Paar beim Bergwandern in den französischen Alpen
Die speziell ausgearbeitete Route führt durch die großartige Landschaft des Queyras, unterwegs lässt sich die mühsame Flucht der Waldenser nur im Ansatz erahnen. Foto: Stefan Neuhauser
Durch die wilden Südalpen

Auf den Spuren der Waldenser

Entlang der damaligen Hauptfluchtroute, auf der die protestantischen Waldenser unter Ludwig XIV. aus Frankreich ins Piemont flohen, entstand in den Cottischen Alpen über die Jahrhunderte eine besondere Kulturlandschaft. Die alpine Mehrtagestour folgt den Spuren einer leidvollen Siedlungsgeschichte.

Wir sind alle Waldenser“, begrüßt mich Alessandro, der Hüttenwirt vom Bivacco Nino Soardi, als ich ihm erzähle, warum wir zu ihm hinaufgestiegen sind und heute bei ihm übernachten. Wir, das ist eine kleine Gruppe aus Südfrankreich: Lenaelle und Kilian, halb „Allgäuer“, halb „Haut Alpins“, Andrea, ein Franzose aus der Provence mit italienischen Vorfahren, Eloise aus dem damals protestantischen Kernland von Navarra und unser Hund Tundra, ein Bordercollie-Mischling aus einem protestantischen Seitental des Massif de l’Oisans. Auf den Spuren der Waldenser wollen wir über einen Pass von Frankreich aus ins Piemont wandern und auf einem anderen Weg wieder zurück in den französischen Queyras. Aus dieser Region sind die Menschen, die ihren Glauben nicht leben durften, im 17. Jahrhundert geflüchtet; auf der Rundtour wollen wir einen Eindruck von den alpinen Fluchtrouten der Mitglieder dieser Glaubensbewegung bekommen.

Allgäu, Provence, Navarra und der Hund aus dem Massif de l’Oisans: bunt gemischte Wandergruppe auf den Spuren der Waldenser. Foto: Stefan Neuhauser

Zurück zu Alessandro, der eigentlich meinte: „Wir in den Talgemeinschaften zwischen Susa und Valvaraita sind Waldenser und viele sind miteinander verwandt“. Mir entging jedoch der Doppelsinn seiner Worte nicht. Die Waldenser sind als vertriebene Religionsgemeinschaft über Europa und die Welt versprengt, weil ihr Glaube damals in Frankreich politisch nicht erwünscht war, sie stehen beispielhaft für Menschen, die aus religiösen Gründen fliehen. Die Waldenser lebten verborgen in den Südalpentälern, in der Freiheit der einsamen Täler praktizierten sie ihre Religion und Spiritualität, bis unter Ludwig XIV. eine Verfolgungswelle einsetzte. Viele Familien flüchteten über die Alpen in die Schweiz und weiter nach Deutschland.

Wer nicht konvertierte, verlor sein Eigentum und seine staatsbürgerlichen Rechte.

Unser Startort Valpréveyre auf 1860 Meter Höhe liegt in einem Seitental im französischen Queyras. Der Ort war früher ganzjährig bewohnt, heute ist er fast ausgestorben. Nur im Sommer wird er überwiegend von Feriengästen besetzt, die sich in der Hochsaison vier Wochen ihr Stelldichein beim nahe gelegenen Waldcamping geben. Im Winter wohnt niemand mehr dort, dafür enden hier einige Freeride-Abfahrten vom nahe gelegenen Skigebiet Abriès. Als Ludwig XIV. den Katholizismus als Staatsreligion ausgerufen hatte, wurden die Menschen aus den französischen Südalpentälern, dem Queyras und den Seitentälern des Massif de l’Oisans dazu gedrängt, ihren protestantischen Glauben zu widerrufen. Wer nicht konvertierte, verlor sein Eigentum und seine staatsbürgerlichen Rechte. Oft fügte sich ein Teil der Familie, um Hab und Gut zu schützen, und der Rest begab sich auf die Flucht. Den eigenen Glauben zu leben oder das Land zu verlassen, war unter Strafe verboten, wer auf der Flucht entdeckt wurde, musste mit Galeerenaufenthalt oder sogar mit der Todesstrafe rechnen.

