Dabei hatten wir vor vielen Stunden noch nicht ahnen können, dass wir es tatsächlich heute hier herauf schaffen, auf den mächtigen Hocharn, den König der Goldberggruppe. Denn in der Nacht vorher hatte es geschneit und es war unklar, wie genau die Bedingungen am Berg sind und wie viel Schnee wirklich gefallen ist. Der Dreitausender verlangt sichere Bedingungen, seine Hänge sind riesig.
An unserem ersten Skitourentag brechen wir also zu dritt vom Naturfreundehaus in Kolm-Saigurn auf und spüren erstmal rein in die Ausläufer dieses großen Berges.
Zu unserer Erleichterung stellen wir fest, dass der Schnee ohne wesentlichen Windeinfluss gefallen ist, und so schrauben wir uns vorsichtig immer höher. Kehre um Kehre, Absatz um Absatz, alle drei im Wechsel, es ist enorm kräftezehrend. Wir legen heute tatsächlich die erste Spur hinein. So ein Erlebnis ist selten geworden, da muss man schon vor Ort übernachten, denn der Weg hierher von München ist weit und normalerweise ist immer jemand schon vorher da. 1800 Höhenmeter arbeiten wir uns Stück für Stück nach oben und endlich, nach sechs Stunden, stehen wir ganz oben auf exakt 3254 Metern. Heute sind wir Glückskinder. Jetzt geht es über die weiten unverspurten Hängen hinunter ins Tal, es staubt gewaltig – ein Pulvertraum von oben bis unten. Carpe diem!
Vom Winde verweht – umdrehen oder weitergehen?
Bei diesen tollen Bedingungen entscheiden wir uns spontan, noch eine weitere Nacht im gemütlichen Naturfreundehaus zu bleiben. Denn gleich gegenüber vom Hocharn steht sein nicht weniger berühmter Nachbar: Der Hohe Sonnblick, etwas niedriger, aber ebenfalls ein stolzer Dreitausender. Akklimatisiert sind wir jetzt bestens und Zeitdruck für unsere Tauerndurchquerung haben wir auch nicht. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Der zweite Tag begrüßt uns noch recht freundlich, aber dann geht es gleich während der ersten Stunde im Aufstieg los. Ein eisiger Wind setzt ein und bläst uns fast aus der Spur. Wie eine riesige Turbine irgendwo da oben am Kamm, die plötzlich jemand eingeschaltet hat. In der Wetterprognose stand freilich nichts davon. Zum Glück kommen wir auf dem Weg nach oben am Neubau des Schutzhauses vorbei. Das Haus ist leider zu dieser Jahreszeit geschlossen, vielleicht gut so, denn wenn wir erstmal im Warmen beim zweiten Kaffee gesessen wären, hätten wir uns vielleicht nicht mehr vor die Tür gewagt. Jetzt stehen wir mit einem Dutzend Gleichgesinnter frierend im Windschatten und überlegen.
Tatsächlich, der Sturm ist kurze Zeit später nur noch ein laues Lüftchen und so folgen wir drei einer kleinen Gruppe ebenfalls motivierter Skibergsteiger*innen, die netterweise heute die Spur zum Gipfel legt. Es ist nach dem gestrigen Tag auch mal angenehm, einfach hinterher zu laufen.
Vom Charakter ist diese Tour komplett anders als drüben beim Hocharn. Auf dieser Seite liegt viel weniger Schnee und der schlanke Gipfel mit dem Observatorium und dem beliebten Zittelhaus ist schon aus der Senke heraus sichtbar. Das Ziel scheint so nah, aber trotzdem müssen wir noch etliche Höhenmeter und Strecke absolvieren, bis wir am höchsten Punkt ankommen. Einen Tag vor der offiziellen Öffnung des Hauses sind heute nur wenige Leute hier oben. Die Tür zum Vorraum der Gaststube ist geöffnet und es steht sogar schon eine Kiste Getränke auf Vertrauensbasis da. Noch nie hat ein Naturradler so gut geschmeckt.
Der Hund muss es wissen
Auf einmal biegt ein kleiner Hund um die Ecke, wo kommt der denn jetzt her? Wohnt er vielleicht bei den Mitarbeitern des Observatoriums nebenan? Es stellt sich heraus, dass er unserem Hüttenwirt im Rauriser Tal gehört und ein leidenschaftlicher Bergsteiger ist. Viele Dutzende Male muss er hier oben schon gewesen sein, er kennt den Weg zum Hohen Sonnblick sicherlich am allerbesten. Brav wartet er, bis sich die letzte Gruppe auf den langen Weg nach unten klarmacht – das sind wir! Dann fetzt er zusammen mit uns im Schnee hinunter. Für einen zweiten Pulvertraum hat es nicht mehr gereicht, dafür hat der Sturm gesorgt. Aber zwei so stolze Berge hintereinander bei so außergewöhnlichen Verhältnissen zu besteigen, erfüllt uns mit tiefer Zufriedenheit und Dankbarkeit.
