Ein Griff bricht aus, die einzige Zwischensicherung, und dann muss auch noch der Stand daran glauben: beide Seilpartner im freien Fall! Das Seil verhängt sich an einem Pfeilerkopf – und die beiden überleben schwer verletzt“. So beginnt die Beschreibung der Laliderer-Nordwand („Schmid/Krebs“), Tour #43 in Walter Pauses Kletterbibel „Im extremen Fels“. Das Kultbuch wurde 2023 von Christoph Klein und Jürgen Winkler im Panico Verlag überarbeitet wieder herausgegeben. Sätze, die nicht gerade wie eine Einladung zu einem großartigen alpinen Erlebnis klingen, sondern eher wie ein Gefahrenhinweis oder eine Warnung, der Route fernzubleiben. Doch was den einen den kalten Schweiß in den Nacken treibt, ist für die anderen das reinste Abenteuer: lange Zu- und Abstiege, brüchiger Fels und dazu noch spärliche alpine Absicherung mit Schlaghaken in homöopathischer Dosis. Wer Touren aus diesem Führer plant, ist auf der Suche nach ästhetischen und logischen Linien, nach Touren mit Charakter, deren Anspruch sich nicht allein mit der blanken Zahl der Kletterschwierigkeit beschreiben lässt, sondern sich in den Anforderungen alpiner Routen offenbart. Routen, in denen man selbst noch Haken schlagen kann oder muss, sofern es der Fels überhaupt hergibt.
Vierzig Touren in neun Monaten
Sepp Gwiggner war der erste Mensch, dem es gelang, alle Touren zu durchsteigen. Begonnen hatte er damit im Jahr 1970, im Erscheinungsjahr der Erstausgabe, und genau 36 Jahre später gelang ihm seine 105. Pause-Tour. Bis heute gibt es nur eine Handvoll Menschen, die alle Touren durchstiegen haben, bisher ausschließlich Männer. Noch! Denn Alba Lucia Neder arbeitet eifrig daran, die Liste abzuhaken. Der exakt zwanzig Jahre nach der Erstauflage des Buches geborenen Frankfurter Alpinistin gelangen 2023 innerhalb von nur neun Monaten vierzig Touren. Das ursprüngliche Ziel ihres „Pause-Projekts“, alle Touren des Buches binnen zwölf Monaten zu klettern, konnte sie zwar nicht erreichen, dennoch ist sie der Vervollständigung einen entscheidenden Schritt nähergekommen.
Zum Bergsport kam Alba schon während ihrer Kindheit, bereits im Alter von fünf Jahren ging sie erstmals mit ihren Eltern klettern. Als sie neun war, zogen sie für drei Jahre in die Berge Boliviens. In der auf 3600 Metern Höhe gelegenen Schule lernte sie Spanisch, später kamen noch Italienisch, Französisch und Englisch dazu. Zurück in Deutschland war sie dann in der DAV-Jugend aktiv und mit 26 rockte sie ihre erste 8a („Annapurna“, Băile Herculane, Rumänien). Doch nicht nur in ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit den Inhalten von Kletter- und Bergsteigerliteratur, als freie Übersetzerin und Lektorin arbeitet sie für verschiedene Bergsportverlage.
Hundert Touren in 365 Tagen – das sind im Schnitt alle drei bis vier Tage eine Tour, Winter- und Schlechtwettertage sowie An- und Abreisetage eingerechnet. Neben den passenden Tourenbedingungen ist bei solchen Aktionen die Qualität der Seilschaft entscheidend. Die richtige Person dafür zu finden und sich immer wieder auf andere Menschen einzustellen, wird im Verlauf des Projekts für Alba immer mehr zu einer organisatorischen und mentalen Herausforderung. Dazu kommen nur kurze Erholungspausen zwischen den Touren und die zurückzulegenden Distanzen von Ausgangspunkt zu Ausgangspunkt. Zwischen der Ailefroide Occidentale in der Dauphiné in Südfrankreich und der Schartenspitze in der Hochschwabgruppe in der Steiermark auf der anderen Seite des Alpenbogens liegen immerhin gut tausend Kilometer. Bei dreizehn Versuchen muss Alba, meist wegen schlechter Bedingungen, vorzeitig umkehren.
Alba Lucia Neder - Higlights
1995: Alba beginnt mit fünf Jahren zu klettern.
2016: Erste 7b und 8a; Begehungen erster ernsthafter alpiner Mehrseillängenrouten.
2023: 40 Pause-Touren, darunter Fleischbank Südostverschneidung, Ostwand (Dülfer)
und Totenkirchl Westwand (Dülfer) im Wilden Kaiser; Hoher Göll „Kleiner Trichter“
in den Berchtesgadener Alpen, Himmelhorn Rädlergrat im Allgäu, Große Zinne Nordwand („Hasse/Brandler“) in den Dolomiten.
