Bis unser Setup für den Videocall steht, zeigt der Bildschirm eine Weile nur seine untere Gesichtshälfte und damit sein zweites Markenzeichen neben der Flöte: den Bart. Über den wollte ich sowieso sprechen.
Ist der Vollbart nicht eigentlich ein Markenzeichen des archetypischen romantischen Abenteurers, den auch der Kamm des Friseurs und die Schere des Barbiers nicht zähmen können? Weil er sich eben den Konventionen nicht beugt? Es gibt in Deutschland so ein Lied, das man am Lagerfeuer singt: „Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein / Jan und Hein und Klaas und Pit / die haben Bärte / die fahren mit...“
Haha, das kenn ich, das gibt es bei uns auch! „Und alle die Frauen und Branntwein mögen / müssen Männer mit Bärten sein...“. Darüber hab ich noch nie nachgedacht, der Bart wächst ja einfach von selbst und auf Expedition ist es dir eh wurscht, wie du aussiehst... so gesehen ja, da ist was dran.
Dieses Ungezähmte steht ja auch für die Freude am Abenteuer. Extreme Bergsteiger wie du sind oft schmal, hager, asketisch, grüblerisch und irgendwie auf der Suche. Du dagegen bist ziemlich muskulös, lachst viel und wirkst, als wärst du nicht auf der Suche, sondern genau am Ziel. Du siehst auf Expeditionen einfach glücklich aus.
Ich mache das ja freiwillig, insofern erscheint es mir sinnvoll, wenn ich es dann auch genieße. Ich gehe freiwillig an diese wilden Orte und bringe mich in schwierige Situationen. Aber das ist ja alles auch ein großes Privileg, also sollte man es genießen.
Du hast mal geschrieben, du hast das Abenteuer nicht gesucht, sondern das Abenteuer dich.
Es sind so viele Aspekte, die ich am Klettern und an den Expeditionen mag. Diese großartigen, wilden Orte, die körperliche Herausforderung, die anderen Leute, die dabei sind. Aber meisten liebe ich eigentlich das Abenteuer, die Ungewissheit...
Wobei Abenteuer bedeutet, dass wir uns in eine Situation begeben, von der wir nicht ganz sicher wissen, wie sie ausgeht?
Auf jeden Fall! Zum Abenteuer gehört eine Prise Ungewissheit. Wenn alles nach Plan geht, ist es nicht wirklich ein Abenteuer. Und erst wenn es wirklich ein Abenteuer ist, lernst du auch etwas. Zum Beispiel, wieviel Energie wirklich in dir steckt – und das ist immer viel mehr, als wenn du dich noch in der Komfortzone bewegst. Und du lernst, die kleinen Dinge zu schätzen und zu lieben. Wenn du aus einer großen Wand zurückkommst und es gibt so viel Wasser, wie du willst und du kannst so viel trinken, wie du möchtest. Oder die erste warme Dusche! So etwas ist dann ein fantastischer Genuss, unter normalen Umständen würdest du das niemals so schätzen.
Der eigentliche Gipfel bei mehrtägigen Routen war für mich immer die erste Kneipe, wenn man wieder im Tal war.
Und genau das schätzt man dann immer und nicht nur, wenn man vom Berg kommt.
Einmal war es besonders seltsam, wir waren wir fünf Tage unterwegs an der Petit Dru im Montblanc-Gebiet. Und auf dem langen Abstieg ins Tal haben wir fantasiert, was wir alles kaufen, wenn wir unten sind. Und als wir im Supermarkt standen, waren wir völlig überfordert. Zwischen zehn Sorten Obst und zwanzig Sorten Keksen zu entscheiden, das war absolut unmöglich.
Das kenne ich. Besonders eindrucksvoll war es mal auf der Rückkehr von Grönland, wir waren zu fünft drei Monate lang auf einem Segelboot gewesen. Auf dem Rückweg sind wir zwei Wochen über den Atlantik gesegelt, da haben wir nicht mal andere Boote gesehen. In Schottland an Land, mit dem Zug nach London, dort mussten wir umsteigen und dann auf einmal: Diese Eile, diese vielen Leute und U-Bahnen und Züge und Autos! Warum zum Henker sind die alle so in Eile? Wenn du segelst, gibt es keine Eile: Der Wind entscheidet, wie schnell du unterwegs bist. Und wenn kein Wind weht, bewegst du dich halt gar nicht.
Wie bist du aufgewachsen?
In der Nähe von Brüssel. Meine Mutter und meine Geschwister haben Hockey gespielt, ich also auch, das war mein erster Sport. Dann haben ein paar Freunde von mir mit dem Klettern in der Halle angefangen. Bis dahin war ich mit denen viel draußen im Wald, wir sind auf Bäume geklettert und so, und diese Halle hat mich null interessiert. Aber irgendwann haben sie mich überredet und ich mochte die Herausforderung sofort, dieses Kämpfen um den Durchstieg. Und als ich dann das Klettern draußen entdeckte, war ich absolut begeistert – und bin es immer noch.
