Plötzlich ist es ganz still. Die Köpfe hängen im Nacken, weil „Yeti“ in den Himmel zeigt. Ein imposanter Bartgeier kreist elegant durch die Lüfte, als sei er leicht wie eine Feder. „An die sieben Kilo können diese Vögel auf die Waage bringen“, tönt es im Hintergrund, „und die Spannweite der Flügel beträgt nicht selten zweieinhalb Meter.“ „Yeti“ weiß, wovon er redet, er half beim Tragen im Wiederansiedlungsprogramm, ihm wurde auch die Überwachung der Bartgeier aufgetragen. Christophe Gotti, wie „Yeti“ eigentlich heißt, arbeitet seit über 30 Jahren als Parkranger für den Vanoise-Nationalpark. Zugleich ist er Bergführer, Langlauflehrer, Wettkämpfer beim Skibergsteigen und Autor von Wander- und Skiführern. Der Ranger sprüht vor Energie und hat Pranken wie – vielleicht ein Yeti. Das Schöne an Bartgeiern, sagt er, sei ihre Neugier und dass sie gerne auch mal ganz nahe kämen. So wie jetzt. Das Wanderpublikum, das sich auf der Terrasse des Refuge du Col du Palet zusammengefunden hat, ist begeistert. Und Gotti ist mit seinen Ausführungen noch lange nicht zu Ende, zeigt geduldig seine Fotos, die er von all den Tieren hier geschossen hat. Königsadler fräßen gerne Murmeltiere, und der Wolf sei wieder zurückgekehrt, ein Rudel lebe im Nachbartal, im Vallon de Rosuel.
Überwältigende Tierfülle im ältesten Nationalpark Frankreichs
Will man die Lage des Vanoise-Massivs erklären, kann man gleich im Tierreich bleiben. La poule – in Frankreich lernt jedes Schulkind, wie leicht die Gebirgsgruppe auf der Landkarte im Gewirr der französischen Bergketten zu entdecken ist. Denn das durch die Täler der Isère (Tarentaise genannt) und Arc (Maurienne genannt) umschlossene Gebiet nur wenig südwestlich des Mont Blanc hat unverkennbar die Form eines Huhns und sticht sofort ins Auge. Im Hinterteil der Henne befindet sich der Vanoise-Nationalpark. Der älteste Nationalpark Frankreichs, 1963 gegründet, um das Aussterben des Steinwilds zu verhindern, zeigt sich mittlerweile in überwältigender Tierfülle. Damals kraxelten nur noch vierzig Steinböcke durch das Hochgebirge, heute sind es rund zweitausend Exemplare, so Gotti. Ähnlich hoch ist die Zahl der Gämsen. Völlig isoliert im Nordosten des Nationalparks liegt das Refuge du Col du Palet. Es ist eine von 16 Hütten, die dem Nationalpark gehören. Insgesamt aber verteilen sich 54 Stützpunkte auf 530 km². „Das ist einzigartig“, sagt Gotti. „Kein anderes Gebiet in den Alpen hat so viele Hütten auf relativ kleinem Raum.“ Diese Hüttendichte macht hier das Wandern besonders leicht. Allein an der Tour de la Vallaisonnay befinden sich neun Refuges, darunter auch das am Col du Palet. Eine Vorzeigehütte, was die Energiebilanz betrifft.
Seit 2015 wird sie zu 100 Prozent energieautark betrieben. Mit dem Protoyp einer Kombination aus Fotovoltaik, Wasserstoffproduktion und Brennstoffzelle versucht man neue Wege zu gehen. Zuvor hätte es immer wieder Probleme mit der Energieversorgung dieses abgelegenen Stützpunkts gegeben, erklärt Gotti, weil die von den Solarmodulen erzeugte elektrische Energie nicht länger als drei Tage gespeichert werden konnte. Es reichte nicht für den Betrieb der Trinkwasserhebepumpe, deshalb musste man einen Diesel-Generator einsetzen. Um die Speicherung der Sonnenenergie zu optimieren und so auch den Generator zu erübrigen, entwickelte der Park den innovativen Prototyp: Überschüssige Solarenergie erzeugt Wasserstoff durch Elektrolyse von Wasser, die Brennstoffzelle wandelt bei Bedarf den Wasserstoff wieder zu Strom. Eine geniale, saubere Energietechnologie ganz ohne Treibhausgase. Begeistert sind wir auch von der netten Hüttenwirtin, die mit viel Herzlichkeit und Engagement den Betrieb führt. Bérengère Vallat wollte vor einigen Jahren als Architekturstudentin mit dem Ferienjob eigentlich nur etwas Geld verdienen. Es gefiel der 28-Jährigen so gut, dass sie ihr Studium erst mal auf Halde legte, um die Zeit nun in den Bergen zu genießen. Bei ihr sieht es nicht nach Arbeit aus, sie strahlt über beide Ohren, wenn sie ihr leckeres Brot bäckt oder deftigen Eintopf kocht.
