Mountainbiker auf einem Wanderweg auf einem Bergkamm.
Wanderwege sind in Graubünden immer auch Bikewege. Foto: Martin Bissig
Interview mit Mountainbike-Vordenker

MTB vs. Wandern: Lernen von Graubünden?

Graubünden hat heute für viele eine Vorbildfunktion beim Mountainbiken. Doch „shared trails“ gibt es nicht zufällig, sie sind das Ergebnis systematischer Zusammenarbeit. So sieht es der Mountainbike-Vordenker Darco Cazin. Der Bündner lädt alle interessierten Mountainbiker*innen ein, sich auf offenen Plattformen zu informieren, wie der Schweizer Kanton sein Mountainbike-Angebot für Einheimische und Gäste weiterentwickelt.

Darco Cazin, 46, ist Gründer der Firma Allegra Tourismus (www.helloallegra.com). Cazin berät Destinationen von Finnland bis Japan zum Thema Mountainbike. Die Entwicklung des Mountainbike-Angebots in Graubünden prägte er von Anbeginn. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebt er in Pontresina im Oberengadin und ist selbst leidenschaftlicher Biker.

Motiv einer Toleranz-Kampagne in Graubünden. Quelle: Graubünden Ferien
Portrait von Anna Weiß. Sie trägt einen Fahrradhelm. Anna Weiß

Graubünden steht für „shared trails“, also Wege, die allen gleichermaßen offenstehen. Ich erinnere mich an ein altes Werbeplakat: „Unsere Wege waren schon immer ein Ort der Begegnung“. Darauf zu sehen ist ein Steinbock, das Wappentier Graubündens, inmitten von anderen Wildtieren und einer Kuh. Wie kam es dazu, dass Mountainbiker*innen in Graubünden alle Wege offenstehen? Ist diese Trail-Toleranz ein Teil der DNA Graubündens?

Portrait von Darco Cazin. Darco Cazin

Meine Kinder oder auch die Generation zwischen mir und meinen Kindern, die würden sagen ja. Denn sie haben keinerlei Erinnerung daran, dass man sich in Graubünden unglaublich anstrengen musste, dass es dieses Konzept von „shared trails“ überhaupt gibt. „Shared trails“ sind aber das Resultat von systematischer Zusammenarbeit. Sie haben auch in Graubünden immer wieder auf der Kippe gestanden. Es war nicht so, dass das Velo kam und alle schrien „Juhuuu“, selbst in der jüngeren Geschichte nicht, in der es immerhin einen bedeutsamen Teil zur Wertschöpfung des Kantons beiträgt. Die „shared trails“ standen öfter auf der Kippe als man es in der Erinnerung wahrhaben will. Bei den Jungen, die diesen Weg nicht bewusst mitbekommen haben, gibt es oft den Anspruch: „Dieses Recht ist gottgegeben und ich darf das ja." Aber hallo? Wir müssen immer noch sehr sorgsam und durchdacht mit diesem Recht umgehen. Klar, man muss einerseits schätzen, was da ist, sich andererseits aber nicht zufrieden geben sondern stets die Chancen, die daraus erwachsen, wahrnehmen und bewusst gestalten.

Portrait von Anna Weiß. Sie trägt einen Fahrradhelm. Anna Weiß

Ein kurzer Blick auf die rechtliche Lage: Auch in Graubünden gilt das nationale das Bundesgesetz über den Straßenverkehr, Artikel 43, der kurz gesagt postuliert, dass Wanderwege nur mit geeigneten Mobilitätsformen zu begehen und befahren sind.

Portrait von Darco Cazin. Darco Cazin

Ja genau. Dieses Bundesgesetz gilt für alle Schweizer Kantone. Aber in Graubünden wurde es so ausgelegt, dass Mountainbikes genau für das Befahren von Wanderwegen zweckmässig sind. . Wir Bündner sind ein Bergvolk und von daher wohl eher pragmatisch und unaufgeregt. Für uns ist es seit jeher so, dass der Berg Nutzland ist – und da gehören Wege zwangsläufig dazu. Wahr ist aber auch: Ohne die richtigen Leute an den richtigen Stellen mit einer Affinität zum Mountainbiken, zum Skitourengehen, zum Klettern, zum Bergsport allgemein, hätte die Sache auch ganz anders ausgehen können. Aber wir hatten das Glück, dass im Hintergrund immer genau die richtigen Leute die Lanze fürs Mountainbiken gebrochen haben. Zudem gab es recht früh Koordinierungsanstrengungen. Die "Fachstelle Langsamverkehr" wurde geschaffen. Langsamverkehr steht dabei für die Fortbewegung zu Fuss, auf Rädern oder Rollen, angetrieben durch menschliche Muskelkraft. Das Amt für Wirtschaft und Tourismus und das Tiefbauamt Graubünden fördern die Belange des Langsamverkehrs insbesondere in den Bereichen Wandern, Radfahren und Mountainbiken – vereinen also schon vermeintlich unterschiedliche Interessen in sich. Wobei es eigentlich gar keine unterschiedlichen Interessen sind: Schließlich wollen wir alle nur eine gute Zeit draußen in der Natur verbringen, egal ob zu Fuß oder auf einem Fahrrad. Diese Gemeinsamkeit zu betonen, hat sich immer wieder als extrem wertvoll erwiesen. Gerade in der ersten Zeit, als es durchaus noch Kämpfe mit Umweltverbänden, Wandervereinen und anderen gab. Wir betonen stets unsere Gemeinsamkeiten und pflegen eine äußerst konstruktive Zusammenarbeit - mit allen Stakeholdern.

