Mädchen klettert an einer Felswand, lächelt und zeigt mit den Hände ein Peace-zeichen
Endlich konnte die inklusive Klettergruppe "neue Wege" an einem richtigen Felsen klettern. Foto: Jonny Heukeshoven
Inklusives Klettern

Ran an die Wand und: Houston, wir haben kein Problem

Ein Kletterausflug der inklusiven Klettergruppe "neue Wege" (DAV Sektion Hamburg) mit Höhen und Tiefen. 21 verschiedene Welten in 21 Köpfen.

Die Kletterausfahrt der inklusiven Gruppe geht in die zweite Runde!

Ich schreibe von der Rückbank des DAV-Bullis. Wir sind auf dem Heimweg von der Jugendbegegnungsstätte oder auch "Naturfreundehaus Lauenstein".

Es ist ziemlich still gerade. Ich glaube, alle verdauen noch die vielen Eindrücke vom Wochenende. Oder sind einfach traurig, weil wir heute aus Sicherheitsgründen nicht mehr klettern konnten. Vor zwei Stunden haben wir noch einzelne von uns auf einem Seil balancieren lassen, dass wir mit unseren Händen kreisrund aufgespannt haben. Ein gemeinsamer Kraftakt, der sehr schön veranschaulichte, wie die gemeinsame Stimmung die Gruppe durch die zweieinhalb Tage getragen hat. Und niemand ist runtergefallen!

Ob es Höhen und Tiefen gab?

Die verregnete Nacht konnte die Leute auf dem Zeltplatz jedenfalls nicht entmutigen. 

"Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe"

- der Ausspruch von Franz Kafka kommt mir häufig in den Sinn. Wenn ich bedenke, dass wir dieses Wochenende mit 21 unterschiedlichen Welten in 21 Köpfen einen gemeinsamen Ausflug gemacht haben, wird mir ganz schwindelig. Eigentlich ist es bei uns nicht wichtig, was wir im Kopfe haben. Wir müssen uns nicht gegenseitig beweisen, dass wir uns besonders gut auskennen mit Behinderungen oder so. Unsere Klettergruppe ist inklusiv; sie schließt auch Menschen ein, die ihre Einschränkung vielleicht (noch) gar nicht artikulieren können. Die sich aber nicht scheuen, an die Decke der Möglichkeiten zu stoßen um zu sagen: an diesem Punkt benötige ich Hilfe, und wie die aussehen kann, müssen wir noch herausfinden. Es ist eben genau diese Welt, die jeder Mensch mit sich trägt, die es gilt, nicht zu beurteilen.

Alle reisen also mit ihrem ganz eigenen Päckchen.

Die Wand geschafft und die Freiheit des Kletterns erlebt. Foto: Jonny Heukeshoven

Schwindelfreiheit ist eine große Freiheit, wenn es ans Klettern geht.

Den Taumel der Vorbereitungen hat das wunderbare Trainerteam sehr verlässlich bezwungen. Da es bereits letztes Jahr im Sommer eine Ausfahrt mit noch größerer Truppe gegeben hat, waren viele von uns im Geiste bereits den Unwägbarkeiten gewappnet, die so eine Reise mit sich bringt. Nicht alles konnte von vornherein felsenfest durchgeplant werden.

Dieses Jahr drehte sich alles um die Dienstagsgruppe mit dem vielversprechenden Namen "neue Wege". Diese wird zusammengehalten von Kerstin und Chris und neuerdings bereichert von "Krise" Christine. Kerstin hat diese Gruppe mit so einem fabelhaft stärkenden Drive gegründet, der immer zu spüren ist. Warum es Ehrenamtliche gibt, die kletterbegeistert und großherzig bereit sind, kreativ zu werden, wenn es hakt, könnt ihr in einer Ausgabe des Hamburg alpin lesen, in dem Chris als Trainer zu Wort kommt.

Diese Bereitschaft ist Gold wert, wenn jede teilnehmende Person ihre ganz eigenen Einschränkungen, Schwierigkeiten und Support Needs mit sich bringt. 

Ich war letztes Jahr leider nicht dabei, aber es wurde oft gesprochen vom "Zirkus". Na gut, dachte ich, so kann man unsere Kletterperformance auch nennen. Aber gemeint war: eine der gewarteten und gesicherten Kletterstation innerhalb des Ith, einem Kalkstein-Gebirgszug der sich durch das Weserbergland schlängelt.

Wie die Routen im DAV Zentrum, in dem wir uns jeden Dienstagnachmittag treffen, werden also auch die Kletterstationen farbenfroh benannt.

Das Wetter hielt uns also gut auf Trab. Durch die Ortskenntnisse des Trainerteams waren wir aber perfekt aufgestellt an einem Felsabschnitt bei der Lippoldshöhle mit schützendem Blätterdach. Viele von Euch kennen bestimmt das einmalige Erlebnis, den "echten" Fels zu ertasten, zu riechen, und seine massive Schwere auf sich wirken zu lassen. 

Endlich das erste Mal den Felsen spüren. Foto: Jonny Heukeshoven

Seit Wochen lag eine Spannung in der Luft, da eine Wolkenfront auf dem Radar lauerte. Dieses Kribbeln entlud sich, als die Gruppe zu Fuß die steilen Zuwege zum Fels hoch drängte. Es war wie ein vibrierender Sog; aufgeladen mit Tatendrang. Ich wurde richtig mitgerissen und musste öfters innehalten um zu registrieren, wo ich bin und was meine Füße gerade tun.

