Abstieg Samspitze mit Blick auf Vordersee und -spitze.
Abstieg von der Samspitze Richtung Vordersee und -spitze (4. Etappe Ansbacher Hütte - Kaiserjochhaus). Foto: Andi Dick
Lechtal-Highway

Zackig den Kamm entlang

Blumenreich und felsgipfelig, wild und weit: Der anspruchsvolle Lechtaler Höhenweg lotet alle Reize dieser vielfältigen Gebirgsgruppe aus. Eine extremere Variante setzt noch ein paar sportliche I-Tüpfelchen darauf.

Noch 2008 schwärmte Dieter Seibert im inzwischen vergriffenen Alpenvereinsführer Lechtaler Alpen: „Es gibt nur wenige Höhenrouten in den Alpen, die so voller Abwechslung, Spannung, großartiger Ausblicke und faszinierender Bilder in der Nähe vom Bergsee bis zu wilden Felsszenerien stecken wie diese Wege, und dies alles in einer nahezu unberührten Hochgebirgswelt.“ Das gilt bis heute – auch wenn man das Arlberg-Valluga-Gebiet nicht gerade als Inbegriff unberührter Bergwelt bezeichnen möchte. Und auch wenn man auf der Memminger Hütte froh sein muss, einen Platz neben den E5-Gruppen zu bekommen. Denn zwischen diesen Hotspots gibt's wilde Landschaft, großartige Flora und viel Bewegungsfreude, vom sehr gehobenen Wandern bis zum Klettersteig und gar leichter Kraxelei.

Es geht um das Gefühl, hoch oben tagelang den Kämmen zu folgen, über alle Zacken hinweg...

Die scherzhafte Bezeichnung der Route als „Lechtal-Highway“ – in Steigerung zum offiziell beworbenen „Lechtaler Höhenweg“ – soll nicht an autobahnähnlich planierte Bergwelt erinnern, selbst die Klettersteigpassagen bleiben ruppig. Eher geht es um das Gefühl, hoch oben tagelang den Kämmen zu folgen, über alle Zacken hinweg, über dem Lechtal zur rechten und dem Rosannatal zur linken. Oder auch andersherum, denn die Route ist in beide Richtungen begehbar. Für die vorgeschlagene Ost-West-Version spricht, dass dann die zwei Schlüsselstellen am Anfang liegen und sich, bei zeitlicher Flexibilität, besser an die Wetterlage anpassen lassen.

Die Memminger Hütte über dem Unteren Seewisee wird von vielen Wandergruppen auf dem E5 bevölkert. Foto: Andi Dick

In ernstem Gelände

Die erste Schlüsselstelle ist, einen Übernachtungsplatz auf der Memminger Hütte zu ergattern, die fast an jedem Wochentag mit E5-Gruppen bis unters Dach gefüllt ist. Doch der Zustieg vom Endpunkt des Linientaxis Feuerstein dauert nicht sehr lange, und so kann man, wenn die Kondition passt, am selben Tag noch weiterziehen bis zur Augsburger Hütte. Dann hat man den Augsburger Höhenweg, die technische Crux, gleich am zweiten Tag vor sich.

Nicht dass die Etappe dorthin banal wäre, der Spiehlerweg zeigt schon ordentlich Zähne. Direkt hinter der Memminger Hütte schlendert man noch durch eine idyllische Seenlandschaft mit Wollgras und dem Blick zum markanten Felszahn der Freispitze gegenüber. Doch hinter der Seescharte wird es ernst: Felsig geht es bergab in einen düsteren Fels-und Schrofenkessel, überragt von der Nordwand der Parseierspitze. Durch die Steilflanke links daneben windet sich der Spiehlerweg zwischen Altschneeresten und Schuttrinnen nach oben, nur gelegentlich hilft ein Drahtseil. Wem hier die Muffe geht, kehrt besser wieder um und erreicht die Ansbacher Hütte am nächsten Tag über das Parseier Tal. Wer sich dagegen zuhause fühlt in diesem wilden, ernsten Alpingelände, ist genau richtig für die ultimative Steigerung.

