Erstaunlich, wie alpin das Mittelgebirge sein kann! Im wilden Zickzack geht es die „Ripp“ hinauf, einen Kamm aus teils glattgetretenen, teils scharfkantigen Schieferfelsen, an denen man schon mal die Hände zu Hilfe nehmen muss. Dass einem die Sonne in den Nacken brennt, macht den Aufstieg zu einem zwiespältigen Vergnügen – der Saar-Hunsrück-Steig beginnt mit einer echten Herausforderung! Auf der schattigen Terrasse des Gedeonsecks angekommen, sind die Strapazen aber schnell vergessen: In welch großartige Aussichtsposition man sich doch in einer guten halben Stunde bringen kann – allein mit Muskelkraft! Tief unter uns die Rheinschleife von Boppard, ein landschaftliches Gesamtkunstwerk mit Kirchtürmen, Burgruinen und Weinbergen. Dazu große Frachtschiffe und Ausflugsdampfer, die wie in Zeitlupe durch das Tal ziehen. Den Saar-Hunsrück-Steig (SHS) mit der Ripp zu beginnen heißt, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Der offizielle Startpunkt liegt nämlich mehr als 150 Kilometer Luftlinie entfernt im Moselstädtchen Perl. Von dort aus würde man erstmal das nordwestliche Saarland durchmessen, für einige Tage in den Nationalpark „Hunsrück- Hochwald“ eintauchen und schließlich die Schmuckstadt Idar-Oberstein erreichen. Übrig blieben dann noch die zehn Etappen, mit denen der Weitwanderweg vor einigen Jahren bis zum Rhein verlängert wurde – und die wir jetzt in umgekehrter Reihenfolge in Angriff nehmen. Wir bilden uns nicht ein, den Steig auf einen Streich bewältigen zu können. Denn erstens misst er 410 Kilometer und zweitens ist fraglich, wie lange wir an den gemäßigten Gefilden des Mittelgebirges Freude haben würden – ohne die gewohnte Höhenluft in den Alpen.
Schneller als uns lieb ist gerät der tief eingeschnittene Mittelrhein aus dem Blick. Erst nach zwei Stunden öffnet sich der Buchenwald auf den Höhen des Hunsrücks – jenem dünn besiedelten Hügelland zwischen Mosel, Rhein und Nahe, das Holländern und Belgiern bekannter ist als manchen Bundesbürger*innen. Der Blick auf die Wanderkarte gibt zu denken: Der Weg macht hier unverständlich viele Schleifen – ganze sieben Kilometer sind es bis zur weithin sichtbaren Kirche von Herschwiesen, die Luftlinie beträgt jedoch nicht einmal ein Drittel der Strecke. Wir schauen uns verdutzt an: Wollen wir uns wirklich von den Wegmarkierungen kreuz und quer schicken lassen? Der Sinn des Umwegs erschließt sich schon nach wenigen hundert Metern: Der breite Feldweg verwandelt sich in ein behagliches Weglein, an dessen Ende eine kleine Felsrippe überklettert werden muss – sofort sind die Sinne gefesselt und die Zweifel vergessen. Im lichten Niederwald folgen wir einer Pfadspur, die wir ohne die blau-grünen Wegzeichen kaum gefunden hätten.
Kurz darauf ein begnadeter Aussichtspunkt: Der Blick schweift über ein tief eingeschnittenes Tälergeflecht mit bewaldeten Steilhängen – keine Spur von Zivilisation, weder Windrad noch Straße noch Siedlung. Nun geht es in ein wahres Labyrinth kleiner Bäche hinunter. Überall Moose, Farne und vermodernde Baumstämme, auf denen sich die bizarrsten Pilzkolonien breit gemacht haben. Dazu eine Stille, die man gar nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Wer im Glauben war, dass man intakte Naturräume allenfalls noch in den Alpen findet, sieht sich hier eines Besseren belehrt. Ist vielleicht sogar das Gegenteil der Fall? Muss man, um den Zugriffen der Forstwirtschaft, des Straßenbaus und der Freizeitindustrie zu entkommen, heute in die Terra Incognita von Rheinland-Pfalz reisen?
