Mein Tourenbuch bestätigt: 1984, vor bald 40 Jahren, berührte ich das erste Mal Tessiner Fels. Und zwar an den Denti della Vecchia hoch über Lugano – landschaftlich wunderbar gelegene Kalkzähne mit guten Klettermöglichkeiten – und in der damals sehr beliebten Palestra di Roccia San Paolo. Dieser private Klettergarten mit Eintritt über dem Bahnhof Bellinzona wurde in den 1960er Jahren von einem Deutschschweizer Eisenbahner, der im Tessin (italienisch Ticino) arbeitete, in Fronarbeit zu einem lustigen vertikalen Spielplatz eingerichtet. In den Jahren danach war ich oft im Valle Maggia, wo einer meiner Freunde als Papierschöpfer und Künstler tätig ist. Dort lernte ich die einfachen, herrlichen Klettereien der Placche di Tegna und am Rovine del Castelliere bei Ponte Brolla kennen, fürchtete mich in den anspruchsvollen Platten im Klettergebiet Avegno, genoss die noch unverbrauchte „Alhambra“, eine 600-Meter-Route vom Feinsten, und spulte auf dem Weg ins Tessin hinter meinem schnellen Bruder die unendlich lange „Via Veterano“ ab.
Entdeckungen im Süden
Später wohnte ich im Kanton Uri, der nördlich des Gotthardpasses an das Tessin grenzt. Wie oft ist das Wetter im Norden grau und nass, während südlich des Gotthards die Sonne scheint! Und wie oft fuhren wir deshalb ins Tessin – nach Ponte Brolla, aber auch nach Arcegno, Claro, Cresciano, Gorduno und Osogna mit ihren tollen Klettergärten. Dann entdeckten wir das Bedrettotal, wo unzählige Mehrseillängenrouten gerade im Herbst fantastische Klettertage ermöglichen. Nochmals Jahre später, bereits in Norditalien wohnhaft, lernte ich weitere Ziele kennen – Sobrio in der Leventina und das Sommergebiet Caslano bei Lugano. Der einzige Reinfall: Ein Sturztraining im knallharten Cevio, eine Tortur für meine schwache Vorstiegspsyche, die in Tränen endete!
Reiche Erinnerungen. Was uns schon damals am Tessin faszinierte, war das Ambiente, so anders für uns aus der deutschsprachigen Schweiz: Cappuccino am Morgen, Palmen und Kamelien, am Abend Pizza und ein Besuch im Teatro Dimitri, das Theater des bekanntesten Schweizer Clowns aller Zeiten. Aufenthalte im „Ticino“ waren Begegnungen mit einer südlichen Welt, die Lebensschwung ausstrahlte, aber auch von Entbehrungen erzählte: Die harten Zeiten, als die Menschen zu Tausenden aus dem Tessin auswanderten, spürt man, wenn man aus den Tälern über mühselig angelegte Steinstufen in die Höhe steigt. Das Gelände wird steil und wild, Wege und Siedlungen sind überwachsen, der Wald hat sich Platz zurückerobert. Erst in letzter Zeit hat eine Wende stattgefunden, und abgelegene Flecken wurden zu neuem Leben erweckt. Was im Tessin auch anders war: Es gab jahrelang keine vernünftige Literatur zu den Klettergebieten. Dies bestätigt Glauco Cugini, der Autor des Tessiner Kletterführers, der 2021 in der vierten Ausgabe beim Schweizer Alpen-Club erschienen ist: „Ja, die Kletterer von damals wollten nichts preisgeben, man hatte Angst vor einer Invasion der Barbaren aus dem Norden!“ Als Übersetzerin seines Werks weiß ich, wie viel Aufwand dahintersteckt – Arbeit, die nur zum Teil mit Lohn abgegolten werden kann. Für Glauco geht das in Ordnung: „Meine Leidenschaft ist das Vermitteln von Informationen. Als ‘Hausmann’ erlaubt mir diese Aufgabe zudem, die Löcher langweiliger Tage zu stopfen. Und meiner gequälten Seele und meinem Selbstwertgefühl tut die Anerkennung der Benutzer gut!“
Zeitgemäße Kletterrouten
Glauco Cugini gehört selbst zu den eifrigsten Tessiner Erschließern der letzten Jahrzehnte. Zurzeit widmet sich der „kreative Mensch, der sich nicht nur körperlich anstrengen, sondern auch Konkretes hinterlassen möchte“, vor allem dem Sanieren von Kletterrouten.
