Auf den ersten Blick sehen Menschen mit echten Ausdauersportambitionen, seien wir ehrlich, selten besonders fröhlich aus: Ihre hagere Statur verleiht ihnen unmittelbar etwas Asketisches, Ernstes, sie scheinen nicht recht im Moment zu leben, sondern auf der innerlichen Langstrecke. Bei Philipp Reiter ist Askese offensichtlich kein Thema. Dafür lacht er einfach zu viel. Aber es gibt ja auch noch andere Aspekte, die für Ausdauersport charakteristisch sind: hohe und permanente Intensität zum Beispiel. Und damit wird man dem 1991 in München geborenen Energiebündel Philipp besser gerecht. Wenn er erzählt, sprudelt es nur so aus ihm heraus, meist voller Begeisterung. Fällt das Uralt-Argument, Berglauf sei ja nur ein Ausdruck unserer hektischen Zeit, man müsse langsam unterwegs sein, um die Berge zu genießen und zu spüren, platzt es sofort aus ihm heraus: „Wenn du ein Rennen läufst, willst du gewinnen, das ist der Fokus. An all den Tagen, an denen du trainierst, ist es andersrum, du nimmst alles viel intensiver wahr, du musst dich ja viel mehr konzentrieren, wenn du einen ganz schmalen Steig eben läufst und nicht gehst. Und du spürst den Wind oder die Sonne ja nicht weniger, nur weil du schneller unterwegs bist.“
Vom Kletterer zur Ausdauerkanone
Anfangs liegt sein Fokus noch woanders, nämlich auf dem Klettern. Als Philipp 13 ist, beginnt mit seinem Schulfreund Martin Schidlowski ein Wettstreit, wer häufiger in die DAV-Boulderhalle in Piding geht. Heraus kommt ein Sieg für beide, sie werden beste Freunde, sind es noch heute. Als Philipp 15 ist, steigt die erste große gemeinsame Aktion: an einem Tag dreimal nacheinander auf den Watzmann. Es ist eine von Philipps Lieblingsgeschichten, jedes Mal wenn er sie erzählt, lacht er von Neuem, weil er sich immer noch darüber freuen kann: Mit welch kindlichem Feuereifer sie das vorbereitet haben und wie Martin hinterher in der Pizzeria eingeschlafen ist – mit dem Gesicht in der Pizza. Auch wenn er von späteren Erfolgen bei Welt- und Europameisterschaften erzählt, geht es ganz oft um die Geschichten links und rechts des eigentlichen Wettkampfs, darum, wie irre gut er mal war, geht es eigentlich nie.
Noch vor dem jugendlichen Watzmann-Triple mit Martin startet er bei seinem ersten Wettkampf im Skibergsteigen, dem Götschenfuchs in Bischofswiesen. Bis dahin hatte er noch jeden Tag stundenlang Computerspiele gezockt, jetzt unterstützen die Eltern ihn beim Training für sein erstes Rennen, auf das er sich plötzlich wie besessen vorbereitet. Er erreicht Platz zwei, man holt ihn zum Nachwuchs der DAV-Nationalmannschaft, den „Cadets“. Wo er den Berchtesgadener Toni Palzer kennenlernt. Um die Wintersaison gleich möglichst stark zu beginnen, legen sie im Sommer mit Bergläufen los. Und weil das mit dem Laufen gleich auch noch prächtig läuft, ist Philipp bald in einer dritten Disziplin am Start, eben dem Berglauf. „Trainingspläne oder überhaupt irgendein System gab es nicht“, erinnert er sich, „das war ja das Großartige, alles war völlig neu, also einfach aus dem Bauch raus.“
Wenn ein enthusiastischer Mensch wie er formuliert „aus dem Bauch raus“, ist das natürlich nur eine vorsichtige Umschreibung für: immer Volldampf. Wie schon bei den Computerspielen … und in der Boulderhalle. Für seine Finger geht das Immer-Volldampf-Prinzip suboptimal aus, sie halten der ständigen Be- und Überlastung nicht mehr stand. Er kommt zwar ohne ernsthafte Schäden davon, aber im neunten Grad ist Schluss. Doch mit Skibergsteigen und Berglauf hat Philipp ja noch zwei weitere Eisen im Feuer. Mit sechzehn die erste WM-Teilnahme beim Skibergsteigen: Eine Woche schulfrei und ein Direktor, der ihm so euphorisch viel Erfolg wünscht, dass Philipp sich heute noch darüber freuen kann. 2012 ist er der jüngste Teilnehmer beim Transalpine Run: 15.000 Höhenmeter und 350 Kilometer – acht Marathons in acht Tagen mit jeweils knapp zweitausend Höhenmetern (!). Gestartet wird als Zweierteam, gemeinsam mit dem Basken Iker Karrera siegt Philipp. Er gilt als das Wunderkind der Szene, hat er doch im Vorjahr ebenfalls als jüngster Teilnehmer den Zugspitz-Ultratrail gewonnen: 5000 Höhenmeter und über 100 Kilometer Strecke.