Es gab damals drei Flüchtlingsrouten aus Südfrankreich, die sich in Genf vereinten und durch die Schweiz weiter nach Deutschland führten. Eine Route ging über Torre Pellice im Piemont, der „geistigen Hauptstadt“ der Waldenserbewegung und heute wie damals das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum des Val Pellice. Der Col du Bouchet, wo das Bivacco Nino Soardi liegt, ist einer der Übergänge vom Queyras ins Val Pellice. Im Tal gibt es viele intakte protestantische Kirchen, Museen und das „Centre Culturel de Vaudois“, das 1989 gegründet wurde, um die Kultur und die Geschichte der Waldenser einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Schlüsselstelle am Bric Bouchet

Um einen Überblick über den italienisch-französischen Grenzkamm und die geografische Lage zwischen Queyras und Piemont zu bekommen, steigen wir abends noch vom Bivacco auf den Bric Bouchet. Über die Südflanke führt ein steiler Pfad, der in einigen Bereichen mit Ketten gesichert ist, über leichte, aber stellenweise sehr ausgesetzte Kletterstellen. Die Weitsicht ist wunderbar, zwei Marksteine der Südalpen stechen hervor: im Nordwesten die Barre des Écrins, der südlichste Viertausender der Alpen, und im Süden der Monte Viso, der knapp unter der Viertausendermarke bleibt. Ganz im Osten sind die Gletscher des Monte Rosa zu erkennen.

Der Blick schweift über die unter uns liegende Poebene. Wir sehen aus der Vogelperspektive auf die Bergpfade, auf denen die Waldenser ihre Heimat verlassen haben. Ein spezielles Gefühl, wenn auf der Bergtour ein Kapitel Geschichte mitschwingt. Berggehen bedeutet heutzutage Flucht aus dem Alltag, um ein bisschen Freiheit in der Natur zu genießen. Berggehen bedeutete für die Menschen damals, Flucht in die Freiheit mit einer ungewissen Zukunft. Was ihnen fehlte: die Freiwilligkeit.

Mögliche Routenverläufe der Geflüchteten

Wenn die Wegverläufe, die sich durch die Bergflanken schlängeln, ihre Geschichten erzählen könnten, dann würden wir wahrscheinlich noch in einer Woche hier oben sitzen und mit Spannung zuhören. Irgendwann heißt es dann doch absteigen und bald sind wir wieder bei Alessandro im Bivacco. Der Raum ist knapp bemessen. Heute Abend sind wir die einzigen Gäste und speisen königlich im Lager, wo er uns eine Ecke zum Essen hergerichtet hat.

Die offizielle Website surlespasdeshuguenots.eu und die Geschichte des Ortes Abriès im Queyras widersprechen sich bei den Verläufen zu den Fluchtrouten der Waldenser und Hugenotten, somit sind wir bei unserer weiteren Tourenplanung verunsichert. Die offizielle Version des europäischen Projekts „Les Chemins des Hugenots“ führt über den Col Laroix von Ristolas ins Val Pellice. Ich habe das Gefühl, dass Papier geduldig ist, und wenn man das Gelände und die vielen Möglichkeiten betrachtet, wird klar, dass viele Pässe als Übergänge vom Queyras ins Piemont benutzt wurden und es nicht nur „den einen“ gab. Allein schon, um den Häschern und Spitzeln des Sonnenkönigs zu entkommen, war es nur logisch, die Vielfalt des Geländes zu nutzen. Warum auch sonst wurden die Menschen auf der Flucht meist nachts über die Pässe geführt? In Kleingruppen verteilt in diesem doch sehr weitläufigen Hochgebirgsterrain über mehrere Pässe zu fliehen und sich dann in der Poebene wieder zu sammeln, war eine sehr wahrscheinliche Taktik. Wir brüten über der Landkarte und überlegen uns einen Weg, der vom Routenverlauf günstig und landschaftlich vielversprechend aussieht. Sinnvoll ist eigentlich nur eine Rundtour, andernfalls stünde eine lange Rückreise mit Taxi, Bus und Zug aus dem Piemont zum Ausgangsort Abriès bevor. Am Ende entscheiden wir uns, über den Col de Valpréveyre auf der Westseite des Bric Bouchet hinüber zum Rifugio Lago Verde zu wandern.