Die Übersetzung des Führers hat mich zu Tessiner Streifzügen animiert. Ich breche mit meiner Freundin Sabine ins Val Calanca zum neuen, hoch gelegenen Klettergarten Sotalpizz auf. Doch wir blitzen ab: Baustelle, die gebührenpflichtige Straße ist nur am Wochenende offen. Sabine wird mir Wochen später begeistert von den dortigen Klettereien berichten. Wir landen derweilen im ebenfalls neuen Contra. Zeitgemäß klettern wir die Route „Controna virus“, bevor wir ins Valle Maggia wechseln und nach Fusio fahren – 40 Kilometer nördlich von Locarno. Am Anfang sehen wir zahlreiche Tourist*innen, hinten im Tal wird es still. Wer bis zuhinterst fährt, hat ein Ziel, will hierhin. Wir logieren in der renovierten Villa Pineta, von Winzer und Musiker Christophe Schenk mit Herzblut und Sinn für Ästhetik geführt. Zum Essen bietet er seine Weine an, die unter dem Namen „Incontro“, Begegnung, zu meiner Neuentdeckung des Tessins passen. Man rechne übrigens im Tessin immer Zeit zum Genießen von Alpkäse, traditionellen Gerichten und dem hervorragenden Wein in typischen Grotti und Ristoranti ein!
Am nächsten Tag klettern wir nach einem malerischen Aufstieg durch Lärchenwald über dem Lago di Mognola. Bester Fels, Blick auf den Lago di Sambuco, an dessen Staumauer man klettern kann. Wir treffen den passionierten Erstbegeher Luca Ramelli an: Er pflegt gerade mit einer Grasschneidemaschine die Wege unter den Felsen! Unser Genusstag endet mit dem Abstieg am renovierten Wasserkanal von Canà entlang, ein Erlebnis für sich. Und zurück im Tal pilgern wir nach Mogno, wo Mario Botta, der Tessiner Stararchitekt, eine Kirche aus hiesigem „Beola“-Gneis und Peccia-Marmor erbaut hat: ein einzigartiger und berühmter Wallfahrtsort!
Wasser – von oben und unten
Auch in der Sonnenstube Tessin regnet es einmal. Und wenn, dann gerne aus Kübeln, und der dunkle Gneis trieft dann oft tagelang vor Nässe. So fahren wir nach einem Regenfall nicht zu den nach Norden ausgerichteten Felsen von Narèt, sondern nach San Carlo, am Ende eines anderen Maggia-Seitentals. Hier gibt es ein neues Klettergebiet, aber auch über dessen Platten plätschern Bäche! Ich, die Übersetzerin, habe im Führer den Nebensatz „…die ideale Zeit sind Trockenperioden …“ übersehen. Nun haben wir Muße für entzückende Dörfer wie Foroglio und Brontallo. Danach fahren wir zurück Richtung Locarno, genießen wunderschöne neue Seillängen in Torbeccio mit weiten, technischen Zügen und danach ein Bad in der Maggia. Das Wasser ist von der Sonne aufgewärmt und zugleich prickelnd – ein erfrischendes Vergnügen. Die Maggia, der große und einst wilde Fluss, der das Tal und seine Geschichte prägt und einen der touristischen Trümpfe des Tessins verkörpert, ist einmalig mit ihren Steinen, Formen und Farben.
Mit einer Verstauchung bin ich zurück im Tessin, unterwegs mit Partner Eugenio und Neffe Emanuel. Das Durchwaten der Bavona wird mit meinem schmerzenden Fuß zur Schlüsselstelle, bevor wir die hübsche Plattenroute „Cascata di Chignöö“ begehen.
Ihr Besuch lohnt sich allein für die wundervolle Gumpe am Einstieg! Am Tag darauf steigen wir von Foroglio mit seinem Wasserfall ins Val Calnègia auf. Zuerst führt der Stufenweg beeindruckend durch eine steile Wand, bevor sich das Tal öffnet. Wir dringen in eine fantastische Welt ein mit Alpsiedlungen und den „Splüi“, mächtigen Blöcken, die früher als Unterstände dienten. Der Aufstieg zur einfachen, gut eingerichteten Route „Il fondo del sacco“ ist weit, aber paradiesisch. Wir sind allein: Wer nicht gerade an Ostern unterwegs ist, findet im Tessin immer einsame Plätzchen …
Einmal mehr begleitet mich Sabine. Dieses Mal wollen wir uns neue Gebiete an Nufenen- und Gotthardpass in der nördlichsten Ecke des Kantons ansehen. Am „Panettone“ am Poncione di Manió klettern wir an rauem Granit in der stillen Herbstlandschaft. Der nächste Tag überrascht uns mit Temperaturen nahe an der Nullgradgrenze. Und doch klettern wir schließlich im Sektor „Bassa della Sella“ gleich hinter der Tremola, der gepflasterten historischen Passstraße. Dann fahren wir zur Passhöhe und wandern zur „Placca delle marmotte“. Deren vergnügliche Mehrseillängenrouten sind ideal für Familien! Wir aber müssen uns geschlagen geben: Nebel zieht auf, die Kälte wird unerträglich. Hätten wir Zeit, würden wir in das tiefgelegene, wärmere Ponte Brolla wechseln. Denn das Tessin ist auch das: eine Welt der Gegensätze, die von mediterran anmutenden Seeufern bis zu hochalpinen Landschaften reicht.
Alte Erinnerungen, frische Anregungen: Bald werde ich den Besuch von mir noch unbekannten, aber offenkundig schönen Kletterzielen wie Pizzo del Prèvat oder Bosco Gurin mit neuen Tessiner Begegnungen verbinden.