Die Wanderung auf den Rachel beginnt am Bahnhof von Spiegelau, wo der Nationalpark-Ranger Robert Stockinger schon wartet. Nach wenigen Minuten Fahrt mit der Waldbahn steigen wir in Klingenbrunn/Bahnhof aus und schlagen den Weg zum Klingenbrunner Rachelsteig ein. Der zieht entlang des Flanitztales hinauf zum Großen Rachel, dem mit 1453 Metern höchsten Gipfel im Nationalpark. Bald betreten wir das Kerngebiet des Parks und kommen auf die Waldentwicklung zu sprechen, die Robert über die letzten Jahrzehnte miterlebt hat. Nach sturmbedingten großen Fichtenwürfen in den 1980er Jahren kam es in den 1990er Jahren zwischen Lusen und Rachel zu einem massenhaften Borkenkäferbefall, der dem über Jahrzehnte forstwirtschaftlich optimierten Fichtenbestand vollends den Garaus machte. Soweit das Auge reichte, standen die abgestorbenen grauen Fichtenstämme dicht an dicht.
Auch nach diesen katastrophalen Ereignissen verfolgte der Nationalpark seine Philosophie "Natur Natur sein lassen", was für einige Kritik sorgte. "Heute jedoch kann man überall sehen, wie sich der Wald aus eigener Kraft verjüngt hat und sich zu einer urwaldartigen Waldwildnis entwickelt", fasst Robert zusammen. Diesem dynamischen Selbstheilungsprozess der Natur im Schutzgebiet wollen wir während unseres Aufenthalts nachspüren. Nach der Einkehr bei dem jungen Wirtspaar im Waldschmidthaus knapp unterhalb des Rachel-Gipfels blicken wir vom höchsten Punkt ringsum auf Bäume – die Sicht ist deutlich einschränkt.
Etwa 400 Meter unterhalb des Gipfels und der steilen Seewand liegt der Rachelsee im Bergwald – der "Kar-Endmoränensee" ist ein Relikt der Eiszeit, als der Rachel-Gipfel von Eis bedeckt war. Wir wandern weiter zur bewirtschafteten Racheldiensthütte hinunter und nehmen dort den Igelbus nach Spiegelau zurück. Die Igelbusse verbinden die Einrichtungen und Hauptwandergebiete im Nationalpark. Anderntags steht das Lusen-Gebiet auf dem Programm. Der Igelbus bringt uns von Mauth an die tschechische Grenze. Dort erinnern auf böhmischer Seite die Überreste des Dorfes Buchwald/Bučina an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Grenzanlagen des Eisernen Vorhangs die traditionell engen Beziehungen der Menschen diesseits und jenseits der Grenze für Jahrzehnte unterbrachen.
Das größte Waldschutzgebiet Mitteleuropas
Heute schreiten Wandernde durch einen symbolischen Eisernen Vorhang, sind grenzübergreifend unterwegs, und die Nationalparke Bayerischer Wald und Šumava auf tschechischer Seite arbeiten so gut zusammen, dass beide Schutzgebiete 2009 als "Transboundary Parks" zertifiziert wurden. Mit einer Fläche von über 900 Quadratkilometern bilden sie das größte Waldschutzgebiet Mitteleuropas. Unser Guide Franz Uhrmann ist als Waldführer oft mit Gruppen im Nationalpark unterwegs. Auf schmalem Steig wandern wir gemeinsam durch üppig wuchernden Bergmischwald zum felsigen Siebensteinkopf (1263 m) und bemerken, dass die natürliche Waldverjüngung hier weiter vorangeschritten ist als am Rachel.
"Das liegt am Untergrund, an der Exposition und Höhenlage – vor allem in den rauen Lagen über etwa 1100 Meter, in denen im Bayerwald natürliche Fichtenwälder vorherrschen, wachsen die jungen Fichten langsamer", erklärt der Waldführer. Im Abstieg passieren wir die Reschbachklause und folgen dem 1820 angelegten "Schwellgraben" zum Freilichtmuseum bei Finsterau.
