Romantische Landschaft und Wiege des Rock Climbing
Nur zwei Autostunden nördlich der historischen Zentren des englischen Kapitalismus - Manchester, Sheffield und Liverpool - könnte der Kontrast kaum größer sein: Der Lake District ist ein Gesamtkunstwerk aus glasklaren Seen, idyllischen Tälern, „Fell“ genannten Bergen und eingestreuten alten Dörfern und Marktstädtchen. Im Frühjahr säumen Millionen gelber Narzissen die Seeufer, und Teppiche aus blauen Glockenblumen bedecken den lichten Waldboden.
„I wandered lonely as a cloud“ – dieses romantische Gedicht von William Wordsworth über die von „Daffodils” verzauberte Seenlandschaft kennt jedes englische Schulkind. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts sind die Lakes Sehnsuchtsort von Dichtern und Künstlern, dann nahes Erholungsgebiet für die Menschen in den tristen Industriestädten des Nordens - und im viktorianischen Zeitalter erstes Ziel von Kletternden. Heute ist „Lakeland“ ein großer Nationalpark, seit 2017 Weltkulturerbe, an Feiertagswochenenden und in den Sommermonaten ein überaus beliebtes britisches Urlaubsziel.
Und es ist zu allen Jahreszeiten ein Platz für die „Great Outdoors“, das Draußensein in der Natur in all seinen Facetten, vom Zelten an malerischen Plätzen über das „wilde“ Schwimmen in den vielen Seen bis hin zum Bergwandern oder „Fell-Running“. Hier steht nicht nur der höchste Berg Englands, der Scafell Pike, ein echter Dreitausender – in „Feet“ gemessen. Hier befindet sich auch der Geburtsort des englischen Rock Climbing. 1886 „eroberte“ ein gewisser W.P. Haskett-Smith im Anzug und mit Nagelschuhen Napes Needle, die exponierte Felsnadel am Great Gable. Fotos dieser neuartigen, seltsamen und äußerst wagemutigen Unternehmung erschienen in den Londoner Zeitungen und lösten den ersten Kletterboom auf den britischen Inseln aus. Rund sieben Jahrzehnte später trainierte an diesen Felsen das Expeditionsteam um Sir Edmund Hillary für die Everest-Erstbesteigung.
Wer Abgeschiedenheit, Naturabenteuer und eine Berglandschaft mit geschichtlichem Flair sucht, wird abseits der touristischen Hotspots wie Windermere, Ambleside oder Grasmere überall fündig. Und genau das ist es, worauf wir es abgesehen haben: Auf historischen Spuren unterwegs zu sein, in schöner Natur- und Kulturlandschaft mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Wir sind gespannt auf das Erlebnis, die Leistung der Pioniere nachzuempfinden, die den Fels erstmals als eine Herausforderung für sportliche Betätigung betrachtet haben. Hier zählt nicht die absolute Höhe der Berge – verglichen mit den Alpen sind die Lakes kleine Geschwister. Und auch nicht der Schwierigkeitsgrad der klassischen Kletterrouten – verglichen mit den „extremen“ modernen Routen ist der eher moderat. Mit britischem Understatement können wir sagen: Die Lakes haben nicht enttäuscht!
Zentrum des englischen Alpinismus
Unser erstes Ziel ist Wasdale, das westlich gelegene und abgeschiedenste aller Täler mit seinem langgestreckten See. Von den Bergen über dem östlichen Ufer ziehen lange Schuttreißen aus vulkanischem Quarzit hinab zum Wast Water und geben dem See eine fast schwarze Farbe und der ganzen Landschaft einen leicht düsteren Touch. Am Talschluss liegt der weitläufige Campingplatz des National Trust mit freiem Blick auf den Great Gable, dem neben dem Skafell höchsten und die Landschaft dominierenden Bergmassiv. Ein zwanzigminütiger Fußmarsch entlang des Bergbachs Lingmell Beck und über Schafweiden mit herumspringenden Lämmern führt zu einem kleinen Weiler mit wenigen Farmhäusern und dem berühmten Wasdale Head Inn. Das Hotel im viktorianischen Stil präsentiert viele Relikte der Klettergeschichte: Nagelstiefel, Pickel, Hanfseile. Drei alte Wanduhren zeigen die Weltzeit in Wasdale, in Borrowdale und in Langdale – erstaunlicherweise auf die Minute gleich!
