Zwei Menschen auf der Greina Hochebene
Die Alpen überquerend, auf der Greina Hochebene. Foto: Sylvio Röske
Eine Schweizer Überschreitung

Wie es sich anfühlt, die Alpen zu überqueren

Gleich vorweg: Am Ende unserer Reise sollten die Schuhe schmutzig und unsere Augen leuchtend sein ...

Von: Sylvio Röske

Die Statistik im Kopf, die Berge im Herzen

Wir sind nach fünfzehn Tagen in Bellinzona am Schlusspunkt unserer Alpenüberquerung durch die Schweiz angekommen und haben nach Abschluss unseres Unterfangens gezählt: 238 km Wegstrecke, Aufstieg gesamt 11.164 Meter, Abstieg gesamt 11.787 Meter. Noch immer können wir es kaum glauben. Wir sitzen hier vor dem Bahnhof dieser wunderschönen Stadt im Kanton Tessin. Meine Partnerin Katja und ich stellen fest: Unser Herz ist noch immer in den Bergen. Und ausgerechnet an unserem letzten Tag hat uns doch noch die Sonne verlassen. Die Schuhe sind von den teils schlammigen Wegen des Regentages gezeichnet. In unserer Erste-Hilfe-Tasche fehlt am Ende unserer Reise lediglich ein kleines Blasenpflaster und außer drei Paar durchgelatschter Socken nehmen wir alles wieder mit nach Hause. Aber noch mehr. Wir sind reicher geworden. Reicher an Erlebnissen und jeder Menge Lebensglück.

Am Anfang: Viele Fragen

Sechzehn Tage zuvor: Die Bahn bringt uns aus der Leipziger Tieflandsbucht in die Schweiz. Nur 94 Meter über Null liegt unser Wohnort. Berge gibt es nicht, dafür flaches Land bis zum Horizont. Nun fahren wir also nach Monaten der Planung in die Alpen. Wir freuen uns, dass es endlich losgeht. In unseren gepackten Rucksäcken nehmen wir neben der Ausrüstung aber auch jede Menge Fragen mit: Wie wird es sich anfühlen ein Hochgebirge zu Fuß zu überqueren? Sind die individuell und mühevoll geplanten Etappen abseits der Modetouren gut zu bewältigen? Wird uns die Höhe zu schaffen machen und sind wir überhaupt schwindelfrei? Wird alles gelingen? Wir wissen es nicht. Wetter, Verletzung, Erschöpfung – die Möglichkeit des Scheiterns ist gegeben und dessen sind wir uns bewusst.
Angekommen in Weissbad im Appenzeller Land, regnet es in Strömen. Das Wasser des Brüelbachs ergießt sich als brauner, reißender Strom talwärts durch den Ort. Mut machend für unsere morgen beginnende Alpenüberquerung ist das nicht. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, dass wir in den nächsten zwei Wochen des Augusts von schönstem Sommerwetter fast ohne Regen begleitet sein sollten.

Aufstieg zum Gamserrugg. Foto: Sylvio Röske

Was wir brauchen, ist wenig

Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. In Brülisau an der Talstation zum Hohen Kasten schauen wir uns noch einmal tief in die Augen und erneuern lächelnd unser Versprechen, nicht einen Meter mit einer Seilbahn oder dem Bus zurückzulegen. Nur im Notfall. Den Weg zur Hundsteinhütte auf 1554 m ü. M. säumen rechts und links Alpengipfel. Wir staunen und stellen fest, wie klein wir hier doch sind.
Unsere Rucksäcke fühlen sich zwar schwer an, sind aber keine Last. Wir haben alles dabei, was wir brauchen werden und waren schon zu Hause erstaunt, wie wenig das sein soll. Schnell erkennen wir, dass es die Begegnungen sind, die eine Reise wertvoll machen. In unserer ersten Hütte lernen wir junge Bergwanderer aus der Schweiz kennen. Mit dabei Andrej, der einstmals Ziegen auf einer Alm hütete und Carolyn aus Kanada, die mit ihrer vierjährigen Tochter Victoria unterwegs ist.

Geplante Wege verlassen

Wir verlassen die Appenzeller Alpen und laufen schon am dritten Tag eine der schwierigsten Etappen unserer Alpenüberquerung. Die heutige Lektion fürs Leben heißt: „Es lohnt sich, geplante Wege zu verlassen.“

Statt aus rationaler Sturheit unserem geplanten Pfad zu folgen, laufen wir nicht den leichteren Weg – wir haben Lust auf mehr. Die Route über den Gamserrugg belohnt uns mit einem Panoramablick nach Österreich, Lichtenstein und das St. Gallener Rheintal sowie auf das Alpsteinmassiv. Wir blicken hier sozusagen zurück auf die ersten zwei Tage unserer Wandertour. Die nun folgende Überquerung des Nideripasses in Richtung Walenstadt wird für uns ungeübte Wanderer aus dem Flachland trotz herrlicher Aussicht dann zum Härtetest. Sie fordert erstmals unsere Schwindelfreiheit heraus und der sehr steile Abstieg über Geröllhalden erfordert höchste Konzentration und Trittsicherheit. Ganz anders ist dagegen am Folgetag der Weg am Südufer des Walensees: Für einige Kilometer tauschen wir die Wanderstiefel sogar in leichte Barfußschuhe aus.

