritis-Berge. In dunstiger Ferne ist ein weiteres Skitouren-Areal erkennbar: die Gipfel von Lefka Ori.
Hoher Abenteuerfaktor im Lefka Ori-Gebirge
Die Bergnamen auf Kreta könnte man boshafterweise als einfallslos bezeichnen. Psiloritis bedeutet nämlich schlicht und einfach „hoher Berg“. Ähnlich ist es mit Lefka Ori, den „weißen Bergen“. Bei Letzteren streiten sich allerdings die Einheimischen darüber, ob der Name nun von der sommerlichen Farbe der blendend hellen Kalkfelsen herrührt. Oder doch eher daher, dass die verschneiten Spitzen im Frühjahr so wuchtig die Hafenstadt Chania überragen. Apropos Lefka Ori: Das Areal in Westkreta ist das größte Gebirge der Insel und ein Labyrinth mit immerhin 50 Gipfeln von über 2000 Meter Höhe, viele sind fast so hoch wie am Psiloritis. „Bei schlechtem Wetter sind die Touren dort alpin und anspruchsvoll“, warnt die Expertin Paraschaki. Als Paradetour gilt die Durchquerung, die sich am besten in zwei oder drei Tagen absolvieren lässt. Von der Kallergi-Hütte aus mit einem Zwischenstopp in der unbewirtschafteten Katsiveli-Hütte, die der Alpin Club Chania managt, ist der Abenteuerfaktor dann ziemlich hoch. Zumal man sich zwischen den Höhen von Psari (1817 m), Melindaou (2133 m) und Trocharis (2401 m) in einem fast unbesiedelten Landstrich bewegt, bevor man die Schlussabfahrt zum kleinen Weiler Agios Ioannis oder nach Anapoli in Angriff nehmen kann. Auch wenn Kreta eher einen Ruf als Sonneninsel und Sommer-Destination hat: Schnee gibt es auf den höheren Bergen im Inneren häufig schon im November, spätestens aber ab Weihnachten. Bis Ende März ist es im Gebirge überraschend schneesicher. Selbst, wenn neben den Abfahrtsspuren manchmal schon die Felsen herausschauen. „Nordseitig gehen viele Abfahrten sogar bis in den Mai“, erzählt Steiakakis. Lawinengefahr dagegen herrsche nur selten: Meist schmilzt der Schnee nach dem Fallen schnell zu einer einzigen soliden Schicht zusammen. Dem mediterranen Klima sei Dank.
Skisport oder Drogenschmuggel?
Menschen, die auf Skitour gehen und zumeist aus den kretischen Städten kommen, hatten zu Beginn einen schweren Stand in den Bergdörfern, wo das Leben – gelinde gesagt – noch stark von Traditionen geprägt ist. Skisport? Bis vor kurzem war das für die, die in den Bergen Landwirtschaft betreiben, ein rotes Tuch. „Vor ein paar Jahren haben die Locals mit dem Finger auf uns gezeigt und uns für verrückt erklärt“, erinnert sich Simula Paraschaki an die Anfänge. Außerdem fürchteten vor allem die Menschen in den hochgelegenen Dörfern offenbar noch etwas anderes: Dass sie nicht mehr ungestört Cannabis produzieren können. Die berauschende Pflanze scheint prächtig zwischen Orangen- und Olivenbäumen zu gedeihen. Für den heimlichen Anbau von „Gras“ ist die Region am Psiloritis bis heute bekannt. Verkehrte Welt: Selbst die Polizei filzte die Skitourist*innen immer wieder, wenn sie aus den Bergen zurückkamen. „Die Beamten haben gedacht, dass wir Drogen schmuggeln. Warum sonst sollten wir mitten im Winter durch den Schnee ziehen?“ Nikiforos Steiakakis muss immer wieder lachen, wenn er die Geschichte erzählt.
Heute ist das Skitourengehen auf Kreta zumindest so populär, dass es einmal im Jahr ein Rennen gibt, für das sogar die Menschen vom griechischen Festland eigens herüberkommen. Pierra Creta nennt sich das Event im März, das eine Mischung aus Volkslauf und Schnee-Party darstellt.
Pierra Creta: Sirtaki im Schnee
Es ist wohl das südlichste Skitouren-Rennen in Europa: Alljährlich Anfang März – sofern nicht Corona dazwischenfunkt – startet auf Kreta nahe Anogia im Psiloritis-Gebirge das „Pierra Creta Race“. Seit 2014 ist die Beliebtheit des ehrenamtlich von der Organisation „The Black Sheep“ geschaffenen Events ständig gewachsen, so dass jetzt manchmal mehrere hundert Menschen jeglicher Couleur dabei sind. Renn-Profis sind nicht allzu viele am Start. Doch zahlreiche ambitionierte Tourengeher*innen aus den Alpenländern komplettieren das Feld mittlerweile.
Gestartet wird in Zweier-Teams. Die beiden Rennstrecken führen – je nach Verhältnissen – über etwa 1800 oder 900 Höhenmeter. Natürlich gibt es eine professionelle Zeitnahme. Doch die meisten Teilnehmenden genießen den Lauf ohne Druck. So machen sich auch viele Tourenneulinge, ganze Familien oder Fun-Teams auf die Strecke.
Der Spaß steht bei dem Ganzen auch für die Ausrichtenden im Vordergrund. So ist es fast die Regel, dass der Startschuss um eine halbe Stunde oder mehr verlegt wird, weil die Volkstanz- oder Sirtakigruppen ihre Darbietungen noch nicht beendet haben. Eine Party mit kretischem Büffet und reichlich kühlem Weißwein beschließt das Event. Und ist für viele auch der Höhepunkt des Tages.
Mehr Infos unter pierracreta.gr/en.
Auch die Männer aus Anogia wissen die Präsenz des Skitourismus inzwischen zu schätzen. Am Ende der Winterstraße ins Psiloritis-Gebirge ist nämlich ein Foodtruck geparkt. Der rollende Kiosk bewirtet nicht nur die Wintersport-Fans, wenn sie nach der Abfahrt noch einen Souvlaki- Fleischspieß vom Grill oder eine Cola wollen. Die Herrenwelt aus den nahen Dörfern gibt sich hier am Wochenende nun allzu gern ein Stelldichein im Schnee – wohl, um ihren sonntäglichen, familiären Verpflichtungen zu entgehen: Frühschoppen mit Raki und Dosenbier. Angesichts der Speisen, welche man in den Tavernen auf Kreta bekommt, stellt sich auch die Kultur-Frage so schnell nicht mehr. „Wir machen hier Milchprodukte: jede Art von Käse. Wir essen viel Fleisch.“ Das will Paraschaki nochmal klarstellen, als sie sich bei einem kretischen Büfett den Teller garniert: Schaf, Ziege, Lamm oder Hammel gibt es en masse. Fisch, Oktopus oder Meeresfrüchte eher in den Strandrestaurants der Badeorte. Logisch also, dass laut Paraschaki die Einheimischen für eine Bergkultur stehen: „Wenn Du auf einer Insel bist, so sagen wir, dann kannst Du von überall das Meer sehen. Das ist auf Kreta ja nun wirklich nicht der Fall.“ Klare Sache!