Eigentlich ahnen wir schon, dass es so prächtig nicht weitergehen wird, als wir die Wetterprognosen für die nächsten Tage nach dem Abendessen lesen. Der starke Wind kündigt einen Wetterumschwung schon in der Nacht an, unser geplanter Weiterweg zur Duisburger Hütte über eine steile Scharte südlich vom Hohen Sonnblick wird dadurch viel zu heikel. Das haben wir bei der heutigen Abfahrt auch schon vermutet, als wir öfter mal hinübergeschaut haben. Pläne sind dazu da, um sie zu ändern und auf einer Skisafari muss man immer flexibel bleiben. Wir stecken die Köpfe zusammen und überlegen, wie wir die kommenden Tage gestalten sollen. Gar nicht so einfach, die nächsten Unterkünfte sind zu weit entfernt oder wegen der erwarteten widrigen Verhältnisse nicht erreichbar. Aus dem Tal rausfahren und die ganze Tour abbrechen? Ganz so schnell geben wir nicht auf. Herrmann, der Hüttenwirt des Naturfreundehauses, bekommt unsere Diskussion mit und meint nur: „Geht doch zum Valeriehaus hinüber nach Sportgastein und sagt dem Otto viele Grüße von mir. Das ist ein feiner Kerl, bei dem könnt ihr übernachten!” Wir verfolgen die Route auf der Karte und tatsächlich, das ist eine machbare Option auch bei schlechteren Bedingungen. Der Plan für den morgigen Tag steht, unsere Skisafari kann weitergehen.
Ja, der Herrmann hat das Herz auf dem rechten Fleck, das haben wir bereits bei unserer Ankunft mit dem letzten Linienbus mitbekommen, der am späten Sonntagnachmittag ins Tal hineinfährt. Nicht nur wir drei, sondern noch ein paar weitere Gäste reisen mit den Öffis an und alle sollen zum Abendessen auf der Hütte sein. Deshalb gibt es ausnahmsweise eine Gratis-Auffahrt von der Bushaltestelle mit dem hauseigenen Pick-Up. Weil nicht alle in die kleine Kabine passen, nehmen Ole und Michael in Decken gehüllt hinten auf der Ladefläche bei den Ski Platz. Eine kurvenreiche Auffahrt erwartet uns, leicht durchgefroren kommen wir nach 30 Minuten Fahrt endlich beim Haus an und freuen uns auf das warme Essen.
Wir fühlen uns wie Könige – im gemütlichen Valeriehaus
Das Wetter ist jetzt wie erwartet alles andere als sonnig und wieder dürfen wir spuren. Die Bockhartscharte am Übergang Richtung Skigebiet erreichen wir bei wenig Sicht, dann folgt eine schöne Abfahrt hinunter zu einem Stausee, dessen Rand wir bis zu einer Staumauer folgen. Nochmal geht es recht steil auf einem Ziehweg hinunter und dann stehen wir in Sportgastein, einem recht überschaubaren Außenposten des Skibetriebs rund um Bad Gastein. Viele Häuser gibt es nicht hier oben, eines davon ist das Valeriehaus. Ein traditionsreicher Bau mit Sonnenterrasse, Bar und Restaurant und eben den wenigen, sehr gemütlichen Zimmern. Perfekt für uns, der dritte Tourentag ist auch ohne Gipfel wieder recht lang geworden, herüber vom Rauriser Tal. Wir sind wirklich froh, dass wir so gut durchgekommen sind und lassen uns erschöpft und zufrieden bei Verlängertem und Himbeerstrudel erstmal nieder.
“Nach Liftschluss sind wir unten in Bad Gastein, bedient Euch einfach am Getränkekühlschrank und schreibt es auf, ich komm dann um acht Uhr mit dem Frühstück wieder rauf.” Otto, der lässige Wirt, hat viel Vertrauen in seine Übernachtungsgäste, das ehrt uns. Und wir haben wirklich Durst. Die Musikanlage läuft weiter, der Schwedenofen ebenso. Ein wirklich toller Gastgeber, der in einer Szene-Bar bestimmt auch eine gute Figur abgeben würde. Lediglich zwei Stammgäste, die hier seit Jahren übernachten, teilen sich mit uns das große Haus, es ist der pure Luxus. Pünktlich um 8 Uhr morgens wird das Frühstück aufgedeckt, es gibt selbstverständlich frische Semmeln aus der Bäckerei. Der Hausherr bedient uns persönlich und zaubert noch ein fantastisches Rührei dazu.
Die Stimmung ist gut, das Wetter mittelmäßig und so steigen wir gut gestärkt und ausgeschlafen erneut zum Staudamm auf. Nach der Mauer zweigen wir nach rechts ab bis zur Miesbachlscharte. Bei guten Bedingungen könnten wir noch den Silberpfennig einbauen, ein sehr schöner Skitourenberg, aber heute ist Bruchharsch vom Feinsten angesagt und nach einem langen Gegenanstieg über Wald- und Freeridegelände erreichen wir schließlich die Bergstation der Jungeralmbahn. Hier wird zum letzten Mal abgefellt. Unverspurt ist in der Gegend nichts mehr, aber das ist uns nach den letzten drei sehr erlebnisreichen Tagen egal. Über die Skipiste gelangen wir fast bis zum Bahnhof Bad Gastein mit ÖBB Railjet-Anschluss direkt nach München. Besser kann eine entspannte Rückreise nicht laufen. Auch wenn es dieses Mal nicht die ganz große Durchquerung geworden ist, sind wir mit dieser Skisafari mehr als glücklich. Und man braucht ja schließlich noch Pläne für das nächste Jahr.