Auf der Etappe von der Memminger zur Augsburger Hütte liegt der Obere Seewisee mit den Seeköpfen. Foto: Andi Dick

Schwierig und schön

Als schwierigster, aber auch schönster Höhenweg der Nördlichen Kalkalpen wird der „Augsburger“ gerühmt und von vielen bestätigt. Nur bei guten Verhältnissen und stabilem Wetter werden rundum Bergerfahrene hier ihr Vergnügen finden und womöglich die acht bis zehn Stunden Gehzeit noch um die zwei Stunden für die Parseierspitze verlängern, den einzigen Dreitausender der Nördlichen Kalkalpen - eine prächtige Kraxelei mit Zweierstellen in vielfarbigem Fels, rauf und runter. Auch ohne diese Zugabe wartet ein in jeder Hinsicht erfüllter Tag. Große Ausblicke vom Dawinkopf, die gesicherte Steilrinne am Gelben Schartle, danach eine haltlose Mergelflanke, die hunderte Meter ins Zammer Parseier hinabschießt und auf fußbreitem Pfad zu queren ist – wehe, es liegt Altschnee! Und nach der kleinen Roland-Ritter-Biwakschachtel geht es noch etliche Stunden lang auf und ab durch abschüssige Schrofenhänge, bevor endlich Wiesenwege zu den gefüllten Töpfen und weichen Lagern der Ansbacher Hütte führen. Das Wegebauteam der Sektion Augsburg hat wie für den Spiehlerweg auch für den Augsburger Höhenweg eine Bildbroschüre erstellt, die alle wichtigen Wegpassagen zeigt und viele Informationen bietet. Mit gutem Grund: Immer wieder gibt es Unglücksfälle und Rettungseinsätze wegen Selbstüberschätzung, mangelnder Ausrüstung – oft sind noch im August Steigeisen wertvoll – oder unterschätztem Schlechtwetter.

Kulinarische Schmankerl

Nach dem Start mit Pauken und Trompeten folgen zwei Tage mit Flötentönen: Lechtaler Blütenpracht, Bergseen, nur gelegentlich ein Saxophonsolo mit Drahtseilen und Gipfelgraten. Fast gemütlich geht es von der Ansbacher Hütte hinauf zur Samspitze. Der Rückblick zur Hütte stürzt ab ins Rosannatal, das vom Arlberg nach Landeck führt, auf der anderen Seite beherrscht der Hohe Riffler das Panorama, eine firngeschmückte Felsburg. Beim Blick nach rechts überragt die Parseierspitze den Kamm, durch dessen Flanken der Augsburger Höhenweg führt – schon jetzt kaum mehr vorstellbar, wie solche Schrofen- und Steilgrasflanken begehbar sein sollten. Sauber schuttig geht's hinunter ins Alperschonjoch, dann quert der Thomas-Haas-Weg wieder mit gelegentlicher Drahtseilhilfe steile Flanken bis zum umgrünten Vordersee. Auf der Standard-Routenführung des Lechtaler Höhenwegs ist diese Passage eine Schlüsselstelle (T4/+), in der „Highway“-Variante fällt sie kaum auf. Noch einiges auf und ab, dann ist das Kaiserjochhaus erreicht, von außen ein architektonisches Durcheinander, innen gemütlich-urig mit Kachelofen und vom Wirt und „leidenschaftlichen Koch“ Johann Genewein unter dem Motto „So schmecken die Berge“ zur kulinarischen Attraktion veredelt: Knödel und Kaiserschmarrn, Hirsch- und Lammragout, Käsespätzle und Gröstel…

Ein architektonisches Durcheinander mit Kachelofen und einem leidenschaftlichen Koch als Wirt.

Wer solchen Verlockungen widerstehen kann und wem die ersten Tage nicht zu tief in den Knochen stecken, der hängt womöglich die kurze nächste Etappe bis zur Leutkircher Hütte dran, die meist entspannt durch üppig blühende Wiesen auf der Sonnenseite des Hauptkamms führt. Für Nimmersatte winkt auch hier ein Bonusgipfel: Etwa eine Stunde zusätzlich ist zu investieren für den Stanskogel, der kurz unterm Gipfel, wo die seltene Mont-Cenis-Glockenblume gedeiht, ein paar einfache Felspassagen bereithält. Von oben öffnet sich der große Blick über den Rest der Route. Der Talschluss des Almajurtals ist eine grüne Arena, gekrönt von einem Felskranz: Die Weißschrofenspitze mit dem Zackenkamm des Arlberger Klettersteigs, die breite Valluga mit Seilbahnaufbau am Gipfel und das kecke Horn der Roggspitze. Die Leutkircher Hütte hat eine ähnlich verlockende Speisekarte wie das Kaiserjochhaus und vergleichbare blau-gelbe Fensterläden mit Adlerbemalung und Gebäudeteilen aus verschiedenen Epochen – auch sie ist mit den Ansprüchen der Gäste gewachsen.