Englands höchster Berg
Am nächsten Tag überrascht uns das Wetter: Keine Regenschauer, die von der nahen Irischen See herüberziehen und sich an der Westseite der Berge abregnen. Bei Sonne starten wir unsere Rundwanderung zum Skafell Pike (978 m), dem höchsten Berg Englands. Direkt hinter dem Campsite führt ein sehr schöner Weg am Bergbach Lingmell Gill entlang aufwärts. Um die Erosion durch die vielen tausend Gipfelstürmer*innen in Grenzen zu halten, ist der größte Teil des Aufstiegs „gepflastert“. Ein Schild unterrichtet uns, dass ein Meter mit Urgestein befestigter Bergpfad 220 Pfund Sterling kostet, finanziert aus Spenden. Nicht ganz billig, die zwei Kilometer bis zum Gipfel! Auf halbem Weg tolle Weitblicke, nach Westen zum glitzernden Meer, nach Norden zu Derwent Water in Borrowdale, dem Tal, das wir auch noch besuchen wollen.
Am Gipfel dann, wie es sich für England gehört: Mist, sprich Nebel. Während wir verweichlichte Kontinentaleuropäer*innen unsere Daunenjacken anziehen, turnt eine Mannschaft Royal Marines in T-Shirts herum. Nieselregen und Nebel machen den Weiterweg spannend. Kompass und große „Cairns“ genannte Steinhaufen helfen weiter. Der Abstieg führt uns aus der Wolke heraus und zu dem blauen Bergsee am Sty Head, dann zu einer langen Querung am Fuße des Great Gable und endet, wie es sich hier gehört, im Wasdale Head Inn. Fish’n Chips und ein Pint sind der Lohn für den langen Tag.
Wo das Felsklettern begann
Am folgenden Morgen begeben wir uns auf die Spuren der viktorianischen Kletterpioniere. Wir haben uns zwei Klassiker vorgenommen, die Ersteigung von Napes Needle über den klassischen Wasdale Crack (HS) und anschließend die Genusstour Needle Ridge (VD) auf den Gipfel des Great Gable (899 m). Im Führer sind die beiden von Haskett-Smith in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erstbegangenen Routen nicht zu Unrecht mit drei Sternen ausgezeichnet: Routenführung, Kletterpositionen und Landschaftserlebnis sind wirklich außergewöhnlich. Vor dem Genuss kommen allerdings zwei Stunden anstrengender Zustieg bis zum Fuß der Felsnadel. Der breite Riss, der Weg des Erstbegehers, ist eigentlich nicht schwer, aber extrem abgespeckt von den Tausenden Bergschuhen, die seit 135 Jahren das vulkanische Tuffgestein polieren. Ist es einem gelungen, nicht abzuglitschen, und ist die Felsschulter unterhalb des Spitze erreicht, braucht es einen „tricky mantle“, um auf den Gipfelblock zu gelangen. Ausgesetzter geht es kaum. Und der Fernblick weit hinunter über Wast Water zur Irischen See ist atemberaubend. Auf den Kopfstand, mit dem Haskett-Smith hier oben die frühe Klettergemeinde beeindruckte, verzichten wir lieber. Und konzentrieren uns darauf, wie wir von der spitzen Nadel wieder runterkommen. Einen Abseilring gibt es nicht. Abklettern ist angesagt. Die Schulter der Seilpartnerin, die ich schon von oben über den Körper gesichert zur Felsschulter abgelassen habe, hilft da als Tritt weiter. Dort findet sich dann ein Seilring zum Abseilen.
Britische Schwierigkeitsgrade
In der britischen Bewertung wird jede Route nach ihrer technischen Schwierigkeit (technical grade, 4a, 4b, 4c, 5a etc.) und nach dem Anspruch einer Begehung (adjectival grade, M - moderate, VD - very difficult, HD - hard svere, HVS - hard very severe, bis E8) beurteilt. Die im Text beschriebenen Routen bewegen sich in den UIAA-Graden III (M) bis VI (HVS 5a) bzw. VII (E2 5c).
Mehr Infos zu britischen Klettergraden gibt es hier, vergleichen lassen sich die verschiedenen internationalen Klettergrade in dieser Tabelle.
Was jetzt folgt, erfordert weniger Konzentration. Und bringt mehr Spaß. Die blockige Felsrippe des Needle Ridge, die sich vom Fuß der Nadel über fünf Seillängen die Südflanke des Great Gable hochzieht, bietet abwechslungsreiches leichtes Klettern in fantastischer Umgebung. Fühlt man sich in diesen Schwierigkeiten vollkommen sicher, kann man auch solo klettern und so deutlich schneller vorankommen. Dann folgt die Querung oberhalb des Great Hell Gate – englische Rockpioniere lieben Dramatik! - zum Pinnacle Ridge (M, 150m), über das man in moderater Kletterei den Gipfel erreicht. Dort liegt einem der gesamte Lake District zu Füßen. An einem klaren Tag reicht der Rundblick weit bis hin zur schottischen Grenze im Norden. Und zum Wasdale Inn im Süden, der ganz nah erscheint, aber noch einen anstrengend-steilen Schotterabstieg entfernt ist. Nach einem langen Tag erreichen wir den berühmten Pub, in dem das englische Rock Climbing begann und jede Klettertour - „as usual“ - mit einem Pint endet.
