Zufallstreffer sind auf einer Radreise immer willkommen. So wie jetzt, Mitte Juni im Salzkammergut. Heute Morgen ging es los in Gosau. Nach einem Fünfhundert- Höhenmeter-Anstieg pirscht sich von hinten ein E-Biker heran. Wir kommen ins Plaudern. Auf das woher, wohin, verrät er einen Tipp: „Fahr zum Löckermoos! Das wurde bei einer ORF-Sendung zum schönsten Platz in Oberösterreich gewählt. Hast du eine Karte? Ich zeig’ dir den Weg!“ An der Badstub’n Hütte stelle ich das Fahrrad ab und wandere im Wald den Steig hinauf. Von dort führt ein Holzbohlenweg zu einer mit Latschen und Heidebüschen eingefassten Wasserfläche. Darin steht das Zackenband des Dachsteins Kopf. Besonders für solche Panoramen ziehe ich auf zehn Etappen durch Österreich.
Im Wald hier oben hat es angenehme zwanzig Grad. Eigentlich möchte ich gar nicht runter von dem Hochplateau, mit 1500 Metern der höchste Punkt der Radroute „BergeSeen eTrail“. Nun warten tausend Höhenmeter Abfahrt. Mehrmals halte ich an, um den Bremsen, den Händen und den Augen eine Pause zu gönnen. Wieder wechselt das Bild der Landschaft. Auf die sattgrünen Wiesen mit Löwenzahnblumen folgt eine Klamm mit schwindelerregenden Tiefblicken. Schnell ist Hallstatt erreicht. In der Jungsteinzeit zog es Menschen in diese siedlungsfeindliche Berggegend. Sie suchten eine Kostbarkeit – Steinsalz. Seit der Entdeckung des Gräberfelds am Salzberg im Jahr 1846 zählt Hallstatt zu den bedeutendsten archäologischen Fundstellen Europas. 1997 erteilte die UNESCO den Ritterschlag und zeichnete den Ort als Welterbe aus.
Ach, das Salzkammergut! Schon Kaiser Franz Joseph I. wusste, wo es im Reich besonders malerisch ist. Verbrachte er doch mit der Familie jahrzehntelang seine Sommerfrische in Bad Ischl. Heutzutage ist es hier immer noch beschaulich: Immer wieder öffnen sich die Berge und geben den Blick frei auf einen See – darunter Perlen wie Fuschlsee, Wolfgangsee und Vorderer Gosausee. Mal fächert ein Bach kühle Luft zu, dann wieder stürzt ein Wasserfall in die Tiefe. Sich treiben lassen, die Natur spüren und gespannt sein, was als Nächstes hinter der Wegbiegung kommt. Wenn ich etwas auf den Radreisen in Österreich gelernt habe, dann dies: raus aus den Tourismuszentren und rauf auf die naturnahen Routen, die verborgenen Passagen zwischen den Gebirgsgruppen. Und davon gibt es im Lande viele.
Altaussee im steierischen Salzkammergut markiert das nächste Tagesziel. Es ist vielleicht der idyllischste Ort der Reise. Keine zweitausend Menschen leben in der Gemeinde. Villen am Fuße der Berge, nebenan der See, ringsum Wiesen und viel Ruhe.
Frühmorgens geht es mit dem Rad zum hiesigen Salzbergwerk. Es ist das größte aktive Österreichs. Wir sausen auf Bergmannrutschen hinab in den Stollen und bestaunen den unterirdischen Salzsee. Die Begleiterin erzählt, dass die Nazis 1943 bis 1945 ihre zusammengeraubten Werke von Michelangelo, Dürer, Rubens und Vermeer hierher schafften. Die dramatischen Ereignisse kann man in den Filmen „Ein Dorf wehrt sich“ und „Monuments Man“ nacherleben. Bekanntheit erlangte dieser Flecken Erde auch durch den James Bond Film „Spectre“.
Das Gefühl, durch eine Filmkulisse zu radeln, habe ich seit Tagen. So auch am Grundlsee am Fuß des Toten Gebirges. Der „BergeSeen eTrail“ steigt erneut an. Sein höchster Punkt liegt heute bei den Salza-Almen auf 1200 Metern. Die ruhige Schotterpassage darf zu Fuß und mit dem Rad genutzt werden. Wer eine Biketour durch Österreich plant, sollte beachten, dass Radfahren auf vielen Forstwegen verboten ist. Morgens auf der fünften Etappe geht es mit dem Enns-Radweg talwärts. Der mit 254 Kilometern längste Binnenfluss Österreichs wirft östlich von Admont seine schönsten Schleifen in die Berge. Hinter der hölzernen Lauferbauer- Brücke legt das Wasser von einem Meter auf den anderen an Geschwindigkeit zu.
