Risiko im Bergsport
Das klassische Bild vom Bergsteigen ist geprägt von Gefahren, Kampf am Berg, Sieg und Niederlage, Erfolg und Verzweiflung. Zwar haben englische Autoren und Reinhard Karl ab Mitte der 1970er Jahre auch über innere Erlebnisse und Selbstzweifel geschrieben – die zugrunde liegende Erzählung blieb aber das Heldenepos. Es besteht, wie das Urbild „Odyssee“, im Wesentlichen aus folgenden Elementen: Der Held verlässt die Gemeinschaft und stellt sich ungewöhnlichen Aufgaben, die ihn zweifeln und anfänglich vielleicht scheitern lassen. Schließlich meistert er die Aufgabe und kehrt gereift und aufgewertet in die Gemeinschaft zurück. Dieses vertraute Erzählmuster bestimmt maßgeblich, welche Form von Geschichten wir als bewundernswert erachten. Gefühlte 99 Prozent aller Berg-Geschichten folgen diesem Muster.
Das Heldenepos als Erzählmuster reduziert das Bergsteigen auf einen Ausschnitt: Was man beim Bergsport erlebt, ist mehr als nur der Helden-Aspekt. Aber es hat auch einen Vorteil: Die Gefahr des Scheiterns ist zentraler Bestandteil. Ohne Lebensgefahr keine Heldengeschichte – und auch bergsteigerischen Laien wird klar, dass Bergsteigen schlicht und einfach gefährlich ist. Zum offensichtlichen Risiko des Bergsteigens, in der klassischen alpinen Literatur unübersehbar, kamen früher noch weitere Schwierigkeiten hinzu. Das Material war unzuverlässig, schwierig zu beschaffen und teuer. Und alpine Techniken waren kein offen verfügbares Wissen. Man brauchte möglichst erfahrene Alpinisten als Mentoren, die ersten alpinen Lehrpläne und Ausbildungskurse waren noch stark vom Ernst der Tätigkeit geprägt.
Die Risikokultur des Bergsteigens bedeutete für lange Zeit eine hohe Eingangsschwelle zum Alpinismus. Mit „Risikokultur“ ist die gesellschaftliche Akzeptanz gemeint, welche Risiken von wem und wie eingegangen werden. So ist es gesellschaftlich vollkommen akzeptiert, am Straßenverkehr teilzunehmen, obwohl die statistische Wahrscheinlichkeit, sich innerhalb eines Jahrs zu verletzen, mit ungefähr 1:250 relativ hoch ist. Allerdings gilt diese Risiko-Akzeptanz nur, wenn alle sich an die Regeln halten. Regelverstöße werden unterschiedlich akzeptiert: Telefonieren ohne Freisprecheinrichtung eher als Rasen im Vollrausch. Die gleiche Verletzungswahrscheinlichkeit von 1:250 wäre bei Lebensmitteln oder Arbeitssicherheit vollkommen inakzeptabel. Diese Beispiele lassen sich auf das Bergsteigen übertragen. Das Heldenepos hat eine gesellschaftlich anerkannte Risikokultur des Bergsteigens geprägt, in der hohe Verletzungsrisiken unabdingbar und akzeptiert waren.
Eine Risikokultur drückt sich neben der Art und Weise, wie eine Tätigkeit ausgeübt wird, auch in (Fach-)Publikationen, Material, Normen und Richtlinien aus. Im Alpinismus waren dies die klassische Alpinliteratur und schlechtes und unzuverlässiges Material; Ausrüstungsnormen gab es nur vereinzelt.
Risikomanagement statt Heldentum
Heute sind Fachkenntnisse durch vielerlei Informationsquellen leicht zugänglich. Neulinge können auf die Schnelle erfahren, wie das Sichern in der Kletterhalle funktioniert: aus Videoclips, Piktogramm-Broschüren oder Zwei-Minuten-Schnelleinweisungen durch Kletterkumpels. Alpine Tätigkeiten sind omnipräsent, auch in der Werbung, das Material ist leicht verfügbar. Die Physik hat sich aber nicht geändert: Wer den flachen Boden verlässt, kann hinunterfallen. Die alpinen Gefahren sind grundsätzlich die gleichen geblieben, auch wenn die Unfallquote zurückgeht. Der Ansatz, der Gefahr mutig oder mit Todesverachtung zu begegnen, passt nicht mehr für die großen Mengen von Freizeit-Bergsportler*innen.
