„Franken ist wie ein Zauberschrank; immer neue Schubfächer tun sich auf und zeigen bunte, glänzende Kleinodien, und das hat kein Ende. Wer Deutschlands geheimste, jungfräuliche Reize genießen will, muss nach Franken reisen“, schrieb der Lyriker und Dramatiker Karl Immermann 1837 in einem Brief aus dem fränkischen Muggendorf. 183 Jahre später mache ich mich auf, diesen Zauberschrank zu öffnen. Der Fränkische Gebirgsweg soll mich zu besagten Kleinodien bringen. Obwohl Start und Ziel der Fernwanderung nur 101 Kilometer Luftlinie auseinanderliegen, sind es zu Fuß 435 Kilometer – verteilt auf 21 Etappen – von Blankenstein an der thüringisch-oberfränkischen Grenze bis in die mittelfränkische Stadt Hersbruck. Die Nacht vor dem Aufbruch schlafe ich kaum. Die Welt wird gerade von einer Pandemie heimgesucht, das Leben in Deutschland ist heruntergefahren. In meinem Gepäck steckt zwar ein Schreiben des Verlags, dass ich für einen Wanderführer recherchiere. Ich weiß aber nicht, was die Menschen am Wegesrand davon halten und ob ich für Geschäftsreisende geöffnete Unterkünfte finde.
Zwischen Schiefer und Granit
Die ersten beiden Etappen führen über den südöstlichen Rand des Frankenwalds. Dessen höchste Erhebungen, darunter der 794 Meter hohe Döbraberg mit seiner markanten Radarstation, sind nur in der Ferne zu sehen, es geht durch tiefer liegendes, grünes Hügelland. In den Orten Issigau, Selbitz und Schauenstein dominiert noch heute der Schiefer – auch „blaues Gold“ genannt – als Wand- und Dachbedeckung. Bereits im Frankenwald zeigt sich, dass ich mich umsonst gesorgt habe. Die Menschen sind interessiert und freuen sich, dass ich ihre Region in einem Buch vorstelle. Auch in den Unterkünften gibt es keine Probleme, und da ich oft der einzige Gast bin, werde ich besonders liebevoll bewirtet. Mal wird meine Wäsche unentgeltlich gewaschen, mal gibt es köstliche Pflanzenkost, mal bekomme ich wertvolle Tipps. Über die Hochebene Münchberger Gneismasse gelangt man ins überwiegend aus Granit bestehende Fichtelgebirge. Es erstreckt sich in Form eines großen, nach Nordosten offenen Hufeisens zwischen Hof im Norden, Bayreuth im Westen und Waldsassen im Osten. Zunächst steht das nördliche Fichtelgebirge auf dem Wanderprogramm, hier reiht sich ein landschaftlicher Höhepunkt an den nächsten. Der Fränkische Gebirgsweg passiert die Saalequelle und erreicht den 877 Meter hohen Großen Waldstein. Über eine Treppenanlage gelangt man zur so genannten Schüssel, einer Vertiefung auf seinen höchsten Felsen, mit einem unvergesslichen Rundblick. Am Fuß des Waldsteins steht der Bärenfang; in das spätmittelalterliche Steingebäude wurden Bären gelockt. Ein Mechanismus löste durch das Ziehen am Köder die Falltüren, die Tiere wurden dann bei Hetzjagden getötet oder auf Jahrmärkten zur Schau gestellt. Nach weiteren aussichtsreichen Granitfelsen – allen voran Epprechtstein, Ruine Hirschstein und Großer Kornberg – geht es durch das idyllische Egertal bis nach Arzberg.
Alexander von Humboldt war hier von 1792 bis 1796 als Oberbergmeister beschäftigt und gründete eine Berg(bau)schule. Die stillgelegte Zeche Kleiner Johannes und der historische Eisenhammer sind Zeugen des einst bedeutenden Wirtschaftszweigs. Nach der Entdeckung der Kaolinvorkommen Anfang des 19. Jahrhunderts brachte die Porzellanherstellung weiteren Aufschwung. Als in den 1990er Jahren die Konkurrenz aus Asien übermächtig wurde, verschwanden die Porzellanmanufakturen. Seitdem lassen Abwanderung und Geburtenschwund Arzberg so stark schrumpfen wie keine andere bayerische Stadt.
Im Land der tausend Teiche
Am sechsten Tag verlässt der Fränkische Gebirgsweg überraschend Franken und führt auf angenehmen Pfaden durch den Nordosten der Oberpfalz. Diese Region wird Stiftland und Land der tausend Teiche genannt. Vier der beeindruckendsten Barockbauwerke Bayerns liegen direkt an der Route: die Wallfahrtskirche Kappl, die Basilika und die Stiftsbibliothek in Waldsassen sowie die Wallfahrtskirche Maria Hilf in Fuchsmühl. Nach der barocken Pracht darf man sich wieder auf prächtige An- und Abstiege freuen. Waldreich geht es auf die Platte, die mit 946 Metern höchste Erhebung im Steinwald. Für die Aussicht ins Stiftland, ins Fichtelgebirge und das Egerland, an klaren Tagen auch bis zum Erzgebirge, zum Oberpfälzer Wald und zum Bayerischen Wald, gilt es noch die 150 Stufen des Oberpfalzturms zu bewältigen. Der Name Steinwald leitet sich nicht direkt von den zahlreichen Felsformationen ab, sondern von der Burg Weißenstein. Deren spektakulär auf einem Felsen stehende Ruine liegt ebenfalls an der Route. Am neunten Tag wird der Fränkische Gebirgsweg seinem Namen wieder gerecht und ist zurück in Franken. Drei weitere Etappen wandert man durchs Fichtelgebirge. Berge, Felsbastionen, Granitblöcke, Nadelwälder, Flüsse und Bäche prägen dessen südlichen Teil.