Dein Vater ist Spanier und deine Mutter Irin – wie kam es, dass sie in Belgien gelebt haben?
Mein Vater ist mit seinen Eltern nach Belgien, als er noch ein Kind war, mein Großvater hatte dort eine besser bezahlte Arbeit gefunden. Bei meiner Mutter war das genauso. Während ich nach Spanien irgendwie wenig Verbindung hatte und habe, ist die Verbindung nach Irland sehr intensiv, ich habe hier sehr viele Verwandte und feiere dort auch immer Weihnachten.
Deswegen klingt die Musik, die ihr spielt, immer ein bisschen wie „The Pogues“, also irisch...?
Absolut! Ich bin mit diesen irischen Liedern aufgewachsen, meine irische Verwandtschaft singt die ganze Zeit. Als ich diese Reisen mit Nico Favresse [ebenfalls ein belgischer Extremkletterer, Anmerkung der Redaktion] angefangen habe, hatte er immer seine kleine Mandoline dabei und ich dachte, das ist fantastisch, ich brauche auch ein Instrument. Und diese Flöte, also die „Tin Whistle“ war perfekt: schön klein und außerdem irisch.
Als du mit den größeren Kletter-Trips anfingst, hattest du Vorbilder?
Chris Sharma war ein Vorbild, er war genau so jung wie ich, kletterte die schwierigsten Routen der Welt und war so entspannt dabei, er nahm sich selbst einfach überhaupt nicht wichtig. Dann natürlich Kurt Albert und Wolfgang Güllich, die damals das Freiklettern auf Expeditionen übertrugen. Oder Bernd Arnold, der im Elbsandstein so viel gemacht hat und später die Huber-Brüder. Wie die am El Capitan losgelegt haben, das war schon sehr inspirierend. Und Nico hat mich ebenfalls stark beeinflusst. Er hat im Klettergarten immer wieder Routen probiert, die eigentlich deutlich zu scher waren. Manchmal hat es geklappt, manchmal nicht, aber das hat ihn überhaupt nicht weiter geschert, er war und ist da absolut unbekümmert. Und das mit der Musik habe ich von ihm übernommen. Musik bringt dich wirklich zurück in den Moment. Wenn du auf Expedition bist, dann spürst du schon oft eine gewisse Last: Es ist gefährlich, es ist schwierig, du weißt nicht, ob du das schaffst und so... und wenn du dann einfach Musik machst, entspannt sich alles und du kommst in eine kreative und optimistische Stimmung.
Hast du das Flötenspielen erst gelernt, um mit Nico zu spielen oder konntest du das schon vorher?
Das habe ich extra für die Expeditionen gelernt. Am Anfang war ich wirklich schlecht, aber Nico sagte immer: „Ach was, du spielst total super!“ Und ich war total happy und konnte es gar nicht glauben. Irgendwann, als es wirklich schon einigermaßen okay war, da hat er dann doch gesagt, dass es anfangs schon wirklich mies war, haha!
2015 habt ihr für einen eurer ersten Grönlandtrips mit dem Segelboot und diversen Erstbegehungen den Piolet d'Or bekommen, die Auszeichnung für die größte alpinistische Leistung des Jahres. 2022 hast du ihn ein zweites Mal gewonnen - für deine Überschreitung der Fitzroy-Gruppe in Patagonien, wieviel bedeutet dir das?
Das erste Mal war es für das gesamte Team, deswegen war es ziemlich cool. Beim zweiten Mal wusste ich erst gar nicht, ob ich es annehmen sollte. Bevor ich eingestiegen bin, habe ich mich erstmal vergewissert, dass ich meine Motivation wirklich die richtige war. Dass es nicht um Anerkennung ging und dass ich es auch dann machen würde, falls niemand je davon Wind bekommen würde. Angenommen, es gelingt und ich komme runter und erzähle es niemand und dann würde niemand, wirklich niemand sagen: Hey, das war eine große Leistung! Wäre das okay? Ja, wäre es. Ich habe es also wirklich nur für mich gemacht, deswegen war der Piolet d'Or mir tatsächlich erstmal egal. Aber dann dachte ich mir, der Stil war ja gut und Stil ist wichtiger als Zahlen und insofern sollte ich den Preis annehmen.
Warum musstest du dich vergewissern, dass die Motivation wirklich von innen kam?