Bilderbuchlandschaften und Retortensiedlungen
Dieter und ich wollen die schönsten Runden herausfinden, und die Tour de la Vallaisonnay gehört definitiv dazu. Wir gestalten sie zu einer Zweitagestour, die im Hochtal von Champagny beginnt und endet. Ein Bilderbuch-Hochtal, wo sich in üppigen Blumenwiesen archaische Weiler betten und überm Kopf die Gletscher glitzern. Nicht selbstverständlich, denn ein Tal weiter stechen Retortensiedlungen ins Auge. Eine Kunstwelt aus Beton und Hässlichkeit, die im Sommer tot erscheint, im Winter aber zum Skizirkus erblüht. Gigantische Wintersportzentren wie Les Trois Vallées, Les Arcs und Val d’Isère konfrontieren. Sie zeigen aber auch, wie wichtig es ist, Landschaften zu schützen. Der Vanoise-Nationalpark ist so geblieben wie bei unserem ersten Besuch vor über 20 Jahren: unverbaut und traumhaft schön. Unzählige Seen, weite Hochplateaus und wilde Gebirgskessel, so genannte Cirques, prägen seine Landschaft. Unser Favorit bezogen auf Letzteres: die Tour des Cirques de Pralognan.
Pralognan im Herzen des Nationalparks strahlt noch immer den Charme eines Bergsteigerdorfs aus. Von hier starteten der britische Alpenpionier William Mathews und seine Führer Michel Croz und Etienne Favre im Jahre 1860, um die Grande Casse, den höchsten Gipfel der Vanoise, als Erste zu besteigen. Die Königin der Vanoise, unverkennbar ihre Form und doch von allen Seiten anders, wandelbar wie eine Diva. Schon von der Tour de la Vallaisonnay konnten wir sie bewundern. Von Pralognan aus zeigt sie ihre markanteste Seite. Wie ein Rüssel zieht sich ein Gletscher vom eingeschnittenen (cassé = gebrochen) Haupt der Grande Casse herab.
Über diese Seite führt auch der Weg der Erstbesteiger und heutige Normalweg. Eine strenge Route, die, je mehr der Gletscher schmilzt, umso heikler wird, hatte uns Gotti gewarnt. Seit geraumer Zeit herrschen meist nur noch im Juni gute Bedingungen. Damals mussten Mathews, Croz und Favre 1100 Stufen schlagen, um den 45 Grad steilen Eishang zu bewältigen. Mathews gehört zu den fünf Briten, die im August 1857 auf dem Gipfel des Finsteraarhorns beschlossen, den ersten alpinen Club der Welt zu gründen, was denn auch vier Monate später offiziell in London geschah. Viele kämen zigmal umsonst, bevor die Grande Casse sie gewähren lasse, sagt Gotti. Aber was heißt hier umsonst. Allein ihr Anblick bleibt eine Augenweide – Blickfang auf dem Weg zwischen Pralognan und dem Col de la Vanoise. Unterwegs biegen wir ab, um durch den Cirque de l'Arcelin zum Cirque du Grand Marchet aufzusteigen. Wasserfälle stieben von lotrechten Wänden. Sie bilden reißende Gebirgsbäche, die im Grund der Felsenkessel sanft und friedlich durch Moorbiotope mäandern.
Überirdische Lichtspektakel
Unterm Pic de la Vieille Femme wartet das Refuge de la Valette auf uns. Vier schmucke Holzhütten im Stil von Finnenhäusern, die seit dem Sommer 2019 von Julie und Baptiste bewirtschaftet werden. Das junge Paar – er Ingenieur, sie Tierärztin – zieht ein Leben in der Natur vor und will etwas bewirken. Es stellte die Hüttenkost auf Bio um und möchte jetzt auch andere Hütten dafür gewinnen, sich überwiegend mit lokalen Produkten beliefern zu lassen. Julie serviert uns zur Begrüßung einen köstlichen Kuchen aus wildem Rhabarber. „Der wächst direkt vorm Haus, ist milder und weniger pelzig“, sagt sie und zeigt aufs nahe Gestrüpp. Überhaupt sammle sie seit Coronazeiten mehr Kräuter, um nicht so oft einkaufen gehen zu müssen, schmunzelt Julie. Viel Zeit verbringen die beiden in der Küche. Applaus nach dem Abendessen ist die Antwort der Gäste. Ein überirdisches Lichtspektakel lockt plötzlich alle nach draußen. Die Grande Casse glüht, dann die ganze Felsbarriere hinter der Hütte und im Süden die Aiguille de Polset.