Auf der Leutkircher Hütte kann man nach der 5. Etappe wieder Kraft tanken. Foto: Andi Dick

Kraxeln über dem Arlberg

Jetzt wird's nochmal ernst oder auch spaßig, je nach Einstellung und Wetter. Der Arlberger Klettersteig war einst eine Gratkletterei im dritten Grad, heute ist es ein flotter Ritt auf felsiger Schneide, als „Extremklassiker“ gerühmt unter Menschen, die ein solides Drahtseil als gute Griff-Alternative zu schätzen wissen. Zwei Kilometer lang heißt es Kraxeln zwischen Himmel und Erde, über die passend benannten Haifischzähne hinweg, immer mal wieder eine senkrechte Wand hinauf, hinunter oder hinüber. Wer die Kraft hat, hat das Vergnügen; wenn nicht, können aus den angegebenen vier Stunden Begehungszeit auch leicht sechs werden.

Überall stehen Liftmasten und Pisten-Infoschilder, von unten schauen künstliche Beschneiungs-Seenaugen neben Bejausungsstationen herauf.

Nach dem letzten Abstieg ins Matunjoch hat man wieder einmal die Wahl: Genussbedürftige können entspannt die halbe Stunde hinuntersteigen zur Ulmer Hütte, die dank ihrer Lage mitten in einem der beliebtesten Skigebiete der Alpen und „Kategorie 2“ mit dem Komfort eines Berggasthauses wirbt. Man kann aber auch wieder einmal einen dranhängen: Keine ganze Stunde ist es hinauf durch die Pistenwüste zur Valluga. Überall stehen Liftmasten und Pisten-Infoschilder in den Schuttfeldern, von unten schauen künstliche Beschneiungs-Seenaugen neben Bejausungsstationen herauf. Auf der jenseitigen Talseite dominieren nun die Berge des Verwall die Aussicht: die breite Kuchenspitze, deren Nordwand schon länger kein Steileis-Ziel mehr ist, und der Patteriol, der an die Mitra eines Bischofs erinnert. Weg vom Vallugagipfel, der aussieht, als wäre überzähliger Technoschrott ausgemistet worden, noch einmal ein Schuttfeld hinunter, dann ist man endlich wieder im grünen Bereich. Satt blühen die Wiesen, die in sanften Schwüngen hinunterziehen zur Flexenpass-Straße zwischen Zürs und Lech. Auch dort sind die Hänge für die Bedürfnisse des Wintersports zugerichtet, doch vom Boschweg (der Ingenieur und Bergsteiger Robert Bosch hat ihn gestiftet…) sind die Lifte nicht zu sehen, nur blütenbunt gesprenkeltes saftiges Grün, in dem die Stuttgarter Hütte wieder wie ein echter Bergstützpunkt wirkt. Seit 1959 wird das Haus von der gleichen Familie bewirtschaftet, heute in zweiter Generation, der ehrenamtliche Hüttenwart der Sektion ist ein altgedienter Extremalpinist und AV-Funktionär – Schwaben verspricht Beständigkeit.

Varianten zum Schluss

Der Ausklang ist versöhnlich nach so viel wildem Gelände, egal welche Option man wählt: direkt hinunter nach Zürs? Eine letzte Fleißaufgabe hinüber zum Rüfikopf und per Seilbahn nach Lech hinunter? Oder der lange Marsch durchs Almajurtal, unter den Gipfeln der letzten Tage entlang schlendernd? Dabei taucht man ein letztes Mal ein in die Schutt- und Felsenwelt, ab dem Erlijoch geht es nur noch talaus, in die Blumenpracht der Almregion. Gelber Fingerhut, Blauer Eisenhut, Gelber Enzian leuchten um die Wette, über dem plätschernden Bach bäumen sich Valluga und Roggspitze in den Himmel. Jedes Ding im Leben hat seine Zeit: Anstrengung und Konzentration, Schauen und Staunen – der hohe Weg über die Lechtaler bietet von allem reichlich.