Aus Plätschern wird Brausen, aus Brausen ein Getöse – der Nationalpark Gesäuse trägt seinen Namen zu Recht. Jenseits der Stromschnellen ragen die Felswände der Ennstaler Alpen nahezu senkrecht auf mit urigen Wäldern und sanften Almböden. Murmeltiere, Gämsen und Steinadler teilen sich das Refugium mit rund tausend Schmetterlingsarten. Während Fischotter im kalten Wasser Bachforellen und Äschen nachstellen, springen an den Böschungen Wasseramseln, Flussuferläufer und Gebirgsstelzen umher. Mein munteres Routenspringen geht in die nächste Runde. Zunächst auf dem Salzatalradweg. Das gleichnamige Flüsschen leuchtet türkisfarben in seinem felsigen Bett. Geschützt wird die Bergwelt im Natur- und Geopark Steirische Eisenwurzen. Hier treffe ich auf den 2021 eingeweihten Erlauftalradweg. Als Rundkurs erschließt er die Mostviertelflüsse Erlauf und Ybbs. Letzterem folge ich stromaufwärts. Am Oberlauf darf man sich auf eine einstige Eisenbahntrasse freuen. Von 1896 bis 2010 schnauften die Züge durch das Tal.
Zwischen den Bergen der Ybbstaler Alpen bleibt wenig Platz für schmale Wiesen. Es macht Spaß, auf den autofreien, sanft ansteigenden Wegen bergauf zu fahren. Östlich von Lunz am See steht eine Passage auf der Radroute „Naturparkstrecke“ an. Sie führt am 1893 Meter hohen Ötscher entlang. Im neunten Jahrhundert siedelten hier Slawen. Sie nannten das Wahrzeichen des Mostviertels „Othza“ – Vaterberg. Der Naturpark Ötscher-Tormäuer ist mit 170 Quadratkilometern der größte Niederösterreichs und verhinderte mit seiner Gründung im Jahr 1970 ein geplantes Staukraftwerk. Erhalten blieb ein Juwel. Manche bezeichnen die Ötschergräben als Grand Canyon Österreichs. Alle Täler sind so tief eingeschnitten, dass man sie nur zu Fuß durchschreiten kann. Auf der Karte finde ich einen Aussichtspunkt, der auch mit dem Rad erreichbar ist. So ziehe ich hinter dem Stausee Wienerbruck in den Wald und holpere zum Kaiserthron. Der Name ist nicht zu hoch gegriffen. Der Fluss Erlauf vollführt eine 180-Grad-Biegung. Die Flanken der Berge hat er ausgefurcht. Zwischen dem dunkelgrünen Mischwald leuchtet das Gestein hervor. Auf der achten Etappe rolle ich den Piestingtal- Radweg hinab.
In den Gutensteiner Alpen läuft das Gebirge aus. Der Horizont weitet sich, Felder und Waldstücke wechseln sich ab mit Dörfern und Städten. Auf Wiener Neustadt folgt Eisenstadt, dahinter der Neusiedler See. Dieser Gegend kann man sich schwer entziehen. Nirgends scheint in Österreich die Sonne häufiger als hier im Norden des Burgenlandes, nirgendwo sind die Radwege besser. Mit einer Fläche von 320 Quadratkilometern ist der Neusiedler See, Herzstück des Nationalparks Neusiedler See-Seewinkel, nach dem Balaton der zweitgrößte Steppensee Europas. Wer zeitig am Morgen startet, kann ihn an einem Tag umrunden. Ich entscheide mich für eine Fahrt gegen den Uhrzeigersinn. Von der Storchenstadt Rust aus geht es südwärts. Der Radweg zieht sich am Schilfgürtel entlang, dreht ins Hinterland und quert die ungarische Grenze.
Dorf folgt auf Dorf. Sie liegen in der Kulturlandschaft Fertő/Neusiedler See, seit 2001 ein UNESCO-Welterbe. Ein Fotostopp am Schloss Esterházy, ein Abstecher zu den Hanságsümpfen, eine Schleife auf dem Lackenradweg. Dieser führt durch eine Gegend, die sich den klassischen Österreichbildern widersetzt. Eine steppenartige Landschaft mit Salzlacken. Darüber ein weiter, leicht bewölkter Himmel. 31 Grad. Auf den Wiesen grasen weiße Barockesel. In einem Tümpel suhlt sich eine Herde Wasserbüffel. Vogelschwärme drehen Pirouetten. In wenigen Stunden endet die Radreise. Salzkammergut, Gesäuse, Ötscher, Neusiedler See – überall kann man wunderbar radeln, besonders auf den Passagen dazwischen.