Zwei Skitourengeher im Aufstieg
Frühlingshafter Aufstieg zum linken, namenlosen Nebengipfel des Monte Lastroni – mit den Gipfeln der Pesariner Dolomiten als prächtiger Hintergrundkulisse. Foto: Axel Hallbauer
Skitouren in Sappada

Gipfelfreuden rund um die Sprachinsel

In Sappada, auf der italienischen Südseite des Karnischen Hauptkamms, ist es sogar auf der Piste einsam. Erst recht auf Skitour. Und dabei so schön wie in den Dolomiten. Die Touren-Locals sind am Berg so schnell wie in der Langlaufloipe, sprechen neben Italienisch das räto-friaulische Carnico oder Plodarisch und schätzen auch am Gipfel einen guten Pinot Grigio.

Wo wir auch sind in den vier Tagen: Der Sturm war schon vor uns da. Und vor dem Sturm unser Guide und Spurenleser Riccardo del Fabbro. Wann immer wir mit den Stöcken auf eine vom Wind freigeblasene, besonders schöne Aufstiegs- oder Abfahrtsspur deuten – Riccardo weiß, von wann sie stammt. Meist auch von wem: von ihm selbst nämlich oder einem guten Freund. Die steile Zickzackspur auf den Kamm südlich des Monte Floriz, die wir im Aufstieg zum Rifugio Marinelli bewundern? Das war Riccardo, vor ein paar Wochen, damals noch im Traumpulver, der in diesem turbulenten Winter immer nur bis zum nächsten Sturm hält. Und die Wolfsspur am Kamm zwischen Öfner Joch und Monte Oregone? Die ist von Anfang Januar.

Riccardo ist nicht nur als Bergführer, sondern auch als Mitarbeiter des Lawinenwarndienstes der Region „Friuli Venezia Giulia“ im Winter beinahe täglich auf Tourenski in den Karnischen Alpen unterwegs. Kaum jemand kennt die Berge und die Verhältnisse zwischen Plöckenpass im Osten und Kreuzbergpass im Westen, zwischen Lesachtal im Norden und dem Val Pesarina im Süden so gut wie er.

Hochburg für Langlauf und Biathlon

Für unsere erste Tour treffen wir Riccardo am Kirchplatz von Forni Avoltri, seinem Heimatort. Mit dem Auto geht es weiter durch Collina bis zum Rifugio Tolazzi auf 1350 Meter Höhe. Unser Ziel: südseitig exponierte Hänge in der Nähe des Rifugio Marinelli (2120 m). Mit seinen Langlaufstöcken gibt Riccardo auf dem vereisten Forstweg ein beachtliches Tempo vor. Was wenig verwundert, schließlich sind Forni Avoltri und Sappada Hochburgen des Langlaufs und des Biathlons.

Unterhalb der Forcella Morarêt gleicht der verspurte Hang einer vereisten „Heatmap“ des Skitourengehens – doch die Sonne wärmt bereits die eine Hälfte des Hangs. Und dann, ein paar steile Minuten später, oben auf der Scharte, plötzlich einer der schönsten Blicke, den die Karnischen Alpen zu bieten haben. Zu unseren Füßen das Rifugio Marinelli mit seinen blau-weißen Fensterläden und dahinter die riesigen Felswände der Kellerspitzen und der Hohen Warte (2780 m), dem höchsten Berg in den Karnischen. Colians nennt Riccardo ihn auf Carnico, dem rätoromanischen Friaulisch (Furlan) seines Heimatorts. Wir machen Pause auf der Terrasse der im Winter geschlossenen Hütte und Riccardo schwärmt von den Kletterrouten in den Südwänden, auf die wir staunend blicken. Als ich zwei an die Hüttenwand genagelte Ski in Augenschein nehme – einer davon exakt mein Modell –, erzählt Riccardo, dass einer der beiden einem Freund gehört hat, der damit in einer Lawine ums Leben kam.

Ein paar steile Minuten später, oben auf der Scharte, plötzlich einer der schönsten Blicke, den die Karnischen Alpen zu bieten haben.

Ein paar Minuten später geht es über einen breiten, nach oben hin schmal zulaufenden und nach Nordosten steil abfallenden Rücken auf den Pic Chiadin (2302 m). Wind und Sonne haben ein paar grasige Flecken hinterlassen. Dort, wo Schnee liegt, hat das Auffirnen schon begonnen. Am Gipfel, der den Namen Pic/Spitz wahrlich verdient, ist es angenehm sonnig, mehr April als Februar. Riccardo deutet auf alle Skirouten und Gebirgsgruppen, die sich von hier aus einsehen oder zumindest erahnen lassen. Tage und Wochen, ja ein ganzes Skitourenleben könnte man hier verbringen!

In der Abfahrt muss man sich bis zum Rifugio Marinelli die Schneeflecken auf dem Kamm slalomartig zusammenpuzzeln. Und Abstand halten zu den Nordabstürzen. Dann wechselt sich guter Firn mit Sulz ab und – in schattigen Mulden – Pulver mit plötzlichem Bruchharsch. „Bella Figura“ macht jeder nur für ein paar Schwünge.