Nach der Mittagspause folgt der nächste Paukenschlag: An der Schwedenschanze windet sich der Weg in die Schlucht des Ehrbachs hinunter. Wir umkreisen die Burg Schöneck, die schwedische Truppen anno 1632 vergeblich belagert hatten. Zuletzt geht es auf steilen Schiefer- platten in die Ehrbachklamm hinein – eine wilde Passage, in der wir stundenlang mit dem Wasserlauf allein sind und mehrfach über verwitterte Holzbrücken die Talseite wechseln. Wo man an steil aufragenden Felswänden vorbei muss, wurden sogar Halteseile montiert, die für Ungeübte ungewohnt sein mögen. Beim SHS handelt es sich um einen „Premiumweg“ des deutschen Wanderinstituts. Rainer Brämer, dessen hin und wieder als „Deutscher Wanderpapst“ belächelter Gründer, hat mit seinem Qualitätssiegel ganz neue Maßstäbe im Wandertourismus gesetzt. Statt sich an der Anspruchslosigkeit von Spaziergängen zu orientieren, rückte er erlebnispsychologische Faktoren wie Abwechslungsreichtum und Naturnähe ins Zentrum seines Kriterienkatalogs. Im Zweifelsfall wird immer der spannendere, der schmale, erdige, gewundene und damit auch mühseligere Weg gewählt. Gibt es etwa eine Pfadspur am Ufer eines Wildbachs, bleibt der leicht begehbare Forstweg weiter oben unerwähnt, auch wenn man unten die doppelte Zeit braucht. Auf nur gelegentlich wandernde Menschen sind Brämers Premiumwege wirklich nicht zugeschnitten. Denn in seinem Bewertungskonzept spielt Kraftersparnis gar keine Rolle. Wer sich beim Wandern möglichst nicht anstrengen will, mag sich darüber ärgern. Umso attraktiver sind die Premiumwege für diejenigen, die auch vor größeren Höhenunterschieden nicht zurückschrecken – für passionierte Alpenwandernde also. Die haben einen gewissen Erfahrungsvorsprung und verstehen schnell, dass es sich bei der ambitionierten Wegführung um ein Ideal handelt, das man mit den Realitäten des Tages in Einklang bringen muss. Wer keine Lust oder Kraft mehr hat, wird also auf die Karte schauen und die eine oder andere Schleife abkürzen.
Statt sich bevormundet zu fühlen, sollte man dankbar sein für die Kompromisslosigkeit, mit der Brämers Team die letzten Wege nach menschlichem Maß miteinander verbunden hat. Angebote, die mit ihrem Format eher auf Forstfahrzeuge und landwirtschaftliche Maschinen zugeschnitten sind, gibt es ja schon genug. Dass solch ursprüngliche Wegführungen nur eine kleine Gruppe Interessierter ansprechen könnten, ist nicht zu befürchten. Je bequemer und artifizieller unsere Alltagswelten werden, desto mehr dürfte das Verlangen anwachsen, wenigstens in der Freizeit der Natur so nah wie möglich zu kommen, auch der eigenen. Ein kluger Schachzug also, dass der rheinland-pfälzische Tourismus Nägel mit Köpfen machte und sich neben dem Leuchtturmangebot des Saar-Hunsrück- Steigs noch 111 sogenannte „Traumschleifen“ konzipieren ließ – Tagestouren, die höchste Ansprüche an die Wegeführung stellen. Man bekommt hier eine Qualitätsgarantie, die vielerorts auch im Alpenraum wünschenswert wäre. Dort glauben einige Kurdirektionen wohl noch, dass die Wandersleute sowieso kommen und schon zufrieden sein werden mit dem, was ihnen bleibt, wenn die Gebirgslandschaft nach und nach umgebaut wird zu Skischaukeln und Mountainbike-Arenen.
Könnte sich diese Haltung bald einmal zu rächen beginnen? Werden Bergwandernde den Alpen künftig vielleicht auch deshalb fernbleiben, weil die Mittelgebirge nicht nur aufgeholt, sondern die professionelleren Angebote haben – wie etwa den Saar-Hunsrück-Steig? Aus der Präferenz für anspruchsvolle Wegeformate folgt nicht, dass der Genuss zwischen Saar, Mosel und Rhein zu kurz käme. An den schönsten Aussichtspunkten stehen gemütliche Liegebänke, deren Charme man nur schwer widerstehen kann. Auch deshalb darf man nicht zu lange Tagesetappen wählen! Wer sich hier mal nur kurz ausruhen will, sitzt oftmals eine halbe Stunde und länger da, futtert seinen Proviant, macht Wolkenmeditationen oder schaut einfach nur in die stille Landschaft. Statt die Füße tragen einen dann die Gedanken fort – in eine Welt, in der es weder Zeitdruck noch Massenbetrieb und Motorenlärm gibt.
Im wildromantischen Wadrill-Tal müssen wir uns entscheiden: entweder über den schon etwas angegammelten Kellersteg auf die andere Bachseite und in zwei Wandertagen nach Trier, der ältesten Stadt Deutschlands. Oder auf der Hauptroute bleiben und den Steig in weiteren zehn Etappen zu Ende laufen. Wenn wir ersteres tun, sehen wir die weltberühmte Porta Nigra und viele andere Relikte aus der Römerzeit, verpassen aber das Postkartenmotiv der Saarschleife. Die Entscheidung fällt für das Augusta Treverorum der Römer, das im 4. Jahrhundert 70.000 Einwohner hatte und damit zu den fünf größten Städten der damals bekannten Welt gehörte. Warum die Abkürzung der Tour? Zum einen, weil es so verlockend ist, sich einer derart geschichtsträchtigen Stadt zu Fuß zu nähern, zum anderen, weil nicht zu erwarten ist, dass wir für die zwei Etappen nach Trier noch mal den weiten Weg in den Westen der Republik auf uns nehmen werden. Den verbleibenden Streckenteil nach Perl werden wir uns aber ganz sicher nicht entgehen lassen. So bekommen wir in den letzten beiden Tagen ein großartiges Finale, während sich schon die Vorfreude auf den nächsten Sommer breitmacht – auf eine weitere schöne Wanderwoche auf dem Saar-Hunsrück-Steig, der den Titel „schönster Wanderweg Deutschlands“ nicht umsonst erhalten hat.