Einmal, zweimal … und noch ein drittes Mal saust der dicke, aus einer Reepschnur geflochtene Strick auf den Allerwertesten der Bergsteigerin. Doch die junge Slowenin schaut keineswegs leidend, sondern sogar ziemlich stolz. Dafür hat sie einen guten Grund: Sie steht heute am Hauptgipfel des Triglav und somit am höchsten Punkt ihres kleinen, feinen Landes. Wie es sich bei einer individuellen Erstbesteigung gehört, nimmt die junge Frau strahlend die traditionelle Triglav-Taufe in Empfang. Diese beinhaltet bei einem dreiköpfigen Gott – und als kein Geringerer wird der Triglav mit seinen zwei Nebengipfeln gehandelt – eben drei rituelle Popo-Schläge. Vor dem grinsenden Milan, der das Amt des Hohepriesters vollzieht, warten noch vier weitere Triglav-Frischlinge. Auch meine Berg-Spezis Jana, Silke und Wolfgang stehen heute zum ersten Mal am 2864 Meter hohen Gipfel, wagen es aber nicht, sich in die kleine Schlange der Täuflinge einzureihen.
So kann Milan bald Feierabend machen und den Jubiläumskuchen anschneiden, den er heute für seine fünfzigste Triglav-Besteigung kredenzt bekommt. Wie seine Freunde die zweistöckige Sahnetorte vom Vrata-Tal aus 1900 Höhenmeter unbeschadet heraufgetragen haben, bleibt ihr Geheimnis.
Wildes Gebirge mit Luft unterm Hintern
Diese nicht alltägliche Gipfelszene ist nicht nur topografischer Höhepunkt einer viertägigen Runde im Triglav Nationalpark, bei der wir neben überwältigenden Landschaftseindrücken mit den Klettersteig-Klassikern „Bambergweg“ und „Jubiläumsweg“ auch möglichst viel Luft unter dem Hintern erleben möchten. Schließlich ist das wilde Gebirge südlich des Tals der Save mit dem Bergstädtchen Kranjska Gora für steile Felswände berühmt, die in tief eingeschnittene Täler abstürzen. Und in einem davon fließt die wunderschöne Soča. Unweit der Sočaquelle, beim verschlafenen Weiler Trenta, verlassen wir das Tal mit dem sprudelnden Fluss. Jetzt geht es auf ins Gebirge. Und wie! Satte 1450 Höhenmeter trennen uns von der ersten Berghütte. Da kommt der alte Saumpfad aus dem Ersten Weltkrieg gerade recht. Mit oft kunstvoll angelegten Trockenmauern führt der historische Steig in konstanter, angenehmer Steigung nach Osten bergan. Prächtig strahlt die slowenische Sonne an diesem schönen Juli-Wochenende. Trotzdem sind wir beim Aufstieg nahezu alleine unterwegs. Unser Ziel, die Hütte Zasavska Koča na Prehodavcih, ist hingegen gut besucht. Die großartig gelegene und ziemlich kleine Unterkunft trägt den Namen Berghütte noch zurecht.
Im engen, aber gemütlichen Innenraum sind die Abstandsregelungen des ersten Corona-Bergsommers nicht konsequent einzuhalten. „Zum Glück drücken die Behörden bei uns ein Auge zu. Sonst müssten wir die Hütte komplett dichtmachen“, sagt Vesna, die zusammen mit Thea und Aljaž die Hütte bewirtet. Das genauso junge wie sympathische Team spricht perfekt Englisch und hat nicht die geringsten Probleme mit der einfachen Ausstattung. „Unsere Gäste haben zum Glück keine großen Ansprüche und erwarten bei uns bestimmt keine heiße Dusche“, grinst Aljaž, der im Winterhalbjahr als Baumpfleger sein Geld verdient. Seine beiden Kolleginnen finanzieren mit dem „Hüttengeld“ ihr Studium in der Hauptstadt Ljubljana. Nach einem einfachen, aber guten Eintopf und einer erstaunlich stillen Nacht im vollen Matratzenlager verabschieden uns die drei am nächsten Morgen herzlich in einen nicht ganz gewissen Bergtag. Wie vom Wetterbericht vorhergesagt, ziehen dichte Wolken um die umliegenden Gipfel. Das ist auch der Grund dafür, warum wir unsere Nationalpark-Runde gegen den Uhrzeigersinn drehen und die spektakulären Klettersteig-Abschnitte an den letzten beiden Tagen angehen wollen, wenn das Wetter hoffentlich wieder besser ist.
Der beeindruckende „Dreiköpfige“
Bei der heutigen Überschreitung des gutmütigen Kanjavec sollte auch der eine oder andere Regenschauer kein Problem darstellen. Schließlich können wir nach dem Normalanstieg von Westen zwischen dem teils versicherten Nordabstieg und dem etwas leichteren Ostrücken wählen. Wir haben Glück. Zwar lecken an dem aus der unwirklichen Karstlandschaft aufragenden Gipfel kühle Nebelschwaden, doch es bleibt trocken und wir können auf dem direkten Nordabstieg schon heute etwas Stahlseil-Feeling schnuppern. Danach gönnen wir uns auf der am Weg gelegenen Hütte Koca na Doliču einen leckeren slowenischen Kaffee. Der Schlussanstieg des zweiten Tages bringt uns schließlich zur wuchtigen Dom-Planika-Hütte, hinter der noch wuchtiger der Gipfelaufbau des Triglav aufragt.