Was für alpinistischen Fähigkeiten die Geflüchteten besessen haben mussten, um dort sicher hinunterzukommen.

Erstaunt stehen wir am Übergang und schauen auf die ersten steilen Höhenmeter des Abstiegs. Der Pass ist über 2700 Meter hoch. Was für alpinistischen Fähigkeiten die Geflüchteten besessen haben mussten, um dort sicher hinunterzukommen. Nach ein paar Metern jedoch löst sich das steile Gelände auf und wird angenehmer zu laufen. Vom Rifugio Lago Verde führt ein Höhenweg über mehrere kleine Pässe mit Auf- und Abstiegen zu den dreizehn Seen oberhalb von Prali. Die Wege dienten den Militärs verschiedener Epochen als Transportwege mit ihren Maultieren. Sie führen somit nicht allzu steil durch das doch manchmal wilde Gelände, in dem sie gekonnt angelegt die Formen der Hänge ausnutzen. Hinter uns sehen wir immer wieder den spitzen Gipfel des Bric Bouchet, den wir am Vortag bestiegen haben. Als wir unseren Biwakplatz erreichen, sind wir vollkommen allein. Morgens kommen zwar in den Ferien einige Menschen mit dem Lift von Prali hinauf. Nachmittags, wenn der Sessellift stillsteht, hat man seine Ruhe an diesem geschichtsträchtigen Ort.

1689 finanzierte Wilhelm III. von Oranien und außerdem König von England eine Expedition der expatriierten Waldenser ins Piemont. Tausend Waldenser, angeführt von Pastor Henri Arnaud, verließen das Ufer des Genfer Sees, besiegten die französischen Truppen und kehrten nach zwölf Tagen Wanderung in die Alpentäler des westlichen Piemont zurück. Diese Episode ist unter dem Namen „Glorieuse Rentrée“ (glorreiche Rückkehr) bekannt. In Gewaltmärschen über eine wenig begangene Route kamen die Waldenser in Prali im Val Germanasca an, wo sie am 8. September 1689 ihren ersten, von Henri Arnaud geleiteten Gottesdienst feierten.

Wissenswertes zu den Waldensern

Waldenser oder auch Hugenotten sind Menschen protestantischer Religion. Die Namensgebung ist vor allem regionalen Ursprungs, aber nicht wirklich logisch und einfach zu trennen. In Frankreich spricht man eher von Hugenotten, in Italien von Waldensern. In den Seitentälern des Durancetals wird der Begriff Vaudois (Waldenser) verwendet und auch der Schweizer Kanton Vaud (Waadt) erhielt seinen Namen von den Waldensern.

Die Waldenser gehen auf den Wanderprediger Valdesius (12. Jh.) zurück. Obwohl sie als Ketzer verfolgt wurden, überlebten sie in den Cottischen Alpen bis in die Neuzeit. 1532 schlossen sie sich der Reformation an, ab 1555 wurden sie „Calvinisten“. 1685 widerrief Ludwig XIV. das Edikt von Nantes, welches Protestanten und Katholiken in Frankreich gleichstellte, durch sein Edikt von Fontainebleau und beraubte damit die protestantische Bevölkerung aller religiösen und bürgerlichen Rechte. Die Waldenser aus dem Queyras flohen daraufhin ins Piemont, 1698 wurden sie auf politischen Druck von Ludwig XIV. auch von dort vertrieben.