Wenn du so wie ich Profi bist, hast du Sponsoren, das ist das eine. Und wenn du keine Sponsoren hast, dann ist da immer noch die Anerkennung von anderen. Du machst eine große Route und die die anderen sagen: „Wow, fantastisch!“ Danach kann man süchtig werden. Und bevor ich zu dieser wirklich sehr, sehr ernsten Route aufgebrochen bin, habe ich eben nachgedacht: Mache ich das wirklich für mich selbst? Das war für mich extrem wichtig. Ich habe ein Interview mit Alex Honnold gelesen über sein Solo am „El Capitan“ und er sagte, es hing eben doch mit dem Film zusammen, den sie gedreht haben. Erst war das Filmprojekt, dann kam als Vorhaben sein Free Solo am El Cap dazu. Der Film hat ihm den extra Schub Motivation gegeben, noch eine Schippe draufzulegen. Die Leute würden das im Film sehen und ihn bewundern und so. Er hat also diese äußere Motivation praktisch auf die intrinsische obendrauf gepackt, die er ja sowieso immer hatte. Für mich war dagegen entscheidend, dass die Motivation 100% intrinsisch war. Und ich kann wirklich ehrlich sagen: Ich habe jede Sekunde dieser Aktion genossen, diese sechs Tage waren einfach magisch. Da oben unterwegs sein, ganz allein in diesem Gelände mit all den Sonnenuntergängen und Sonnenaufgängen. Ich würde es sofort wieder machen und wieder genau so, auch wenn niemand jemals davon erfahren würde.
Mein größter Alleingang war die Heckmair-Route am Eiger und meine Wahrnehmung war, beim Solo kann es kein Ego und kein Schielen auf andere geben, weil zwischen dir und der Wand gar kein Platz dafür ist. Du setzt dich auseinander mit einer Entscheidung über Leben und Tod, da redet niemand mit, deswegen war ich tatsächlich überzeugt, dass ein großer Alleingang eigentlich nur rein intrinsisch motiviert sein kann.
Bis zu dem Interview von Honnold dachte ich das auch. Aber trotzdem hatte der intrinsische Aspekt ganz sicher den größeren Anteil an seiner Motivation, gar keine Frage.
Wenn wir über solche Feinheiten sprechen, wie geht es dir im Zusammenhang mit den Rekord-Jagden an den Achttausendern?
Ein Stück weit kann ich das verstehen, es ist ja schon eine Herausforderung, aber es ist halt auch der reine Konsum. Die Berge werden benutzt als Wettkampfstätte, wie ein Stadion, während man dort ja eigentlich ganz andere Erfahrungen machen kann. Das ist schade und genau deswegen ist es gut, dass es den Piolet d'Or gibt. Da geht es um den Stil und um die Erfahrung. Stil ist einfach entscheidend.
Deine eigenen Expeditionen werden also weiterhin so aussehen wie bisher?
Wahrscheinlich schon, ja. Vom letzten Trip [Oktober 2023 mit Nico Favresse, Franco Cookson, Ben Ditto] bin ich eben erst zurück, wir sind nach Grönland gesegelt und wollten auch zurück wieder segeln, aber dann saßen wir einen Monat in Island, weil der Motor kaputt war...so was gehört dann einfach dazu. Das Ziel war jedenfalls eine große Wand namens „Mirror Wall“. Fünfzig Tage haben wir gebraucht von Schottland bis zum Wandfuß und dann waren wir zehn Tage in der Wand. Die Wand war wirklich schwierig, es gab kaum Risse für natürliche Sicherungen. Und Bohrhaken setzen wollten wir möglichst wenige. Es waren dann mehr als jemals vorher, 18 Stück, und wir sind etwa 700 Meter weit gekommen. Dann kam eine absolut blanke Passage, die konnte ich weder frei klettern noch technisch, und ich wäre auch weit gestürzt. Für Skyhooks und Copperheads [Stahlhaken mit Bandschlinge und spezieller Kemmkeil, Hilfsmittel zum Klettern] war der Fels zu schlecht, das hielt alles nicht. Wir hätten eine Bohrhakenleiter setzen müssen, das wollten wir aber nicht. Das hatten wir vorher so besprochen: entweder frei oder auch technisch, aber auf keinen Fall mit einer Bohrhakenleiter. Also sind wir umgekehrt, aber es fiel natürlich schwer. Wir hatten alles gegeben und waren ziemlich weit gekommen, aber am Ende fühlte der Rückzug sich richtig an.
Wart ihr euch einig?
Nicht sofort, aber ja, wir waren uns einig.
Wie sehen deine Pläne für die nächsten Jahre aus?
Alles in allem will ich etwas ruhiger leben, ich bin eigentlich nonstop unterwegs. Entweder lebe ichim Van oder ich bin auf Expedition. Außer ich bin bei meinen Verwandten in Irland, so wie jetzt im Moment. Ich will mir irgendwo eine Basis suchen. Was die Expeditionen betrifft, bin ich mit der Art und Weise, wie wir es in letzter Zeit gemacht haben, eigentlich zufrieden. So kann es bleiben.