Portrait von Anna Weiß. Sie trägt einen Fahrradhelm. Anna Weiß

Sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, reicht nicht, hast du erwähnt. Wie wollt ihr das Mountainbiken im Kanton weiter gestalten?

Portrait von Darco Cazin. Darco Cazin

Vor 15, 20 Jahren haben wir in Graubünden das Velo mit einem touristischen Ansatz stark in den Vordergrund gerückt. Es ging darum, Wertschöpfung zu schaffen – „Übernachte bei uns, trink ‘ne Schorle, nimm das Postauto...“ Aber was sich in der Zwischenzeit entwickelt hat, das hat nie jemand vorausgeahnt, diese Entwicklung aus dem Inneren unserer Gesellschaft. Im Hinblick auf Megatrends steht das Velo als Kreuzungspunkt zwischen Mobilität, Neo-Ökologie, Urbanisierung und Gesundheit. Wir haben das Glück, weitsichtige Politiker zu haben, die diese Trends aufgreifen wollen. Mit dem Förderprojekt „Graubünden Bike 2023-2026“ haben wir Gestaltungsmöglichkeiten, die größer sind, als die der Generationen vorher. Und es geht nicht mehr nur um den Freizeitverkehr, sondern auch um den Alltagsverkehr, zumal Zweitwohnende und Feriengäste in ihrem privaten und beruflichen Alltag das Fahrrad immer stärker nutzen. Wir wollen unsere Attraktivität als progressive Provinz steigern. In diesem Prozess wollen wir achtsam vorgehen. Weil wir eben aus unserer Geschichte heraus wissen, dass Veränderungen auch immer Ängste und Begehrlichkeiten wecken. Deshalb ist es uns wichtig, von vornherein alle mitzunehmen. Wir sprechen eine offene Einladung aus, die Zukunft des „Home of Trails Graubünden“ mitzugestalten. Und zwar nicht nur an alle Einheimischen, sondern auch an unsere Gäste. Wer sich einbringen will, sein Wissen, seine Kritik oder seine Ideen beisteuern oder von anderen lernen will, ist herzlich eingeladen, an unseren regelmäßig stattfindenden „Open Space Konferenzen“ zu partizipieren. Wir würden uns freuen, dort in den Austausch mit Interessierten auch aus den DAV-Sektionen zu gehen.

Mitdiskutieren

Interessierte Mountainbiker*innen sind eingeladen, an den regelmäßig stattfindenden „Open Space Konferenzen“ teilzunehmen. Auf der Website www.graubuendenbike.org findet sich ein Kalender, in dem alle kommenden Termine ersichtlich sind.

Instagram-Kampagne zu "FairTrail". Quelle: Graubünden Ferien

Wie entwickelt man eine Mountainbike-Region?

Die Ratschläge von Darco Cazin können auch für Aktive in den DAV-Sektionen interessant sein. Folgende Punkte findet er am Wichtigsten:

  1. Echte Partizipation
    Das Netz, das Graubünden intern pflegt, ist der Schlüssel zum Erfolg. Heute nennt man das Partizipation. Echte Partizipation heißt, wirklich zuhören. Echte Partizipation heißt, die anderen wirklich ernst nehmen. Echte Partizipation heißt, wirklich kompromissbereit sein und zu sagen: „Wenn dieser Weg rausfällt, dann ist das auch ok.“ Das ist ein Mindset, für das man sich ganz bewusst entscheiden muss.

  2. Räume eröffnen
    Zur Moderation eines Prozesses gibt es unterschiedlichste Methoden aus dem Design Thinking, z.B. Open Space, OKR (eine Zielmanagement-Methode). Was den wirklichen Unterschied macht, sind Personen, die einen Raum der Begegnung aufmachen und halten können. Es braucht begabte „Community Organizer“, die die unterschiedlichen Interessen miteinander versöhnen können. Und die darauf vertrauen, dass das, was nach dem Prozess hinten rauskommt, bedeutsamer ist als das, was vorher da war.

  3. Expertise und Daten
    Es gibt heute so viel Expertise, auf die man zurückgreifen kann und sie entwickelt sich stetig weiter. Im Vergleich zu vor 20 Jahren wissen wir heute mehr, haben mehr Cases - gute und schlechte - und wir haben viel mehr Möglichkeiten, uns auf Daten zu stützen. Das entpolitisiert ungemein. Damit ist Mountainbiken kein linkes oder grünes Thema mehr, sondern wird zu einem allgemeinen Anliegen. Die Grundlagen sind da, die Beweisführung gilt es zu gestalten. Und es hilft natürlich, erfolgreiche Beispiele darzulegen, sei es durch Beratung, durch Studien oder durch Studienreisen. Dadurch wird das Thema zugänglich.

  4. Don’t forget the basics
    Wenn man lange genug in einem Thema drin ist, hat man irgendwann das Gefühl, man wiederholt sich unendlich. Ich weiß nicht, wie oft ich den Satz „Das Wasser auf diesem Weg muss gut abfließen können“ schon gesagt habe und selbst irgendwann davon genervt war. Bis mich ein paar Sätze eines Marketing-Profis von Hewlett Packard zum Umdenken brachten. „Wenn Sie selber oder Ihr Team eine Botschaft nicht mehr hören und sehen können - dann ist das wahrscheinlich der Moment, in dem Ihre Botschaft in Ihrem Zielpublikum gerade erst ankommt.“ Das war mir eine Lehre, wie wichtig es ist, die Basics immer und immer wieder zu wiederholen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass wir etwas bis zu sieben Mal hören müssen, bevor wir es aufnehmen.

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