"Diese gewaltige Landschaft muss allen zugänglich sein." Davon war der bergbegeisterte Forstingenieur und Velebit-Liebhaber Ante Premužić Anfang der 1930er Jahre überzeugt. Alle sollten sehen können, wie schön es zwischen Senj/Zavižan und dem fast 60 Kilometer entfernten Baške Oštarije ist. Er entwarf einen Weg, den er von Podgorcis, den an den kargen Westflanken des Velebit lebenden Hirten, errichten ließ. Sie beherrschten die alte Kunst des Trockenmauerns perfekt. Drei Jahre lang behauten sie Steine, setzten sie zu festem Mauerwerk aufeinander und belegten sie mit Steinplatten. Sie überwanden Klüfte, schlängelten sich an schroffen Felswänden entlang und wagten sich über schmale Grate zwischen tiefen Dolinen: Durch den wildesten Teil einer grandiosen Karstlandschaft erschufen sie ein 57 Kilometer langes Meisterwerk, das seit 2009 als kroatisches Kulturgut unter Schutz steht. Ebenso wie die ungewöhnlich artenreiche Tier- und Pflanzenwelt, die sich seit 1999 im Nationalpark Nord-Velebit sicher fühlen darf.
Der "Boramat" bläst
Eisiger Nebel umgibt das Nationalparkzentrum "Velebit-Haus" in Krasno, auf der Ostseite des Velebit. Dort, wo sich einsame Laubwälder über die Hügelketten der Liko-Hochebene ausdehnen. Das Meer ist nur etwa 20 Kilometer entfernt – aber so weit weg! Dicke Wolken haben sich an den Gipfeln festgesaugt und Schnee und Sturm mitgebracht. "No way", sagen die Ranger und zeigen Bilder tief verschneiter Berge. So erkunden wir den Nationalpark zunächst indoor auf vier spannend gestalteten Etagen. Wir begegnen Wölfen, Bären, Hornvipern und lichtscheuen Kreaturen, die sich in streng geschützten Höhlen angesiedelt haben. Mit reichlich Informationsmaterial im Rucksack bläst uns der "Boramat" vor dem Velebit-Haus schließlich zurück ans Meer, nach Senj.
Oben versteckt sich der Premužić-Trail unterm Schnee, doch zwischen Wolken und Küste liegen mindestens 1200 Höhenmeter duftende Berghänge in der milden Frühlingssonne. Immer wieder schafft es die Kalksteinkruste zwischen üppig blühendem Salbei und Rosmarin an die Oberfläche. Mehrere kaum befahrene Bergstraßen und -wege schlängeln sich aussichtsreich zwischen Senj und Karlobag ins Herz des nördlichen Velebit. Mit den Mountainbikes fahren wir vom Meer hinauf zu Berghütten, Übergängen und kleinen, längst verlassenen Weilern.
Sobald wir den Wolken zu nahe kommen und Schneereste den Weg säumen, locken unten tiefblaue Wellen, die die bizarre Inselwelt der Kvarner Bucht umspülen. Manchmal tauchen Hunde wie aus dem Nichts auf, bellen kurz und gefährlich, bevor sie wieder zu ihren Herden zurückkehren. Immer wieder entdecken wir sonnige, perfekt abgesicherte Kletterfelsen. Meistens sind wir die Einzigen, die den rauen Kalk genießen. Die Kletterszene konzentriert sich auf Paklenica, einiges weiter im Süden. Als der Maischnee endlich weicht, brechen wir in einem dieser Klettergebiete bei Baške Oštarije zum Premužić-Trail auf, wohl einem der außergewöhnlichsten Teilstücke der insgesamt 1260 Kilometer langen Via Dinarica, die von Slowenien bis Albanien führt. Trockenmauern umrahmen zartgrüne Viehweiden mit ersten Farbtupfern: blühende Oasen inmitten einer felsübersäten Weite. Kleine Gipfel umgeben den malerischen Talkessel, bevor wir in dichten, hellgrün leuchtenden Buchenwald eintauchen. Der Weg ist perfekt angelegt, wenn es Anstiege gibt, sind sie sanft. Bald erhaschen wir einen Blick auf das Meer. Wie ein gestrandetes Reptil liegt die Insel Pag im tiefen Blau.
Die kleine Hirtenhütte von Skorpovac – hier stand einmal ein Dorf – ist genauso verlassen wie die Almweiden, doch der Holzherd ist noch warm von anderen Leuten, die hier die Nacht verbrachten. Wir sind gut vorangekommen und hängen die zweite Etappe bis Alan gleich an. Das Weideland weicht wieder Buchenwald, in dem 2016 ein Waldbrand wütete. Halb verkohlte Baumstämme ragen wie moderne Skulpturen aus dem spärlichen Grün. Ein sonniger Felsrücken mit Küstenblick ist ideal, um noch einmal zu rasten. Wir sind fast acht Stunden unterwegs, mindestens zwei werden es noch sein bis zum Ziel. Immer öfter durchbricht blendend weißer Kalkfels die Vegetation, als wir auf einer sturmgepeitschten Karstfläche den Naturpark verlassen und den Nationalpark Nord-Velebit betreten. Ungestört fetzen die Wolken vom letzten Sonnenlicht angestrahlt über die Gipfel, während weit unten das Meer golden glitzert.
