An diesem Tag im Februar 2021 war es seltsam still an der Auenhütte. Eine schmal gefräste Fahrspur leitete zum Großparkplatz, der sich unter der meterhohen Schneedecke nur erahnen ließ. Noch unklar war die Rechtslage, ob das Kleinwalsertal von Deutschland aus besucht werden darf. Schließlich waren die Grenzen zu Österreich und der Schweiz wegen Corona gesperrt. Doch wer sich her traute, erlebte Einzigartiges, denn die Tage zuvor hatte es satt, fast ohne Wind einen dreiviertel Meter geschneit. Dort, wo heute Seilbahnen die Pistenaktiven zum Gottesacker hinaufbefördern, war vor Jahrzehnten ein beliebtes Skitourengebiet, das sich plötzlich wieder fast menschenleer darbot. Glück war an jenem Februartag, dass sich ein paar Einheimische schon auf den 800-Höhenmeter-Weg zum Hahnenköpfle gemacht hatten, sonst hätte harte Spurarbeit gewunken. Was dann folgte, lässt sich nicht in Worte fassen, zumal auch noch die Sonne hervorkam.
Was für ein großer Tag in einer irrsinnigen Zeit, die sich einschneidend für die Menschen im Tal auswirkte. Wo sich Winter für Winter Hundertausende Gäste tummeln, waren auf einen Schlag alle Unterkünfte und Bahnen geschlossen. Niemand wurde bewirtet, niemand befördert. Das gab es noch nie. Einzig zum Tourengehen kamen nach und nach immer mehr Aktive, denn schnell hatte sich herumgesprochen, dass für den Aufenthalt im Kleinwalsertal eine Corona-Sonderregel galt. Und so genossen viele es, den ganzen Winter lang die Skigebiete für sich zu haben, was den Ansturm auf die Tourengebiete und damit den Druck auf die Natur am Ende nicht ganz so groß werden ließ, wie anfangs zu befürchten war.
Tourismus im Einklang mit Natur und Gästen
Seit Generationen leben die Menschen hier von und mit ihren Gästen und im Einklang mit Natur, Landschaft und Traditionen – ein paar Bausünden seien verziehen. Sie schätzen die hohe Lebensqualität im Tal, die sie gerne teilen. Treffend beschreibt das die Broschüre „Walser Omgang“ von 2013: „Als die ersten Oberwalliser aus der Schweiz um das Jahr 1270 in das damals noch unbewohnte Breitachtal gewandert sind, haben sie einen Freiraum zur Entfaltung ihrer ureigenen Talente und Stärken vorgefunden. Daraus entwickelt hat sich eine Lebenskunst, die auf die wesentlichen Werte ausgerichtet ist: Selbstbestimmtheit, Selbsterfüllung und Nachhaltigkeit – ein Leben im Rhythmus der Natur.“
Folge dieser Lebens- und Denkweise ist das Ergebnis einer Volksabstimmung, als es Ende der 1990er Jahre um die Frage ging, ob das Kleinwalsertal autofrei werden sollte. Man entschied sich dagegen, schuf dafür den Walserbus, ein für Einheimische günstiges und für Übernachtungsgäste kostenloses Nahverkehrssystem, das selbst die Schweiz nicht besser hinbekommen könnte. Fünf Linien, eng getaktet, erreichen fast jeden Winkel des Tales.
Zurück auf Tour, im Gespräch mit Dominik, dem neuen Wirt der Schwarzwasserhütte: Er ist Ski- und Bergführer, ein Urgestein im Tal, berät kompetent seine Gäste, hat auch kulinarisch Expertise. Doch wie überzeugt ist er vom Naturschutz, wird er dafür einstehen wie seine Vorgänger? Wird er deren Geist weitertragen? Den Geist, der aus der Schwarzwasserhütte herauswehte und half, dass sich fast 100 Prozent der Aktiven an die Regeln des Konzepts „Skibergsteigen umweltfreundlich“ gehalten haben. Vor Jahren wurden hier Lenkungsmaßnahmen mit Routenempfehlungen als Prototyp für die Bayerischen Alpen Entwickelt, und Dominik steht hinter ihnen, genauso wie hinter der Kleinwalsertaler Initiative „Natur bewusst erleben“. So überrascht es beim anschließenden Blick vom Steinmandl nicht, dass alles beim Alten ist: Ski- und Schneeschuhspuren auf den weiten Skiwiesen unter dem Hählekopf, keine dort, wo Gams, Schneehase und Birkhuhn am besten durch den Winter kommen. Verglichen mit „Skibergsteigen umweltfreundlich“ ist „Natur bewusst erleben“ weiter gefasst. Sämtliche Konflikte touristischer und anderer Nutzungen im Tal wurden couragiert unter die Lupe genommen und mit den Anforderungen von Natur und Landschaft Abgeglichen. Die Lösungen sind komplex, erste Umsetzungsschritte sind auf den Weg gebracht.