Über die steilste Passstraße der britischen Inseln
Der Ortswechsel nach Borrowdale hält ein Erlebnis eigener Art bereit. Der Weg dorthin führt über den Hardknott Pass, die steilste Autostraße der britischen Inseln. Die Ursache dafür liegt in der historischen Geologie des Lake Districts. Diese Landschaft ist das eindrucksvolle Zeugnis der tektonischen Kräfte, die vor 420 Millionen Jahren die vorher durch einen Ozean getrennte Landmasse des heutigen Englands mit der des heutigen Schottlands kollidieren ließen. Die Kollision türmte die Berge des Lake Districts auf. Vor einer Million Jahren überformten die Gletschermassen der Eiszeit die Berge, trugen sie ab, schliffen die Täler aus, die wie die Speichen eines großen Rads angeordnet sind, und in denen sich heute die vielen Seen finden, die der Landschaft ihre Namen geben. Um von einem Tal in das nächste zu gelangen, sind daher fast immer Passübergänge vonnöten.
Zum "alpinen" Wasdale ist Borrowdale das idyllische Pendant. Hier herrscht eine Atmosphäre wie an den bayerischen Voralpen-Seen, nur mit Union Jack und britischem Ambiente. Und vom Kletterstandpunkt ist das Tal absolut lohnend. Fantastische Landschaft, kurzer Zustieg und ein Gestein, das schnell trocknet und Routen in allen Schwierigkeitsgraden bereithält, machen Shepherd’s Crag zu dem beliebtesten Fels in Borrowdale. Hier findet sich auch die Route, die fast alle britischen Climber*innen mindestens einmal im Leben klettern: "Little Chamonix" (VD, 70 m). Entsprechend ist der Andrang und die britische Tugend des „Queueing“ kommt voll zum Zug. Vor uns am Einstieg wartete der 80-jährige Paul Ross, ein Local, der nicht nur unzählige neue Linien an den Felsen von Borrowdale erschlossen, sondern auch einen speziellen Sinn für Exzentrik hat. Auf Youtube kann man anschauen, wie er „Another day at the office“ verbringt und Little Chamonix mit Rollschuhen und Boxhandschuhen klettert.
Wir bevorzugen allerdings eine Begehung im klassischen Stil. Die Routenfindung entlang der vier kurzen Seillängen ist nicht schwer. Christine folgt einfach dem Glanz des von den vielen Begehungen polierten Schieferfels. Mit feiner Ironie nennen die Menschen in England das „fine sheen“, was bei uns „abgespeckt“ heißt, aber angesichts der interessanten Kletterei nicht weiter stört. Hoch geht es entlang von angedeuteten Verschneidungen, dann erreicht ein zunächst nicht offensichtlicher Move nach rechts den Beginn des Pfeilers, dessen Kante exponiert zum „Belvedere“ genannten Gipfel führt. Der Name passt: Von diesem Balkon hat man wirklich eine „schöne Aussicht“ auf den nahen See und die Berghügel rundum.
Nur ein paar Meter weiter von der Chamonix-Area ist es dann wieder einsamer. Wir genießen noch die schönen Wand- und Rissklettereien am Fisher’s Folly Buttress ("Kransic Crack Direct" - HVS, "Fisher’s Folly" - VS) und die etwas längeren am North Buttress ("Ardus" - MVS, "Finale" - HVS). Danach geht es in wenigen Minuten zum freundlichen Shepherd’s Cafe, dem beliebten Treffpunkt der lokalen Kletterszene. Hier beenden wir unseren Klettertag. Diesmal nicht mit dem obligatorischen Bier, sondern mit einem Cream Tea, der traditionellen Kombination aus Tee und Scones, einem Gebäck, das mit Clotted Cream und Erdbeerkonfitüre bestrichen wird. Gut, dass wir diesen nicht ganz leichten Genuss nicht vor dem Klettern zu uns genommen haben!
Ein anderer Fels in Borrowdale, dem man unbedingt einen Besuch abstatten sollte, ist der Black Crag. Die Sonne erreicht ihn am frühen Nachmittag. Schon der halbstündige Zustieg das Seitental entlang und hinauf ist wunderbar. Die Routen am rechten Pfeiler sind alle vom Feinsten, und man kann unter drei Varianten die passende Schwierigkeit aussuchen: "Troutdale Pinnacle" (S, 105 m), "Troutdale Pinnacle Direct" (VS 4c, 100 m), "Troutdale Pinnacle Superdirect" (HVS 5a, 95 m). Natürlich sind auch hier wie im gesamten Lake District alle Klettereien „Trad“, also selbst mit Klemmkeilen und Friends abzusichern. In der linken Wandseite befinden sich weitere 3 Sterne Routen: "The Shrout" (VS 4c, 70 m) oder wer es schwerer mag "Vertigo" (E2 5c, 80 m).