Die Route führt auf die Kösseine, den Burgsteinfelsen, den Plattengipfel und auf die drei höchsten Berge Frankens: den 972 Meter hohen Nußhardt, den 1024 Meter hohen Ochsenkopf und den 1051 Meter hohen Schneeberg. Sie haben alle ihren eigenen Charme und belohnen die Mühen des Aufstiegs mit schönen Panoramen. Auch ein Besuch des Luisenburg-Felsenlabyrinths ist zu empfehlen. Es gilt als das größte Granitsteinmeer Europas. Schon Goethe fertigte Skizzen von den Felsen an und notierte fasziniert: „Die ungeheure Größe der, ohne Spur von Ordnung und Richtung, über einander gestürzten Granitmassen gibt einen Anblick, dessen Gleichen mir auf allen Wanderungen niemals wieder vorgekommen […]“ Auf dem viel besuchten Ochsenkopf gibt es ein stilles, allenfalls plätscherndes Phänomen zu beobachten: An der Europäischen Hauptwasserscheide wird das Wasser zweier Quellen, die keinen Kilometer voneinander entfernt sind, oder auch zweier Regentropfen, die nur Zentimeter auseinander auf den Boden fallen, in Tausende Kilometer voneinander entfernte Meere fließen. Die Quelle der Fichtelnaab entwässert über die Flüsse Fichtelnaab, Waldnaab, Naab und Donau ins Schwarze Meer. Die Weißmainquelle entwässert über die Flüsse Weißer Main, Main und Rhein in die Nordsee und den Atlantik.
Felsen, Höhlen und große Wälder
Das Obermainische Hügelland bildet den Übergang vom Fichtelgebirge in die Fränkische Schweiz. Ohne größere Steigungen geht es in die berühmte Festspielstadt Bayreuth. Sie ist mit rund 72.000 Einwohner*innen die größte Stadt am Fränkischen Gebirgsweg und hat so viel zu bieten, dass man hier problemlos einen Ruhetag verbringen kann, ohne viel Zeit zum Ruhen zu finden. Wer das Zentrum lieber links (oder besser gesagt rechts) liegen lässt, muss trotzdem nicht aufs Lustwandeln verzichten. Die barocke Parkanlage Eremitage liegt direkt an der Strecke.
Der darauffolgende Tag ist vom Roten Main geprägt. Der Fluss hat seinen Namen vom moorigen Untergrund und dem mitgeführten Sediment, die ihn rötlich erscheinen lassen. Mit der mittelalterlich geprägten Stadt Creußen ist bereits der nordöstliche Rand der Fränkischen Schweiz erreicht. Auf den nächsten sieben Etappen lernt man all das kennen, was diese Region so attraktiv und vielfältig macht: Kalk- und Dolomitfelsen, die am Rand malerischer Flusstäler in die Höhe ragen. Höhlen, von denen die Sophienhöhle zu den schönsten Tropfsteinhöhlen Deutschlands zählt. Große Buchenwälder und kleinteilige Acker- und Wiesenflächen. Sehenswerte Orte wie Hollfeld, Waischenfeld und Betzenstein.
Burgen und Ruinen wie das Schloss Unteraufseß, die Burg Rabenstein und die Burgruine Hollenberg. „[…] es ist eine Gegend, die zu tausend Schwärmereien einladet, etwas düster melancholisch und dabei doch so überaus freundlich; O, die Natur ist doch an Schönheit unerschöpflich“, schwärmte der Dichter Ludwig Tieck vor über 200 Jahren. Zum Glück kann ich diese Schönheit mit Freunden teilen, die mich jeweils ein bis zwei Tage begleiten. Mittlerweile hat die Pandemie an Wucht verloren und Hotels und Biergärten dürfen wieder öffnen. In der Fränkischen Schweiz gibt es rund 70 meist kleine Brauereien – so viele wie nirgends sonst auf der Welt. Aufseß hat es sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft, auf die 1300-Seelen-Gemeinde kommen vier Brauereien. Sie liegen alle an der Route und laden zu einer Einkehr ein.
Die letzte Etappe führt durch die vom Tourismus weitgehend unentdeckte Hersbrucker Schweiz. Zunächst geht es durch offenes Gelände zur Felsenburg in Hohenstein. Danach spaziert man über Streuobstwiesen und durch Laubwälder nach Hersbruck oder Herrschbrugg, wie die Cittàslow-Stadt auf Fränkisch heißt. Die Cittàslow-Initiative wurde von der Slow-Food-Bewegung inspiriert, Ziele sind eine Verbesserung der Lebensqualität, Nachhaltigkeit und das Fördern regionaler Traditionen. Man merkt Hersbruck diese Philosophie an. Die Stadt wirkt auf sympathische Art entschleunigt. Wenn das kein passendes Finale für den Fränkischen Gebirgsweg ist!