Die piemontesischen Waldenser wurden 1686 vom Herzog von Savoyen mit französischer Hilfe unterworfen, wer nicht katholisch wurde, musste das Piemont verlassen. 1689 war die so genannte „glorreiche Rückkehr“ der Waldenser der Auftakt eines heftigen Guerillakrieges in den Bergtälern.

Mehr Infos: hugenotten-waldenserpfad.eu, waldenser.de

Die letzte Etappe der „Glorieuse rentrée” führt über die „13 Laghi“ ins Val Pellice. Die verfallenen Gebäude, durch die der Wind pfeift und die nicht einmal Schutz vor Regen und Schnee bieten, stammen allerdings aus einer anderen Zeit. Am Lago la Draja sehen wir alte Militäranlagen, die wichtigsten unter ihnen sind die Perrucchetti-Hütten (Ricoveri Perrucchetti). Sie wurden zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet und einem der Gründer des Alpini-Korps gewidmet. Das größte Gebäude mit über achthundert Quadratmetern war ein Krankenhaus mit Platz für 250 Mann. Im Zweiten Weltkrieg griffen von dort aus Mussolinis Truppen den Queyras an. Wir suchen uns einen windgeschützten Platz für das Biwak, springen in einen der Seen und kochen „Genepy“-Tee, eine Wermutvariante, die in den Südalpen gern als Schnaps getrunken wird.

Im Morgenlicht laufen wir zum Sessellift, der uns nach Prali bringt. Dort freuen wir uns auf ein zweites Frühstück mit Cappuccino und Dolci. Leider sind wir zu früh dran, um das Waldensermuseum zu besuchen. Wir kaufen Lebensmittel und machen uns auf den Rückweg, um wieder auf die französische Seite zu gelangen. Jetzt im August hat der Tourismus Hochsaison und es tut gut, diese Menschenansammlung wieder zu verlassen. Von Prali steigen wir am wunderschönen Oberlauf der Germanasca hinauf auf die kleine Hochebene mit Bergsee, die „Bout du Col“ genannt wird – „am Ende des Passes“. Dieses wunderschöne Fleckchen Erde lädt zum Verweilen ein, wir steigen jedoch weiter in Richtung Rifugio Lago Verde ab.

Über den Col d’Abriès geht es am nächsten Tag über weite Alpwiesen und Lärchenwälder bergab zur Chapelle Notre-Dame de Neige. Die Kapelle ist ein Beispiel für die vielen kleinen Gebäude, die in den Südalpentälern als Kultplätze dienen. Anscheinend ist sie erst im Jahr 1691, also kurz nach der Vertreibung der Waldenser im Queyras, erbaut worden. Eine schöne Idee, die Kapelle der „Heiligen Mutter des Schnees“ zu widmen, im Zeitalter der globalen Erwärmung brauchen wir sie ganz besonders … Eine halbe Stunde später erreichen wir Roux d’Abriès, von dort ist es nur ein Katzensprung zurück zu unserem Ausgangspunkt.

Wer Europa und die Welt nur nach den Grenzen der Nationalstaaten verstehen und einteilen will, der sollte sich einmal auf ein Wegstück des „Europäischen Waldenser- und Hugenottenweges“ begeben. In Baden-Württemberg, Hessen, Franken und Böhmen leben Nachkommen der protestantischen Waldenser aus den französischen und italienischen Südalpen, die mit dem Blick auf den Südalpenkönig Monte Viso groß geworden sind und die Erinnerung an diesen schönen Berg nach Deutschland und weiter in die Welt nach Südamerika und Südafrika getragen haben. Dort leben bis heute einige Waldensergemeinschaften. Somit schließt sich der Kreis zu den Worten von Hüttenwirt Alessandro: „Wir sind alle Waldenser ... und irgendwie auch miteinander verwandt!“

Themen dieses Artikels