Denn der Antrieb zum Bergsport hat sich gewandelt: Die breite Masse sucht noch weniger als früher die schwierigen und damit gefährlichen Anstiege, sondern positive Erlebniswerte – Freude an der Tätigkeit, Naturerlebnis, gemeinsam verbrachte Zeit und anderes. Außerdem ist Bergsteigen in der Breite heute sicherer, ständiges Gefahrenbewusstsein also nicht so notwendig wie vor 60 Jahren. Das Internet informiert über aktuelle Verhältnisse und das Wetter, Wege sind gewartet und beschildert, man hat zuverlässige Sicherungsmittel, elektronische Hilfen aller Art und vieles mehr. Zudem versteht man die Gesetzmäßigkeiten vieler Gefahren besser. Ein Beispiel ist die probabilistische Lawinenkunde. Aus vielen Messungen der Schneedeckenstabilität lassen sich statistische Wahrscheinlichkeiten für Lawinenauslösungen berechnen. Und daraus kann man Verhaltensempfehlungen ableiten, etwa mit der DAV-Snowcard.
Diese Methode ist ein Werkzeug für „Risikomanagement“ – ein Konzept, das aus statistikbasierten Aussagen systematisch Risiken prognostiziert und Vorsichtsmaßnahmen ableitet. Statt intuitiv zu entscheiden (z. B. aus langjähriger Tourenerfahrung) oder in einer konkreten Situation aufwendig zu messen und analysieren (z. B. genaues Schneeprofil), liefert Risikomanagement einfache Daumenregeln, um in komplexen Situationen schnell gute Entscheidungen zu treffen. Grundlage dafür ist nicht die eigene, möglicherweise verzerrte Einschätzung der Situation, sondern im Idealfall eine große Datenbasis. Bergsport ist Volks- und Breitensport, da ist es durchaus eine logische Konsequenz, Lehrmeinungen und Normen zu entwickeln. Nicht mehr das Heldenepos dominiert die Risikokultur des Bergsteigens, sondern die Vorstellung, dass sich Risiken am Berg irgendwie managen lassen.
Management von Unsicherheit?
Zum Managen müssen aber die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Ereignisse, das Schadensausmaß und die Risiko-Akzeptanz bekannt sein – und das ist beim Bergsteigen schwierig bis unmöglich. Ein Beispiel: Muss man den Wandfuß unter einer anderen Seilschaft queren, sollte man wissen:
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Seilschaft oberhalb Steinschlag auslöst und man getroffen wird (Eintrittswahrscheinlichkeit)?
Wie groß ist das Schadenausmaß (z. B. der Helm wird zerstört)?
Welches Risiko akzeptiert man üblicherweise?
Nehmen wir an, die Eintrittswahrscheinlichkeit ist 1:1000 (bei 1000 Wandfußquerungen wird man einmal getroffen) und der Helm kostet 100 Euro, dann liegt der Erwartungswert für das Risiko bei 100 Euro geteilt durch 1000 = 10 Cent. Nehmen wir weiter an, das allgemein akzeptierte Risiko beim Alpinklettern läge bei 10.000 Euro pro 1000 Touren (Schäden durch zurückgelassenes Material, Rettung, Heilbehandlung, ...). Dann liegt das akzeptierte Risiko pro Tour bei 10 Euro. In unserem Fall könnte man mit einem 10-Cent-Risiko also bedenkenlos den Wandfuß queren und sich noch für 9,90 Euro weitere Risiken leisten.