"Die Reschbachklause und der Schwellgraben sind Zeugnisse der Holztrift in unserer Region", erzählt Franz Uhrmann und erläutert, wie der Wasserreichtum der Region – allein im Nationalpark gibt es 760 Kilometer Bergbäche – früher genutzt wurde, um die gefällten Baumstämme mit Hilfe des in den "Klausen" aufgestauten Wassers talwärts zu schwemmen. Heute erhält der Nationalpark diese historischen Bauwerke als regionale Kulturdenkmäler. Nach der Mittagspause in der Tafernwirtschaft "D’Ehrn" geht es über den Lusensteig auf den "Bohlenweg" zum "Markfleckl" mit den alten Grenzsteinen an der bayerisch-böhmischen Grenze.
Auch hier reicht der Bergmischwald bis über 1200 Meter Höhe. Darüber stehen die nachwachsenden Bergfichten inzwischen mehrere Meter hoch im Saft und dominieren in sattem Grün das graue, tote "Käferholz". Der Lusen-Gipfel (1373 m) selbst ist waldfrei und besteht aus einer gewaltigen Blockschutthalde. "Die Granitfelsen über 20 Hektar Ausdehnung machen den Lusen zum markantesten Gipfel im Park", informiert Waldführer Franz. "Der riesige Steinhaufen ist über Jahrmillionen durch stetige Frostsprengung entstanden." Wir bleiben lange am Gipfel, balancieren zum Fotografieren über die mit Landkartenflechten überzogenen Felsblöcke, genießen den freien Blick bis zum Rachel und das abendliche Farbenspiel. Am nächsten Morgen holt uns Rainer Simonis am Lusenschutzhaus ab. Der Förster und Leiter der Nationalparkdienststelle Finsterau arbeitet seit 1993 für den Nationalpark und bestätigt während des Abstiegs nach Mauth die Entwicklung, die er als passionierter Fotograf festhält. "Nach 30 Jahren ist der Wald in großen Bereichen nachgewachsen, und auch die Artenvielfalt hat deutlich zugenommen", stellt er fest: "Die Windwürfe und der Borkenkäferbefall sind Auslöser für die Regeneration des Waldes gewesen. Sie haben Raum und Licht geschaffen, und die große Totholzmenge hat das Nährstoffangebot verbessert. Totholz ist nämlich die ‚Ammenmilch des Waldes‘ und die Basis für neues Leben. So entstanden Überlebensinseln für Arten mit sehr speziellen Lebensraumansprüchen, die in bewirtschafteten Forsten keine Chance haben. Dazu zählen zum Beispiel seltene Käfer – mit 1300 nachgewiesenen Arten sind Käfer die artenreichste Insektenordnung im Nationalpark."
Seltene Arten in hochspeziellen Lebensräumen
Dem Kurzbesuch im Tierfreigelände in Neuschönau folgt die letzte Exkursion im Gebiet um den Ort Zwieslerwaldhaus unterhalb des Großen Falkenstein (1315 m), das erst mit der Erweiterung 1997 in den Nationalpark integriert wurde. Entsprechend zeitversetzt läuft dort die Waldverjüngung ab. Allerdings gibt es hier Waldstücke, die teilweise seit mehr als 200 Jahren nicht mehr genutzt wurden und ihren Urwald-Charakter bis heute erhalten konnten. Neben dem Hans-Watzlik-Hain mit jahrhundertealten Tannen, Fichten und Buchen ist das vor allem der Urwaldrest Mittelsteighütte. Dort stehen vitale starke Baumriesen zwischen dem Totholz vieler in hohem Alter abgestorbener Buchen und Tannen, die seltenen Insekten und Pilzen – sogenannten Urwaldreliktarten – hochspezielle Habitate bieten.
Beispielsweise dem "Duftenden Feuerschwamm", von dem weltweit nur sieben Standorte bekannt sind. Er gedeiht unweit des Wanderweges an einem Baumstumpf. Eines von vielen Beispielen dafür, dass der Nationalpark Bayerischer Wald nach 50 Jahren engagierter Arbeit zu den "Hot Spots" der Artenvielfalt in Deutschland gehört.