Touren-Hotspot Baad
Szenenwechsel, Samstag, 5. März 2022 am Touren-Hotspot im Tal schlechthin, dem Wanderparkplatz in Baad: Das attraktive Bus-Angebot hat offenbar bei vielen noch keinen Anklang gefunden, denn der Parkplatz füllt sich rasend schnell. Dass es unter den Eintreffenden eine gewisse Unruhe gibt, mag an der Kälte des Morgens liegen. Manche scheinen ihre Tour erst jetzt zu planen, wischen, was das Zeug hält, als wüsste das Handy, wo der Schnee am besten ist. Dann strömen sie in die Seitentäler, leider eher flüchtig der Blick auf die neuen Infotafeln, die auf die Schutzgebiete hinweisen. Unser Ziel ist das Karlstor und weil wir den herrlichen Tag ausnutzen wollen, hängen wir den Gamsfuß noch an. Es liegt nicht halb so viel Schnee wie im Winter zuvor; mehr als neun Meter Neuschnee pro Winter sind es im Durchschnitt, die das Kleinwalsertal im Schnee versinken lassen. Zu verdanken ist das dem schüsselförmigen, zur Anströmung der Luft hin geöffneten Relief am Alpennordrand, das bei Nord- bis Westwetterlagen die Feuchte in die Höhe hebt und es im Stau der Berge anhaltend schneien lässt. Strömt die Luft über den nahen Bodensee, nimmt sie zusätzlich Feuchtigkeit auf. So kann das Tal trotz Schwankungen wohl noch eine Weile Schneesicherheit garantieren.
Die schönsten Skitouren im Kleinwalsertal (s. Karte Infokasten)
Viel Schnee brauchen die Latschen an der Walser Hammerspitze. 2022 ließen sie manche verzweifeln, während es im Jahr zuvor ein Spaß war, sie im zarten Firn zu umkurven. Dieser Berg ist Teil der einzigartigen Gebirgskulisse, die das Wildental wie ein Hufeisen umschließt. Die Touren dort sind anspruchsvoll. Wenn es passt, kommt Freude auf. Diese wird allerdings ein wenig getrübt, angesichts der Erkenntnis, dass Kompromisse im Zuge des Projekts „Natur bewusst erleben“ auch schmerzen können. Manches Steilgelände, über das Versierte bisher bei Top-Bedingungen abgefahren sind, ist jetzt tabu. Teils nachvollziehbar zum Schutz der Natur, teils aus jagdlichen oder sonstigen Gründen, genau wissen es selbst Eingeweihte im Einzelfall nicht. Einen kleinen Spielraum, dies vielleicht zu optimieren, gibt es noch. Doch selbst wenn nicht, mit etwas Demut lässt sich das verkraften.
Mal ehrlich, ist es nicht großes Glück, eine so vielgestaltige, schneesichere, leicht erreichbare, landschaftlich spektakuläre Skiwelt mit gefühlt endlosen Abfahrtsmöglichkeiten wie das Kleinwalsertal zumindest aus süddeutscher Sicht direkt vor der Nase zu haben? Wir können dorthin reisen, wann immer wir wollen, und sind willkommen. Zu hoffen ist, dass dies so bleibt, denn die neue Zeit wird auch das Kleinwalsertal und seine Gäste verändern. „Do gsi, schö gsi“ ist das Motto der Frassenhütte im Großen Walsertal, im Kleinwalsertal hieße das: „da gsee, schöö gsee“ und meint schlicht: Wir sind hier gewesen und es war schön! Auf ein Neues!
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Kleinwalsertal
Anreise: Das Kleinwalsertal ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestens erreichbar. Mit der Bahn bis Oberstdorf, von dort weiter mit dem Walserbus (im Kleinwalsertal mit Gästekarte gratis, von/bis Oberstdorf kostenpflichtig). Alle Skitouren-Ausgangspunkte lassen sich mit dem Walserbus bequem erreichen.
Fahrplan unter kleinwalsertal.com,
Übernachtung/Info: Im Winter geöffnete Alpenvereinshütten: Schwarzwasserhütte, Mahdtalhaus. Informationen über Unterkünfte und das Projekt „Natur bewusst erleben“: kleinwalsertal.com, gde-mittelberg.at
Führer/Karte:
Rath, Kristian: Allgäu mit Kleinwalsertal und Tannheimer Tal,
Skitourenführer, Panico Alpinverlag 2021, € 26,80Stephan Baur: Allgäuer Alpen und Lechtal, Skitourenführer, Bergverlag Rother 2021, mit DAV-Gütesiegel „Natürlich auf Tour“, € 16,90
AV-Karte BY 2 „Kleinwalsertal, Hoher Ifen, Widderstein“, 2022, € 8,50 (Mitglieder), dav-shop.de