Breiter Rücken auf den Pic Chiadin. Foto: Markus Stadler

Zur zweiten Tour treffen wir Riccardo in Pierabech, unweit der Abfüllanlage des Mineralwassers, das wir noch am Vorabend im Hotel zu unserer Pasta getrunken haben. Riccardo ist mit dem gelb-roten Allrad-Bus der Bergrettung von Forni Avoltri angerückt, damit wir den Zustieg bis zum Schnee ein wenig abkürzen können. Doch der Sturm hat einen Strich durch Riccardos Rechnung gemacht – kaum sind wir zweihundert Meter hochgeholpert, versperrt plötzlich ein umgestürzter Baum den Weg. Also geht es zu Fuß weiter ins Fleonstal, bis wir auf Höhe der Quellfassung und einer Madonnen-Statue auf die Ski wechseln können. Anfangs noch schattig, dann zunehmend sonnig geht es das Tal entlang, durch Lärchenwälder, die ihr altes Geäst im Sturm abgeworfen haben, vorbei an den Malghe – den Almen – im Winterschlaf und imposanten Kletterwänden.

Schnee über den Spuren des Ersten Weltkriegs

Dann beginnt der Aufstieg hinauf Richtung Öfner Joch, einem alten Übergang zwischen Lesachtal und Forni Avoltri, auf Deutsch Öfen. Riccardo erzählt, dass er auf diesem Weg oft einen Freund und Bergwanderführer im Lesachtal besucht. Zwei Stunden nach Sankt Lorenzen und zwei Stunden zurück brauche er auf Ski. Und ebenso oft komme der Freund aus Kärnten auf Ski zum Gegenbesuch. Dort, wo Riccardo sonst Richtung Hochweißsteinhaus (ÖAV), Frohntal und Lesachtal abbiegt, folgen wir dem Kamm nach links. Unser Ziel: der Monte Oregone (2384 m), auf Deutsch Hochalpl. Parallel zu den Spuren eines einsamen Wolfs, die sich in einem Labyrinth aus Windgangeln verlieren, geht es weiter – zuerst auf Ski, dann am Ende stapfend zu Fuß. Wo im Sommer bis heute die Überreste von Stellungen und Schützengräben der italienischen und österreichischen Gebirgstruppen den Kamm zerfurchen, überdeckt tiefer, vom Wind gefräster Schnee die Spuren des Ersten Weltkriegs. Als ich oben ankomme, hat Riccardo schon eine Überraschung ausgepackt: eine Flasche Pinot Grigio, die er im Schnee kühlt. Dazu Salami aus Forni, von seinem Neffen, einem Metzger. Die Aussicht am Hochalpl ist grandios. Im Westen ragt weiß und felsig der Monte Peralba (Hochweißstein, 2694 m) auf. Im Norden die Raudenspitze, im Süden das Massiv des Monte Avanza, wo schon im Frühmittelalter die Bergleute aus Forni Avoltri Silber und Kupfer gewonnen haben. Die Abfahrt nach Südost und Ost wartet mit Firn auf – je nach Exposition genau richtig, zum Teil aber auch schon tief. Und der Erkenntnis, dass ein Schluck Weißwein zwar sehr gut schmeckt, aber nicht unbedingt das ideale Skitourengetränk ist.

Am Nachmittag streifen wir durch Sappada. In der „Bottega di Sappada“ kaufen wir Käse und Speck aus lokaler Produktion. Und weil in Sappada, der Sprachinsel mit dem alten Namen Plodn, immer noch viele Familien neben Italienisch den alten Dialekt „Plodarisch“ sprechen, entwickelt sich zwischen der Verkäuferin hinter der Theke und meinem bayerischen Tourenpartner Markus folgender Dialog: „Das hier heißt bei uns Gselchtes.“ „Bei uns auch.“ Auch bei Gianni Kratter – Eisdielenbetreiber, Mitautor des von uns genutzten Skitourenführers und auf Facebook und Instagram als „Superimonti“ ein fleißiger Touren-Poster – schauen wir auf Cappuccino und Strudel vorbei. Und mit einer freundlichen Widmung im Skitourenbuch geht es zurück ins Hotel: „Mein Herz ist in Plodn. Spero anche un po’ del tuo. Gianni.“

Trinkpause unterhalb des Monte Lastroni. Foto: Markus Stadler

Mit Riccardo brechen wir am nächsten Morgen in Cima, dem ältesten Ortsteil von Sappada, auf. Flach und kalt führt der Weg entlang der jungen Piave ins Tal hinein. In der „Baita Rododendro“ lassen wir uns vom Cappuccino wärmen, bevor es auf einem steilen, versteckten Pfad in das Tal des Rio della Miniera hinaufgeht. Im Schatten ist es kalt, in der Sonne bald frühlingshaft warm. Unsere Felle beginnen im ständigen Wechsel zwischen Schatten und Licht zu stollen; wir kratzen sie ab und tragen Wachs auf. Als es nach der Malga Olbe in den steilen Südhang geht, herrscht Frühling. Durch ein Felsenfenster – der Rest einer italienischen Stellung – werfen wir einen Blick auf den Monte Peralba und das Rifugio Pier Fortunato Calvi. Bewirtschaftet wird es im Sommer von Riccardos Frau, er selbst arbeitet dort jeden August an der Theke oder führt Gäste durch Klettersteige und Kletterrouten.

Weil der Monte Lastroni (2450 m) stark abgeblasen aussieht, steuern wir einen namenlosen Nebengipfel an. Der Blick von oben reicht nach Norden bis zum Alpenhauptkamm, nach Süden über das kleine Skigebiet von Sappada in die Pesariner Dolomiten: Creta Forata, Monte Siera, Terza Grande … Die Abfahrt im steilen Südhang ist unangenehm sumpfig. Wir sind froh, als wir die Piste Richtung Sappada erreichen: menschenleer, obwohl die Lifte laufen, und bis ins Tal allerfeinster Firn. Unten steuern wir durstig die Latteria an: Riccardo bestellt Bier, das in großen Glaskannen serviert wird. Und dazu verschlingen wir zum Abschied einen kulinarischen Nebengipfel des Monte Lastroni aus Käse und Speck.

Themen dieses Artikels