Grün und Blau, dazwischen etwas Weiß, zumindest wenn ein paar Schönwetterwolken den blauen Himmel fotomäßig aufwerten, das sind die dominierenden Farben beim Anstieg vom Söllereck über den vom Fellhorn nach Norden ziehenden Wiesenkamm. Eine aussichtsreiche Panoramatour mit Traumblicken auf die höchsten Allgäuer Gipfel rund um die Mädelegabel auf der einen und den unverwechselbaren Hohen Ifen mit seinem pultartigen Gipfelblock auf der anderen Seite. Zum Greifen nah und doch so fern, zumindest wenn man wie wir das im 13. Jahrhundert von den Walsern besiedelte Kleinwalsertal in fünf Tagen umrunden möchte und auf der Strecke diverse Übergänge, Täler und Gipfel zu bewältigen sind.
Wanderklassiker in traumhafter Lage
Die erste Etappe ist ein viel frequentierter Wanderklassiker, auch weil der Zustieg dank diverser Bergbahnen so bequem ist. Schön ist die Tour allemal, denn es gibt viel zu sehen. Auch im Nahbereich, denn der Wiesenkamm ist ein einzigartiges Blumenparadies: Oberhalb der Sölleralpe begeistern in schönstem Rosa leuchtende Alpenrosenfelder, weiter oben führt der Weg durch einen blauen Teppich aus Enzian und Schusternagel. Dazwischen kugelrunde, knallgelbe Blüten der Trollblume und im Frühsommer herrliche Schlüsselblumen und die zarten Blüten der Narzissen-Windröschen. Und wer die mit Wasser gefüllten Mulden genauer inspiziert, entdeckt im trüben Nass viele Frösche und Molche. Am zweiten Tag, auf dem Weg von der Bergstation der Kanzelwandbahn über den Kuhgehrensattel, begleiten uns – passenderweise – neugierige Kühe. Die freuen sich über die saftig grünen Wiesen, während wir die Kulisse mit dem Hohen Ifen vis-à-vis genießen. Und uns auf die Einkehr bei Lisa und Ottomäx freuen, die seit vierzehn Jahren die Sommer auf der Inneren Kuhgehrenalpe verbringen.
Zusammen mit rund fünfzig Stück Jungvieh, zwei Schweinen sowie Hühnern und Hasen. Die Lage ist traumhaft: Hoch über dem Talboden, ohne Zufahrtsstraße, dafür mit Sonne den ganzen Tag. „Wir essen oft abends auf der Terrasse und beim Frühstück genießen wir bereits die Morgensonne“, schwärmt Lisa, „allerdings kommen da manchmal bereits die ersten Gäste – aber das ist unser tägliches Brot.“ So wie an diesem Tag. Eine Gruppe, die ganz früh von der Fiderepasshütte abgestiegen ist, sitzt bereits an den Tischen und lässt sich einen der selbst gemachten Kuchen von Lisa schmecken.
Das Sahnehäubchen ist der Blick in den Talschluss, wo sich über einem versteckten, märchenhaft schönen Boden im Bereich der Hinteren Wildenalpe die schroffen Felsabbrüche im Kamm des Kemptner Kopfs erheben. Ein landschaftliches Kleinod, Wohnzimmer der Gämsen und Steinböcke und Start eines steilen Steigs, der gut angelegt in vielen Kehren die einzige Schwachstelle in der auf den ersten Blick unüberwindbaren Barriere nutzt – und den Übergang zur Mindelheimer Hütte ermöglicht. Das Tagesziel der zweiten Etappe wird seit 44 Jahren von Jochen Krupinski bewirtschaftet. „Damals übernahm ich eine Hütte, bei der die Konzession immer nur kurz verlängert wurde“, erinnert er sich, „und heute steht die Mindelheimer Hütte bestens da und ist auf dem neuesten ökologischen und technischen Stand.“ Jochen ist Hüttenwirt mit Leib und Seele, nichts kann ihn aus der Ruhe bringen. „Ich genieße jeden Tag“, erzählt er mit einer Begeisterung, die geradezu ansteckend ist, „wenn ich morgens aufstehe, dann sage ich hurra.“ Auch wenn die Arbeit gleich in der Früh ruft. „Heute stand ich bereits um sechs Uhr in der Küche und habe Nudeln gemacht“, erzählt er, „Bandnudeln – und morgen mache ich Spaghetti.“ Die selbst gemachten Nudeln sind ein Markenzeichen der Mindelheimer Hütte. Jeden Tag sind er und sein Team bis zu fünf Stunden mit der Herstellung beschäftigt. „Natürlich kann ich die Nudeln auch kaufen, aber ob’s schmeckt, ist die andere Frage“, begründet Jochen den Aufwand, „wir haben da einfach einen kleinen Knall.“
Dank der außergewöhnlichen Lage auf einem Plateau hoch über dem Rappenalptal genießen die Gäste der Mindelheimer Hütte den Blick auf das südlichste Eck Deutschlands und die markante Pyramide des Biberkopfs. „Man schaut nie den Berg hinauf, sondern immer in die Weite“, schwärmt der 74-Jährige, „das ist einfach ein wunderschöner Platz.“
Mittendrin in der Natur
Großartig ist auch der Weiterweg über Koblatpass und Gemsteltal zurück ins Kleinwalsertal. Eine überschaubare Etappe mit ausreichend Zeit für die Besteigung des Geißhorns und eine Einkehr in einer der Alpen beim Abstieg. Am schönsten vielleicht in der einfachen, nur im Hochsommer bewirtschafteten Obergemstelalpe. „Hier bist du mittendrin in der Natur“, beschreibt Mathias Fritz die Faszination dieses Platzes, „du siehst keine Straße und hörst keine Nebengeräusche. Das ist wie eine Ruheoase, hier kannst du gut abschalten.“ Der Jäger und Wirt ist hier zu Hause, ihm gehört der komplette Talschluss des Gemsteltals. „Andere haben einen Porsche, mir gehören Berge“, erzählt er lachend. Im Grunde ist er steinreich, doch Mathias ist Realist. „Von den Steinen kannst du nicht runterbeißen, du musst schon etwas tun.“ Und so bewirtschaftet er auch die Hintere Gemstelhütte eine Etage tiefer, verkauft Gams- und Hirschwurst und zeigt den Gästen mit dem Fernrohr die Einstände des hier reichlich vorhandenen Wildes. Die vierte Etappe der Runde führt von Baad am Ende der Straße ins Kleinwalsertal durch den Graben des Turabachs hinauf zur Starzelalpe und weiter ins gleichnamige Joch. Ein traumhaftes Almgebiet mit saftig grünen Wiesen und deutlich mehr Kühen als Menschen. Hier entdeckt man eine überraschend einsame Seite des Kleinwalsertals. Ein Höhepunkt ist der wunderschöne Steig von der Neuhornbachalpe hinauf zum Steinmandl, einem der vielen Hüttengipfel der Schwarzwasserhütte.