Wer, bitte, ist in der Lage, Eintrittswahrscheinlichkeiten aller Risiken, die korrekten Schadensausmaße und das akzeptierte Risiko einer x-beliebigen Bergtour korrekt zu benennen? Niemand. Dabei ist auch zu bedenken und wichtig zu verstehen, dass es sich um Wahrscheinlichkeiten inklusive Irrtumswahrscheinlichkeiten handelt. Liegt zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit einer Lawinenauslösung bei zehn Prozent, wird in neunzig von hundert Fällen, die der Situation ähnlich sind, keine Lawine ausgelöst. Die Irrtumswahrscheinlichkeit entsteht dadurch, dass die Bedingungen nie gleich sind, sondern nur ähnlich, und dass auch die Messverfahren Fehler enthalten.
Kein Allheilmittel
Um es klar zu schreiben: Ich bin nicht gegen Risikomanagement. Es ist ausgesprochen hilfreich zur Entscheidungsfindung. Aber es taugt nicht als generelles Mittel der Wahl für spezifische, zum Teil sehr unterschiedliche Situationen.
Weil wir die notwendigen statistischen Größen nicht kennen (können).
Gefahren sind im Gebirge meist nicht „Risiken“, sondern „Unsicherheiten“, bei denen Eintrittswahrscheinlichkeit und/oder Schadensausmaß unbekannt sind. Im oben genannten Beispiel kann man nur grobe Abschätzungen machen (Felsqualität, Verhalten der Seilschaft, ...), allgemeine Verhaltensregeln berücksichtigen (Helm aufsetzen) und diese Einschätzung mit der momentanen, subjektiven Risikobereitschaft vergleichen. Je mehr Unsicherheiten gleichzeitig berücksichtigt werden müssen und je unbestimmter sie sind, desto weniger aussagekräftig wird das Ergebnis von Risikomanagement – bis hin zu: „Dass das Ereignis sicher eintrifft, kann man nicht sagen, und ausschließen lässt es sich auch nicht, aber dazwischen ist alles möglich.“ Solche Aussagen sind für die individuelle, konkrete Entscheidung unbrauchbar – aber wegen der Irrtumswahrscheinlichkeiten schnell die einzig möglichen.
Menschen treffen Entscheidungen nicht nach statistischen Maßstäben, was aber eine Voraussetzung für erfolgreiches Risikomanagement wäre. Statistisches Denken braucht Fachwissen und Erfahrung – und überdies hindern diverse Verzerrungsmechanismen Menschen daran, Informationen rational wahrzunehmen, zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen.
Der Begriff Risikomanagement suggeriert, dass es beim Bergsteigen ständig etwas zu managen gäbe: planen, organisieren, sich selbst und andere führen und Ergebnisse auf Effizienz und Erfolg kontrollieren. Dabei geht vor lauter Managen der erste Teil des Begriffes verloren. Welches Risiko sollen und wollen wir denn managen? Was verstehen wir überhaupt unter Risiko? Was ist für wen in welcher Situation ein allgemein akzeptiertes Risiko? Und: Warum wird Risiko häufig als Übel dargestellt? Wo bleiben die positiven Aspekte risikobehafteter Tätigkeiten? Als da wären: Freude am Tun, Motivation für Ziele, Erwerb von Kompetenz, Meistern von schwierigen Situationen, Erleben der eigenen Handlungsfähigkeit, Bewältigung von Stress – alles wichtige Faktoren für Lebenszufriedenheit, psychische Gesundheit und beruflichen Erfolg.
Sicherheitskultur als Gefahr
Der Begriff Risikomanagement ist auch irreführend, weil sein Ziel die Maximierung von Sicherheit ist. Wenn aber Risiko negativ besetzt ist, wird Sicherheit im Bergsport schnell verstanden als Beherrschen der Gefahren und Ausschluss jedes Verletzungsrisikos. Daraus entsteht eine „Sicherheitskultur“, die behauptet, Gefahren könnten jederzeit erfolgreich gemeistert werden. Trotz allen Fortschritts wird es aber beim Bergsteigen immer Materialversagen (z. B. Klettersteig-Sets), Funktionsversagen (z. B. Sicherungsgeräte) und menschliches Versagen geben. Unsicherheit und Risiko sind Wesensmerkmale des Systems Bergsport, Sicherheit nicht. Es wird beim Bergsteigen nie eine hundertprozentige Vorhersage, nie ein Null-Risiko und damit nie absolute Sicherheit geben.