Ihr vergletschertes Antlitz begleitet uns anderntags auf dem Höhenweg zum Cirque du Génépy. Gletscher anschauen, solange es sie noch gibt. Auch im Vanoise-Massiv lässt die Klimaerwärmung das Eisvolumen stark zurückgehen. Der vom Dôme de l'Arpont herabfließende Glacier du Génépy zeigt sich im Hochsommer nur noch in Flecken, aus denen Bäche und Wasserfälle herausfließen. Als würde er weinen … Die Szenerie wirkt nach wie vor sehr imposant. Einen Kontrast setzt die liebliche Almlandschaft eines breiten Hochtals mit der Alp Ritort, besprenkelt von Tarentaise-Kühen, mit deren Milch der berühmte Beaufortkäse gleich vor Ort hergestellt wird. Als Käsefans lassen wir uns das nicht entgehen. Zweimal am Tag, vormittags und abends gegen halb sechs Uhr, kann man durch Glasfenster die Produktion beobachten. Degustieren und ein ordentliches Stück Käse einkaufen liegt auf der Hand. „Bon appétit“ wünscht uns der Käser.
19-jährig tingelte Gaël als Backpacker durch die Welt. Er jobbte auf der Alp und blieb hängen. Das war 1998. Gaël Machet ist muskelbepackt, denn die Arbeit ist hart. Die Käselaiber wiegen um die 40 Kilo, regelmäßig müssen sie in der Schatzkammer gewendet werden, zwischen 350 und 400 Stück pro Saison. Der Beaufort, gehuldigt als „Prinz der Greyerzer“, gibt vielen lokalen Gerichten einen besonderen Goût. Den Crozets (Teigwaren) zum Beispiel. Im Restaurant „Bergerie“ in Les Prioux, das an unserer Runde liegt, werden sie ganz savoyardisch mit Diots serviert, Würsten, in denen neben Fleisch auch Grünzeug wie Lauch und Spinat verarbeitet ist. Zur Bergerie gehört das Refuge Repoju, beide urig, man fühlt sich fast wie zu Pionierszeiten. „Repoju heißen im Patois, dem lokalen Dialekt, die Ruhebänke“, erzählt uns Patron Nicolas, „dazumal, als die Säumer auf dem Rücken Salz und Käse über die Pässe transportierten“, hinüber in die Maurienne und weiter in den Süden.
Qual der Wahl
Heute folgen diesen historischen Handelsrouten große Weitwanderwege wie der GR 5 und der GR 55. Vom einen kann man auf den anderen abbiegen und das Herz des Nationalparks, die Vanoisegletscher, umrunden. Dabei lernt man auch das Hochplateau von Termignon kennen. Eine abgefahrene Landschaft, aus deren Wiesenprärie die Gletscherberge wachsen und sich in einem Dutzend Seen spiegeln. Mehrere Hütten gibt es – Qual der Wahl. Das Refuge du Lac Blanc beispielsweise könnte nicht schöner liegen. Mächtig spiegelt sich der Dent Parrachée in der Seeperle unterhalb der Hütte. Ebenso genial liegt das Refuge de Plan du Lac. La Grande Casse zeigt sich doppelt. Selbst dann, wenn nicht zu viel vom selbst gemachten Kräuterlikör, dem Génépy von Guilhem, genossen wurde.
Stolz ist der Hüttenwirt aber vor allem auch auf sein batteriebetriebenes Geländefahrzeug. Damit können auch behinderte Menschen hier coole Touren unternehmen. Zudem ist die Unterkunft barrierefrei ausgebaut und leicht von Termignon aus über ein Sträßchen erreichbar. Nur ein dreiviertelstündiger Fußmarsch trennt sie von der ältesten Unterkunft, dem Refuge d'Entre-Deux-Eaux, Herberge seit 1908 an der Route du Sel et Fromage. Von dort starten wir eines Morgens zu den Lacs des Lozières hinauf. Es folgt ein grandioser Höhenweg zum Refuge de l'Arpont. Kurzweilig wegen des ständig wechselnden Panoramas, aber auch wegen der Steinböcke, die kokettieren, als wären sie beim Fotoshooting auf dem Laufsteg. Selbst die Murmeltiere kommen so nah, als hätten sie nichts zu befürchten. Vertrauen, das wir erst wieder lernen müssen.