Die dicke Gemüsesuppe blubbert in der Bergsteigerhütte schon über dem Feuer, als wir Alan erreichen. Bewirtschaftet wird sie von einer Gruppe Idealisten des Kroatischen Alpenvereins, die sich regelmäßig abwechseln. Derzeit sind Ivo und H. (der Name sei viel zu kompliziert für uns Ausländer) an der Reihe. Im "wirklichen" Leben ist H. Finanzbeamter in Zagreb. Ein cooler Typ voller Ideen und Visionen für sein Land. In den renovierten Hirtenhäuschen von Alan veranstaltet er im Sommer Yoga- und Akrobatik-Workshops.
Freund*innen, die hier oben mit Kräutern Heilmittel und Kosmetik herstellen, unterstützt er nach Kräften. "Habt ihr die Ruinen gesehen? Hier war eine der größten Siedlungen!" Die Menschen sind längst weggezogen, ins Ausland oder an die Küste, wo sich Massen von Tourist*innen wälzen. "Die am meisten gefährdeten Lebensräume hier sind die Weiden, weil sie keiner mehr betreut und alles zuwächst." In der kleinen Küche löffeln wir mit drei Berliner Frauen genüsslich die Suppe, später klopfen noch vier Amerikaner an die Tür. "Wetter wird gut", verspricht Ivo am nächsten Morgen, während er sorgfältig feine Speckscheiben in der Pfanne wendet und sie mit Eiern übergießt. Gut erholt pendeln wir zwischen Frühlingserwachen und Winterschlaf entlang der Gipfelketten Richtung Zavižan. Das Wetter wechselt im Minutentakt. Es nieselt, dann zerfetzt der Sturm die Wolkendecke zu bizarren Figuren, die sich über dem Meer auflösen – was für ein Schauspiel!
Der eindrucksvollste Abschnitt
Langsam gewinnen die Felsen die Oberhand: Wir haben den eindrucksvollsten Abschnitt des Premužić-Trail erreicht: die von über 300 Höhlen durchzogene, wilde Karstlandschaft von Rožanski und Hajdučki kukovi mit tiefen Dolinen und zerfurchten Karrenfeldern. Wir machen kurze Abstecher zu aussichtsreichen Gipfeln, kraxeln über schroffe Felsen und schauen trotz der kühlen Temperaturen ganz genau, ob sich nicht eine Hornviper versteckt. Den ersten Menschen begegnen wir an der winzigen Rossis-Hütte. Wie die meisten drehen sie hier um und kehren zurück nach Zavižan, ohne zu ahnen, was sie verpassen.
Zavižan ist das Zentrum des Nationalparks mit Botanischem Garten, Berghütte, Wetterwarte, mehreren Wanderungen und Themenwegen – und einem atemberaubenden Ausblick auf die Inseln der Kvarner Bucht. Die rund 500 Pflanzenarten des 1967 in und um einen weitläufigen Karsttrichter angelegten Botanischen Gartens liegen leider noch weitgehend im Winterschlaf. Nur die vielen liebevoll gestalteten Schilder lassen erahnen, was hier in Kürze alles zu sprießen beginnt. Die Bora zerrt wieder wild an unseren Kleidern, als der Premužić-Trail endet und in eine Forststraße mündet, die zur Zavižan-Berghütte leitet. Dort führen uns mit Bildern übersäte Wände noch einmal die Schätze des Nationalparks vor Augen. Vor dem Porträt von Ante Premužić können wir uns nur verneigen. Großartig, was er vor fast hundert Jahren hier oben erschaffen hat!
Wuchtige Bora
Wir stürzen uns noch einmal in die Wetterküche und kommen zur höchstgelegenen meteorologischen Station Kroatiens. Zwischen kontinentaler und mediterraner Klimazone gelegen, prallen hier zwei Welten aufeinander. Rekorde gibt es deshalb viele: Zavižan ist die kühlste, feuchteste, nebligste, windigste (pro Jahr stürmt es an 120 Tagen mit bis zu bis zu 185 km/h) und schneereichste (322 cm im März 2014, 50 cm im Mai 2019) Wetterstation Kroatiens. Hier gibt es außerdem die meisten Gewitter und die niedrigsten Temperaturen (bis -28 °C). Trotz exponierter, früher oft unzugänglicher Lage liefern die Mitglieder der Familie Vukušič aus Krasno seit 1953 jeden Tag zuverlässig die Wetterdaten ans Hydrometeorologische Institut in Zagreb. Mit welcher Wucht die Bora Richtung Meer bläst, haben wir am eigenen Leib erfahren: Windstärke 12 mit bis zu 128 km/h waren es heute, verrät uns Matija später.
Wir lassen uns auf dem Veliki Zavižan, dem mit 1676 Meter höchsten Gipfel des Nationalparks, noch einmal den Sturm mit aller Kraft um die Nase blasen. Schon in einer Stunde werden wir unten, bei den golden glitzernden Wellen, behaglich in der warmen Mittelmeersonne sitzen und hinaufschauen zu den Wolken, die sich in diesen fantastischen Bergen genauso wohlfühlen wie wir.