Beim Anstieg über die Wiesentreppen entlang eines munter plätschernden Baches sollte man sich unbedingt Zeit lassen – und die Natur genießen. „Du sollst ja nicht von einem Punkt zum Nächsten hetzen“, lautet ein Tipp von Dominik Müller, „lass dir lieber Zeit, setz dich einmal in eine Wiese und genieße den Rundblick und unsere Natur.“ Als Bergführer und Leiter der Bergschule Amical Alpin weiß er genau, wie der perfekte Wandertag aussieht: „Weniger ist beim Wandern meistens mehr.“ Seit dem Jahr 2020 bewirtschaftet der sympathische Kleinwalsertaler zusammen mit seiner Frau Tine die Schwarzwasserhütte. Für Dominik ging damit ein Traum in Erfüllung, während seine Familie anfangs eher skeptisch war. „Eine Hütte kam mir nicht im Entferntesten in den Sinn“, erinnert sich Tine, „ich weiß doch, wie viel Arbeit das ist – aber mittlerweile ist alles gut, wir sind angekommen und zufrieden.“ Auch weil sie es geschafft haben, sich immer wieder eine kleine Auszeit zu nehmen. „Wir mussten das über die Jahre erst lernen, auch einmal loszulassen“, meint Dominik, „nur so kommst du zum Durchschnaufen.“ Und Kraft tanken, denn auf der 110 Jahre alten Schwarzwasserhütte herrscht den ganzen Tag über Betrieb. Kein Wunder, der Stützpunkt ist aus allen Himmelsrichtungen leicht zu erreichen: „Das ist wie ein Brennpunkt“, fasst Dominik seine Erfahrung zusammen, „manchmal werden wir regelrecht überrannt.“
... ein besonderer Berg
Das liegt auch am Hohen Ifen, dem höchsten und sportlichsten Ziel im Hüttenumfeld. „Für die Einheimischen ist das ein besonderer Berg“, erklärt Dominik, „den markanten Tafelberg siehst du schon bei der Anreise ins Kleinwalsertal und im Grunde von überall hier im Tal.“ Dank des grünen, pultartigen Gipfeldachs mit den umlaufenden Felsabbrüchen über dem ausgedehnten Karrenfeld des Gottesackerplateaus zählt der Hohe Ifen zu den eindrucksvollsten Gipfelgestalten der Allgäuer Alpen. Ein kräftezehrender, teilweise gesicherter Steig führt durch die südseitigen Abbrüche und ermöglicht den Zugang von der Schwarzwasserhütte. Der Lohn: ein grandioser 360-Grad-Rundblick am Gipfelkreuz.
Am faszinierendsten ist jedoch der Blick über das nahe Gottesackerplateau. Das neun Quadratkilometer große Karstplateau mit seinen bizarren Felsformationen, Dolinen und Klüften ist einzigartig in den Allgäuer Bergen und erinnert an einen zu Stein erstarrten Gletscher. Eine graue Felswüste und ein faszinierender Farbkontrast zum üppigen Grün der letzten Wandertage.
Tipps für den Bergurlaub
Mit der Gästekarte sind im Kleinwalsertal Fahrten mit dem Walserbus inkludiert (bis zur Grenze). Einige Gastbetriebe bieten auch den Service „Bergbahnen Unlimited“ an, damit sind Fahrten mit den Bergbahnen gratis.
„Natur bewusst erleben“ heißt eine Nachhaltigkeitsinitiative im Kleinwalsertal. Dabei geht es um Naturvermittlung und Besucherlenkung.
Das Fotoarchiv Karl Max Kessler umfasst Hunderte Fotografien, die das Kleinwalsertal mit seiner Natur und Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen. Eine Auswahl findet man in der Eingangshalle des Hotel Chesa Valisa in Hirschegg.
Westlich von Oberstdorf kann die über einen Kilometer lange Breitachklamm auf einer im Jahr 1905 errichteten Steiganlage durchwandert werden.