Mehr zu Alba Lucia Neder:
Instagram/Youtube: @albomat3000
Bereits der Auftakt des Projekts ist turbulent: Nach einem „Spaziergang“ durch die winterliche Südverschneidung der Roten Flüh (Tannheimer Tal) am 9. Februar, wie sie die Besteigung in ihrem Blog kommentiert, und einer Solo-Begehung der Punta-Fiames-Südostkante (Cortina) nur sechs Tage später, muss sie sich bereits bei ihrer dritten Pause-Route am 18. Februar am Mittelpfeiler des Heiligkreuzkofels (Fanesgruppe) eingestehen: „Ich habe die Tour unterschätzt.“ Die winterlichen Verhältnisse in der Wand, der kurze Tag und eine Verkettung nicht ganz optimaler Entscheidungen zwingen sie und ihren Kletterpartner, in der Dunkelheit die Bergrettung zu rufen. Eine Entscheidung, die sie sehr viel Überwindung kostet, Selbstzweifel aufsteigen lässt und sie im Nachgang noch lange Zeit beschäftigt.
Einige Routen hat die 34-Jährige aus Frankfurt zusammen mit Sybille Rödig, die in Davos lebt, geklettert, unter anderem die Führe „Schmid/Krebs“ an der Lalidererwand im Karwendelgebirge. Siebzehn Stunden verbrachten die beiden Frauen in der bröseligen und abweisenden Nordwand, hatten am Ende noch mit einsetzendem Regen und Dunkelheit zu kämpfen. Auch Sybille, deren Herz für alpine klassische Linien schlägt, ist fasziniert von der Geschichte der Routen, von der Kühnheit der Erschließer und ihren beeindruckenden körperlichen und mentalen Leistungen, die mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Und von der Ruhe und Einsamkeit, die man in vielen Pause- Touren noch findet, im Gegensatz zu den immer zahlreicher werdenden Bohrhakenlinien.
Nach dem erfolgreichen zweiten Versuch am Heiligkreuzkofel im März 2023, an dem sie im Monat zuvor gescheitert war, knipst Alba dann eine Pause-Tour nach der anderen ab. Im April, Mai und Juni gelingen ihr gleich siebzehn Touren und das Ziel des Projekts rückt wieder etwas näher. Doch dann, am 24. Juni, nach einem Rückzug am Nordostpfeiler der Droites (Mont-Blanc-Massiv), sind Motivation und Kraftreserven vorerst aufgebraucht. Die vielen Touren in den Wochen zuvor haben sie körperlich und mental ausgelaugt. Für die Route über den Nordostpfeiler, die bezüglich Gesamtanspruch zu den schwierigsten des Buches zählt (Zeitbedarf laut Buch: 15 bis 20 Stunden) sind ihr Kletterpartner und sie nicht richtig vorbereitet. Wegen unzureichender Akklimatisierung und zu schweren Rucksäcken entscheiden sich die beiden schließlich zur Umkehr. Die äußeren Bedingungen haben perfekt gepasst – die inneren jedoch nicht.
Pause vom "Pause"
Spätestens mit dieser Erfahrung wird Alba klar, dass ihr die Durchsteigung aller hundert Touren des Buches innerhalb eines einzigen Jahres nicht gelingen wird. Für eine Weile stellt sie die Sinnhaftigkeit des gesamten Vorhabens infrage und gönnt sich abseits der Alpen eine zweiwöchige „Pause vom Pause“. Sie durchdenkt noch einmal die kritischen Details des Projekts und richtet ihre Taktik und ihre Ziele neu aus. Die Ruhe und ein bisschen Abstand bringen sie schnell wieder nach oben – körperlich wie mental. Gestärkt und um viele wertvolle Erfahrungen und eine Portion Demut reicher, wirft sie Anfang Juli den Klettermotor wieder an und begeht in nur vier Monaten weitere neunzehn Touren, darunter auch die „Hasse-Brandler“-Führe durch die Nordwand der Großen Zinne.
2024 sieht für Alba dann ganz anders aus. Das permanent wechselhafte Wetter mit Schneefall bis Ende Juni lässt nicht viele Fenster für Bergtouren offen. Doch diese Situation kommt ihr nicht ungelegen, denn die Anstrengung des Vorjahres sitzt ihr noch immer in den Knochen: die vielen Touren, das ständige Unterwegssein, die Ruhelosigkeit, die Kälte, die Anstrengungen und nicht zuletzt der Druck, Erfolge liefern zu müssen – wenn auch überwiegend selbst gemacht. Die unbeständigen Verhältnisse geben ihr die Möglichkeit, einen Gang runterzuschalten und die liegen gebliebenen Dinge jenseits der Berge aufzuholen. Erst im Juli passen mit der direkten Südwandroute der Scharnitzspitze „Spitzenstätter/Baldauf“ alle Rahmenbedingungen zur Fortsetzung des Projekts – Route 41.
Und Alba will weitersammeln, will weiterklettern auf den Spuren von Walter Pause und den Pionieren des Alpinismus, allerdings etwas mehr an ihren eigenen Biorhythmus angepasst und nicht mehr ganz so kompromisslos wie zu Beginn.