Die Geschichten von draußen

Immer wieder schicken uns DAV-Mitglieder und andere Bergbegeisterte E-Mails mit tollen Geschichten und Erlebnissen von draußen in die Redaktion. Es sind Geschichten aus den Bergen oder anderswo in der Natur. Mit der Online-Rubrik "Geschichten von draußen" schaffen wir eine Möglichkeit, all diese Geschichten und Erlebnisse zu teilen. Und alle, die lieber lesen als schreiben, finden hier Unterhaltung, Inspiration und vielleicht schon Planungsgrundlagen für die eigene nächste Tour. Die Geschichten ersetzen keine individuelle und sorgfältige Tourenplanung.

Du hast auch eine Geschichte? Dann schick sie gerne an dav-panorama@alpenverein.de.

Gegen Ende jedes Jahres wird über die besten Geschichten abgestimmt – die Autor*innen der Gewinner-Storys dürfen sich über einen tollen Gutschein freuen.

Kleine Lektion der Alpenentstehung

Einen weiteren Tag später befinden wir uns auf dem Sardona-Welterbe-Weg. Im Unesco-Welterbe Tektonikarena Sardona führt uns der Weg zur Murgseehütte und zu den in einen wildromantischen Bergkessel eingebetteten drei Murgseen. Die Entstehung der Alpen lässt sich auf der Wanderung in diesem Gebiet eindrucksvoll nachvollziehen. Hier wird die Alpenbildung für uns in den nächsten zwei Tagen fassbar werden.

Am Oberen Murgsee. Foto: Sylvio Röske

Auf der Murgseehütte empfangen uns zunächst herzlich Hüttenwirt Franz und seine Familie. Wir sind tief im Bergland, für uns gefühlt im Irgendwo. Straßen gibt es hierher natürlich nicht und so bestaunen wir gebannt die Versorgung aus der Luft mit einem Helikopter. Es ist ein Fingerzeig, wie wertvoll hier oben auf 1817 m ü. M. alle Ressourcen sind. Strom für die Hütte gibt es aus einem Mini-Wasserkraftwerk am Berghang in 200 Metern Entfernung. Trinkwasser ist ein Luxusgut. Eine Dusche gibt es nicht – die Alternative ist für uns ein kurzes Bad im kalten Bergsee. Wir begreifen, was wirklich wichtig ist. Auch in der Murgseehütte gibt es reichlich Spannendes von den anderen Gästen zu erfahren. Und einen Sternenhimmel satt mit einem Blick auf die Milchstraße, wie wir es zu Hause nie erleben könnten.

Unsere Königsetappe

Wandern zwischen Regenwolken. Foto: Sylvio Röske

Tage später liegen der Auf- und Abstieg zum Segnespass hinter uns. Dabei gab es einen dieser Momente, von dem wir hofften, verschont zu bleiben: Ausgerechnet auf unserer Königsetappe, einem Aufstieg von Elm zum Pass auf 2627 m ü. M., warnte der Wetterbericht vor drohenden Gewittern. Die von unten aus dem Tal bereits morgens gesichteten Gewitterwolken in Gipfelnähe sollten später normalen Regenwolken weichen. Angst vor Gewitter ist doch ein mieser Begleiter. Der Aufstieg fühlte sich dabei so beschwerlich an, dass wir uns zwischendurch wünschten, ihn nicht angetreten oder wenigstens doch die ersten 400 m die Seilbahn genommen zu haben. Wir erreichten die Segnespasshütte erleichtert und glücklich zu Fuß. Aber die Anstrengung hatte sich gelohnt und wir genossen einen atemberaubenden Gipfelblick.

Segnespasshütte. Foto: Sylvio Röske

Die kleine Hütte, in der maximal zwölf Menschen einen Übernachtungsplatz finden können, befindet sich genau auf der Kantonsgrenze zwischen Glarus und Graubünden und wurde kurz vor dem Ende des 2. Weltkriegs 1944 von der Festungsgruppe Glärnisch gebaut. Früher diente diese Hütte den Soldaten als Gebirgsunterkunft und auch die MG-Stellungen in der Ostflanke der Tschingelhörner kamen darin unter. Strom gab es für uns nicht, die Sonne wollte sich hinter Regenwolken versteckt nicht blicken lassen und fließendes Wasser kam nur aus dem Regenfass. Dafür erwartete uns ein Dixiklo am Abhang, eine vom Holzofen gewärmte Stube und erlebnisreiche Bergwandergeschichten der Gäste.