Der von allen Seiten her beeindruckende „Dreiköpfige“ wird im Land zwischen Karawanken und Meer sehr verehrt: Der Triglav prangt auf dem slowenischen Staatswappen und der Nationalflagge. Und auch auf die 50-Cent-Münze wird sein stilisiertes Antlitz geprägt. Der Kult um den Gipfel hat auch historische Gründe. 1944 zerschlugen Partisanen den alten Gipfel-Grenzstein zwischen Italien und Deutschland und hissten die slowenische Fahne, genau wie später die Unabhängigkeitskämpfer am 26. Juni 1991. Der eiserne Gipfelturm wurde vom Priester Jakob Aljaž erbaut, nach dem auch das nordseitige Triglav-Haus benannt ist: Als die Bergsteiger des deutsch-österreichischen Alpenvereins Ende des 19. Jahrhunderts begannen, auch in Slowenien Hütten zu bauen, kaufte der Priester 16 Quadratmeter am Gipfel. Und stellte das runde Türmchen drauf. Ein Akt patriotischer Subversion gegen die herrschenden Habsburger. Der Triglav wurde so zum Symbol für die Unabhängigkeit Sloweniens.
Wie schon am Vorabend werden wir auf der Hütte Dom Planika von einem jungen Hütten-Team bewirtet, das wieder perfekt Englisch spricht. Im Gegensatz zum Vortag können auf dem großen Berghaus Corona-Abstandsregeln problemlos eingehalten werden, was einen unverhofften Nebeneffekt hat: Wir genießen ein komplettes Acht-Betten-Lager ganz für uns allein und somit eine äußerst geruhsame Nacht. Und das ist auch gut so. Denn Tag drei ist nach einem wunderschönen Ostgrat-Aufstieg in der weichen Morgensonne am Triglav-Gipfel samt der bereits geschilderten Taufzeremonie noch lange nicht zu Ende. Ganz im Gegenteil. Jetzt geht es in Sachen „alpiner Anspruch“ erst richtig los. Wie schwer wird der „Bambergweg“ im Abstieg wohl sein? Immerhin handelt es sich um einen Klettersteig der Schwierigkeitsstufe C. Nach dem Abstieg über den leichteren Gipfel-Klettersteig und eine schotterreiche Karschwelle kommen wir gleich zu Beginn des „Bambergwegs“ aus dem Staunen nicht heraus. Ab jetzt bieten sich immer wieder tolle Aussichten in die gewaltigen Steilabbrüche des Triglav.
Mit einer Breite von drei Kilometern und bis zu 1500 Meter Höhenunterschied zum Talboden des Vratatals gehört das senkrechte Felsenmeer zu den ganz großen Nordwänden der Alpen. Nach kurzer Zeit gewöhnen sich unsere Augen aber an die schwindelerregenden Tiefblicke und wir können das Steigen und Klettern genießen. Wie es sich für einen klassischen Klettersteig gehört, sind keineswegs alle Felspassagen mit Stahlseilen gesichert, so dass man alle Griffe und Tritte gut auf ihre Festigkeit hin überprüfen muss. Zum Glück haben viele Bergsteiger-Generationen am „Bambergweg“ loses Gestein größtenteils abgeräumt. Wir kommen zügig voran und meistern auch die Schlüsselstelle problemlos, die sich ganz am Schluss in Form einer senkrechten Felsplatte präsentiert.
Alpine Reize auf dem Jubiläumsweg
In der Luknja-Scharte angekommen, machen wir eine ausgiebige Brotzeitpause. Schließlich liegt die Überschreitung des Bovški Gamsovec und mit ihr gute 600 Höhenmeter noch vor uns, bevor wir auf der Hütte Pogačnikov dom mit einem kalten Bier Laško pivo auf den genauso langen wie grandiosen Tag anstoßen. Noch wissen wir nicht, dass der Folgende noch beeindruckender sein wird.
Mit etwas müden Oberschenkeln steigen wir am Beginn der letzten Etappe zur Scharte südlich des Razors auf, den Silke am liebsten auch noch mitnehmen würde. Da von Westen her aber eine heftige Gewitterfront im Anmarsch ist, die am Nachmittag auch die Julischen Alpen erreichen soll, steigen wir gleich auf einem anspruchsvollen, größtenteils seilversicherten Steig zum Škrbina-Sattel hinab. Hier wird es noch einmal richtig spannend. Schon in der ersten halben Stunde zeigt uns der „Jubiläumsweg“ (Jubilejna pot), wo der Hammer hängt. Eine senkrechte Felswand wird mittels (nicht allzu üppig platzierter) Eisenstifte schwindelerregend erklommen, beziehungsweise gequert. Niemand von uns möchte hier das solide Stahlseil missen. Später sind leichtere, aber fast genauso ausgesetzte Passagen des 1953 zum sechzigjährigen Jubiläum des Slowenischen Alpenvereines eröffneten „Jubiläumswegs“ auch mal ohne helfendes Stahlseil zu meistern, was den alpinen Reiz der Tour noch steigert. Landschaftlicher Höhepunkt des „Jubiläumswegs“ ist schließlich das Zadnje okno: Durch das gewaltige Felsenfenster gelangen wir mitten durch den Berg auf die Nordseite des Prisojnik-Massivs, wo es weiter in Richtung Gipfel geht. Dort liegen wir uns in den Armen, wohl wissend, dass der abschließende Abstieg zum Vršič-Pass vergleichsweise ein Kinderspiel ist.
Auf dem Weg dorthin verabschiedet uns der Triglav Nationalpark noch mit einer letzten Zugabe: Der Pfad führt mitten durch die üppigsten Edelweißwiesen, die ich in meinem gesamten Bergsteigerleben jemals zu Gesicht bekommen habe.