Wie oben erwähnt, zeigt sich eine Kultur auch in Veröffentlichungen. Ein Blick in Flyer, Broschüren oder Alpinzeitschriften (auch DAV Panorama) macht klar: Viele Beiträge drücken eine Sicherheitskultur und nicht eine Risikokultur des Bergsport aus. Sie vermitteln die Botschaft, dass Bergsport wie ein Funsport oder Event sicher und ohne große Kenntnisse durchgeführt werden kann – sich also, übertrieben ausgedrückt, nicht wesentlich von Minigolf unterscheidet (wie es manche örtliche Outdoor-Veranstalter in alpinen Touristenorten suggerieren).
Was belegt, dass hier eine irreführende Sicherheitskultur vermittelt wird? Unter anderem eine Diskrepanz zwischen Bildern und Texten – etwa ein Freeride-Bild über einem offensichtlich lawinenkritischen Steilhang, dazu ein Text über Hüttengaudi und genussvolles Skifahren. Oder der leichte Zugang zu Informationen ohne Warnhinweise – etwa Internetservices, die nach Eingabe des Suchgebiets auch anspruchsvolle und gefährliche Freeride-Abfahrten angeben. Oder die Verzahnung von kommerziellen Interessen und gemeinnütziger Vereinstätigkeit. Inserenten und Sponsoren im Mitgliedermagazin haben ein berechtigtes Interesse, ihre Produkte mit den positiven Aspekten des Bergsteigens zu verbinden – Gefahren werden dann gerne ausgeblendet. Ein weiteres Problem einer Sicherheitskultur sehe ich in möglichen juristischen Folgen: Wenn Bergsportverbände suggerieren, Bergsport könne sicher betrieben werden, sind an Unfällen immer die Beteiligten „schuld“ – und nicht ein akzeptiertes Restrisiko, das Element Gebirge oder einfach Pech.
Neue Risikokultur gefragt
Was sollten wir daraus lernen?
Wir sollten die Sicherheitskultur im Bergsport entthronen.
Risikomanagement sollten wir da einsetzen, wo es sinnvoll ist, aber nicht als alleinige Maßgabe für individuelle Entscheidungen.
Wir brauchen eine neue Risikokultur. Diese sollte die gesamte Bandbreite unterschiedlicher Tätigkeiten und Personen des Alpinismus abdecken. Und die Menschen und ihre Verbände sollten diese Kultur aktiv und selbstbestimmt gestalten, definieren und vertreten – nicht reaktiv und fremdbestimmt, etwa als Reaktion auf Gerichtsurteile. Dabei muss das akzeptierte Risiko zur jeweiligen Spielart passen: In Kletterhallen wird ein anderer Umgang mit Gefahren erwartet als bei Erstbegehungen an hohen Bergen.
Entscheidend für die Risiko-Akzeptanz kann nicht die Höhe des Risikos oder das Ausmaß der Gefahr sein, die jemand eingeht. Maßstab sein kann aber, wie jemand dies tut: selbstbestimmt, eigenverantwortlich und informiert. Wer sich bewusst für ein bestimmtes Risiko entscheidet, handelt nicht fahrlässig oder verantwortungslos (solange man nicht andere dadurch gefährdet). Ein so gewähltes Risiko sollte allgemein akzeptiert werden. Andererseits müssen Personen, die nicht selbstbestimmt, eigenverantwortlich, bewusst und informiert agieren können (Neulinge, Kinder, ...), über Risiken und Gefahren angemessen und verständlich informiert werden. Eine solche Risikokultur sollte die oben beschriebene Sicherheitskultur ersetzen. Eine mögliche Konsequenz könnte dann auch sein, dass man sich in den Alpenvereinen über Mitgliederschwund freut und nicht über weiteren Zuwachs an unbedarften Konsument*innen.
Der Beitrag erschien in DAV Panorama 2/2015, S. 58-61.
Eine ausführlicher argumentierende Fassung des Beitrags und weitere Literaturtipps und Links finden sich auch in bergundsteigen 4/14.