Bergdohlen, ein unter uns gleitender Steinadler und ein Steinbock im Morgengrauen ließen sich in dieser kargen und unwirtlichen Gegend bestaunen. Diesem Steinadler auf seinem Gleitflug am Hang entlang von oben auf sein wunderschön gezeichnetes Gefieder schauen zu können war ergreifend. Während des Abstiegs nach Flims entlang des Flimser Wasserwegs begleitete uns stetig die Musik des Wassers über kunstvolle Brücken und spektakuläre Schluchten. Dieses kristallklare Wasser aus den Bergen wird seinen Weg finden: über den Vorderrhein, den Rhein bis zur Mündung nach Rotterdam, wo es sich dann in den Weiten der Nordsee verliert.

Am Flimser Wasserweg: Faszination Natur, ganz gleich, wie die Namen sind. Foto: Sylvio Röske

Alles verschmilzt

Die Tage auf unserer Alpenüberquerung verschmelzen zu einem großen Fühlen. Einen Aufstieg, eine Wanderung über eine Hochebene, zwei Hüttenübernachtungen und einen Abstieg später: Noch einmal haben wir den inneren Schweinehund steile Höhenmeter den Berg mit hinaufgetragen, um ihm zu zeigen, was Leben bedeutet. Wir spüren in uns hinein und geben der atemberaubenden Schönheit der Alpen einen Platz in unseren Herzen.

Es ist uns inzwischen weniger wichtig, wie Pass oder Gebirgsbach, Gipfel oder Berghütte heißen. Zuverlässig führt uns die Navigation stetig auf den geplanten Pfaden immer weiter südwärts. Unsere Wanderung ist zu einem körperlichen Wohlbefinden und einem demutvollen Einlassen auf die Natur geworden. Dieses Empfinden ist als vormals abstrakter Lebenstraum „Alpenüberquerung“ nun zu einer ganz persönlichen Reise für jeden von uns beiden geworden. Unsere Reisebegegnungen geben unserem Erleben dabei etwas Wertvolles. So hat uns Lydia aus Basel in ihrer Art des Weltendeckens teilhaben lassen: mit Leichtigkeit und Humor und so reizend zu Scherzen aufgelegt.

Abstieg

Die Greina Hochebene zählt zu den schönsten Landschaften ihrer Art. Zahlreiche Quellen gibt es hier, die Bäche und Flüsse speisen, welche entweder in die Nordsee oder in das Mittelmeer münden. Nur wenige Zentimeter entscheiden darüber, welchen Weg das Wasser nehmen wird. Vom westlichen Ende der Greina Hochebene, auf der Grenze zwischen den Schweizer Kantonen Tessin im Westen und Graubünden im Osten, auf einer Höhe von 2354 m ü. M. steigen wir aus der Welt in den Wolken wieder ins Tal ab. Ohne Tal kein Berg, so ist das eben. Auf diesem Stück des Weges begleitet uns Anja aus dem St. Gallener Rheintal und beantwortet mit ihrer herzlichen und bezaubernden Art geduldig unsere Fragen zu Land und Leuten aus der Schweiz. Ihre letzte Frage vor dem Abschied ist, ob wir noch einmal in die Schweiz kommen werden …

Noch zwei ganze Tage tragen uns unsere Füße auf historischen Wegen durch das Bleniotal bis nach Bellinzona. Wir sehen gut erhaltene Dörfer, kunsthistorische Schätze, Bauwerke der Romanik und andere wertvolle Zeugen der Kunst und Architektur. Am Ende unserer Reise sitzen wir erschöpft aber glücklich auf einer Bank vor dem Bahnhof Bellinzona. Unsere Wanderschuhe sind schmutzig und unsere Augen leuchten.

Über den Autor

Sylvio Röske (48) lebt nördlich von Leipzig, in der Kleinstadt Delitzsch. Berge gibt es dort weit und breit nicht, dennoch ist er Mitglied im Deutschen Alpenverein, Sektion Leipzig.

Gemeinsam mit seiner Partnerin Katja wollte er sich bereits 2020 einen großen Lebenstraum erfüllen: einmal über die Alpen wandern. Alles war geplant und die Hütten reserviert. Doch dann kam Corona, alles wurde wieder storniert und "auf Null gedreht". Zwei Jahre später haben sie ihre Pläne wieder aus der Schublade geholt und im August 2022 ihren Traum wahr werden lassen.

Der Autor Sylvio mit seiner Partnerin Katja. Foto: Sylvio Röske

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