2013/14 wirft ihn eine chronische Sehnenentzündung im rechten Fuß aus der Bahn. Das für große Wettkämpfe notwendige Trainingspensum, vor allem in der Flachstrecke, ist damit nicht zu machen und er völlig verzweifelt: „Das war das, was ich am besten konnte, was mich einfach ausgemacht hat. Ich bin von einem Arzt zum anderen gerannt, habe alles ausprobiert, es hat einfach nichts geholfen.“ Eine Strahlentherapie, wie sie auch eingesetzt wird, um Krebszellen zu zerstören, gilt als allerletzte Hoffnung. Sie wird sein Leben verändern, allerdings anders als gedacht. „Als ich da hinging, kamen mir drei Leute entgegen: Zwei haben den in der Mitte gestützt, der hatte keine Haare mehr und war kasweiß, ein ‚normaler‘ Krebspatient eben. Da wurde mir klar, wenn bei dem die Behandlung nicht anschlägt, dann stirbt er. Und bei mir war es nur diese kleine Sache am Fuß, ich konnte ja alles noch machen, nur nicht mehr laufen im gewohnten Ausmaß. In dem Moment konnte ich das wirklich gut annehmen und bin extrem dankbar für alles, was halt noch geht.“
Top-Trailrunner vor und hinter der Kamera
„Was halt noch geht“, das klingt schon beinahe altersmilde, dabei meint Philipp Aktionen wie den Rekord an der Watzmann-Ostwand. Den holt er sich 2015 gemeinsam mit Martin Schidlowski, sie bleiben knapp über zwei Stunden. Dass er da noch mal angreift, ist irgendwie logisch: 2018 sind es eine Stunde und 53 Minuten für die 1800 Höhenmeter mit zahlreichen Kletterpassagen im zweiten und dritten Grad. Dies ist alles andere als eine Laufstrecke, sondern alpines Terrain für Ausnahmekönner wie Philipp.
Auf eine Karriere als Laufprofi kann er trotzdem nicht mehr setzen, dafür organisiert und vermarktet er internationale Berg- und Trailrun-Events, bei denen er auch selbst fotografiert und dreht. Die Vermarktung läuft im Wesentlichen über Social Media, als @philippreiter007 hat er auf Instagram 112.000 Follower, er ist einer der bekanntesten Trailrunner Deutschlands. Daneben ist Philipp Teil eines waschechten Familienunternehmens, mit seinem Bruder und seinen Eltern produziert und vertreibt er die ebenso nachhaltige wie farbenfrohe Textilmarke JUA.
Sein alter Spezl Toni Palzer avanciert derweil zu Deutschlands erfolgreichstem Skibergsteiger, wird Europa- und Vizeweltmeister. Und als der 2020 aufbricht, um die Schallmauer von drei Stunden für die Watzmannüberschreitung zu knacken, ist es Philipp, der an den ausgesetztesten und gefährlichsten Passagen mit der Kamera hinterherrennt. 2021 fährt er mit dem Rad in drei Tagen von Reichenhall nach Grindelwald, um die Eiger-Nordwand zu machen. Gemeinsam mit seinem Schulfreund Martin, der ist nicht nur Bergführer, sondern kennt die Wand von einer Winterbegehung. Die Bergausrüstung nehmen sie auf dem Fahrrad mit, das ganze Projekt ist ein Ausdauerhammer mit der Eigerwand on top. Weil der Eiger in Folge der Erwärmung im Sommer fast nicht mehr zu machen ist, starten sie im April. Bei der Ankunft sind Wetter und Verhältnisse zu schlecht, ein Jahr später kehren sie zurück. Diesmal sind Wetter und Verhältnisse perfekt – was sich über Social Media wie ein Lauffeuer verbreitet und zu einem solchen Ansturm auf die Wand führt, dass sie umkehren müssen: Es sind einfach zu viele Menschen am Start.
Die Eiger-Nordwand könnte noch länger ein unerfüllter Traum bleiben, auch weil Martin erst einmal zu viel Lust auf Sportklettern hat und Philipp diese Freundschaft zu viel bedeutet, um da jetzt einfach mit jemand anderem einzusteigen. Vor einiger Zeit hat er den Job gewechselt, arbeitet weiter im Marketing, nun für einen anderen Hersteller. Das, was er im Grunde die ganze Zeit schon macht, studiert er jetzt nebenbei: Internationales Management. Er hat, so sagt er, seine Leidenschaft zum Beruf gemacht, und falls das eines Tages nicht mehr zusammenpasst, dann will er bereit sein, das notfalls wieder zu trennen. Sich dann neu aufzustellen, auch das wird ihm vermutlich gut gelingen – Ausdauer hat er jedenfalls genug!