Also los, an dem schroffen Felsen kratzen, die modrigen Spalten umklettern, um dann plötzlich auf den offenen Blick ins Weite zu stoßen. Mit der ganzen eigenen Welt an einem dünnen Seil zu schweben.

Die paar Regentropfen konnten wir erfolgreich ignorieren. Wir hatten uns entlang der weitläufigen Felswand ein wenig aufgeteilt, sodass es mehrere Stationen gab, an der wir uns in wechselnden Seilschaften ausprobieren konnten. 

Ich weiß nicht, was mit der "ungeheuren Welt" passiert, wenn sie uns für Sekunden wie mickrige Spinnchen an einer ebenso winzigen Bergstufe rumkraxeln sieht. Umgeben von Sprühnebel und Bäumchen, die lachhafte hundert Jahre alt sind. Mit einem Picknick, was nicht Mal ein Zahnloch der Welt füllen könnte. Sie lacht herzlich darüber, dass wir überlegen, wo wir hinpinkeln sollen, wie wir einen Rollstuhl nach oben bekommen, dass ein Outdoor-Taststock für die Sehbehinderung mit muss, dass es neue Kommandos zwischen Gebärdensprache und Partnern mit Erblindung geben muss. Ich glaube die Welt sieht das sportlich, im sanftesten Sinne, und reicht uns die Hand.

 

Auch ein blinder Fotograf gehört zur Gruppe "neue Wege". Foto: Jonny Heukeshoven

Und warum muss das alles überhaupt sein? Warum muss jemand in die Natur, wenn ihm der Wald zu laut ist? Warum Klettern, wenn man so panische Angst vor der Höhe und dem Fallen hat? Warum ein Fotograf, der blind ist? Warum kommt eine Schwangere mit, die gar nicht klettern darf? Warum jemand, der sich noch von einer Chemo erholen muss? Warum die Begleitpersonen, Assistenzhunde, Ohrstöpsel, die Hilfsmittel, die beanspruchte Zuwendung, der Zuspruch, der ganze Aufwand?

Diese Fragen sind natürlich nicht unberechtigt. Sie tauchen auf, in den unterschiedlichen Welten der vielen Köpfe. Manchmal ist es ganz nice, nicht alles erklären zu müssen.

 

WEIL WIR EINE GRUPPE SIND.

Los geht es zum Kletterwochenende nach Lauenstein. Foto: Jonny Heukeshoven

Für mich ist eines sehr nachhaltig in Erinnerung geblieben: es herrschte so ein Familiensinn. Kinder, Eltern, Partner*innen waren ein fester Teil der Gruppe und ganz selbstverständlich voll mit dabei. Dabei war es nicht wichtig, in kompletter Ausrüstung an der Kletterfront zu erscheinen und alles aus dem Felsen heraus zu holen. Es gab eine riesige Picknickdecke die wie eine Insel alle Gestrandeten einlud, ein bisschen Bodenkontakt zu pflegen, Karten zu spielen, Kekse zu knuspern und sicher anzukommen. Dass ich mit meinen überstimulierten Sinnen den Naturgewalten ausgesetzt kurz wegdösen konnte, ist dieser Insel zu verdanken.

Und es gab Situationen, die nicht nur mich beeindruckt haben.

Ich möchte niemanden zur Superheldin oder zum Superhelden stilisieren. Ich bin überzeugt davon, dass jede teilnehmende Person ihren wertvollen Beitrag geleistet hat.

Es hing also jemand ganz normal am Fels, aus eigener Kraft ging es nicht weiter. Die Muskeln wollten einfach nicht das tun, was ihr Besitzer in Auftrag gab. Das war ja bekannt, medizinisch erfasst, bisher nicht vollständig therapierbar. Aber wer lässt sich davon aufhalten? Linus bestimmt nicht. Und dann kam Chris vorbei geflogen, von oben, platzierte eine Schlinge um den frei baumelnden Fuß. Und wie ein kurz auftauchender Tritt auf der Himmelsleiter verschwand die Schlinge auch wieder. Nur eine minimale Intervention, und es konnte weiter gehen.

Wenn es mal nicht weiter geht, kommt direkt Hilfe. Foto: Jonny Heukeshoven

Oder beim holprigen Abstieg durch Laub, das rutschige Matschpassagen verdeckte, rollende Steine, verzweigte Wege: für alle keine gewöhnliche Alltagsaufgabe, die so nebenbei durchrutscht.

Wäre es ein Film gewesen, hätte sich die Kostümabteilung einen Ast gefreut. Chris und Linus bildeten rein farblich eine so passende Kombination, als wären sie wie Transformers zu einer Figur vernäht. Und das war auch nötig: der eine mit dem Willen, der andere mit Armen so stark wie Bäumen konnte das petrolblaue Team selbst die schwierigsten abfallenden Stellen bewältigen.

Beim Abstieg zur Wand wird zusammen geholfen. Foto: Jonny Heukeshoven

Und wieder war ich so froh, wie sehr wir uns aufeinander verlassen konnten.

Abschließend kann ich – und ich denke ich spreche für alle, die an diesem Wochenende dabei waren – sagen, es war eine sehr intensive, schöne und erfahrungsreiche Zeit im schönen Weserbergland.

Ich schließe mit einem bekannten Filmslogan:

„to be continued“

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