Was für ein Bergtag! Acht Stunden schwindelerregender Gratpassagen, griffigen Granits und endloser Weitblicke liegen hinter uns. Ein letztes Schneefeld ist noch zu queren. Dann sehen wir die kleine Ansammlung alter Steinhütten. Gleich auf der Terrasse der Capanna Cornavosa zückt Jana ihr Handy und schickt Mattia Soldati eine SMS: „Ja, die Via Alta ist in Sachen Schnee jetzt schon möglich.“
Der sympathische Tessiner hatte uns am Vorabend auf der Capanna Borgna gebeten, ihn möglichst schnell über die Tourenverhältnisse zu informieren. Wir seien die Ersten, die jetzt Ende Mai die Überschreitung der Via Alta della Verzasca (VAV) wagen. Und Mattia muss das wissen. Er ist wohl neben dem Präsidenten Giorgio Matasci das wichtigste Vereinsmitglied der Società Escursionistica Verzaschese (SEV). Matasci hatten wir ebenfalls am Vortag schon kennengelernt. Um am Einstiegstag nicht vom Tal aus über endlose Waldhänge zur Capanna Borgna aufzusteigen, sondern gleich einen richtigen Gipfel zu überschreiten, nehmen Jana und ich die kleine Funivia Mornera zu Hilfe. Von deren Bergstation geht es von Beginn an aussichtsreich los. Durch lichte Lärchenhänge und entlang erster Felsen an der Capanna Albagno vorbei, mit ihren noch verschlossenen roten Fensterläden.
An der Bocchetta d’Erbea wird es dann spannend: Das Stahlseil der dahinterliegenden Felsrinne ist zwar schneefrei, im anschließenden Bergkessel fordert tiefer, nasser Schnee jedoch seinen Tribut in Sachen Zeit und Oberschenkelkraft. „Wenn das so weitergeht, war die weite Anreise für die Katz’“, meldet sich mein innerer Pessimist und wird glücklicherweise eine knappe Stunde später eines Besseren belehrt. Von der Cima dell’Uomo, unserem ersten Gipfel auf der Via Alta, haben wir eine perfekte Aussicht auf einen Großteil der kommenden Tagesetappe. So wie es aussieht, ist das Meiste davon schneefrei. Stolz teilt ein schier endloser, nach Norden verlaufender Felskamm das Valle Verzasca vom Valle Leventina.
Bergunterkünfte in traumhafter Landschaft
„Das wird eine große Nummer!“, strahlt Jana über beide Wangen. Schließlich soll die VAV über einige der wildesten und unberührtesten Berge des Tessins führen. Heute haben wir keine Eile. Jetzt im Mai sind die Tage schon lang. Einem frisch aufgebrühten Kaffee mit anschließender Gipfelsiesta steht nichts entgegen.
Während die späte Nachmittagssonne die noch rotbraunen alpinen Matten in weiches Licht taucht, steigen wir über weite Berghänge zur Capanna Borgna hinab und sind erstaunt. Aus dem Kamin des Steinhauses steigt Rauch auf. Eigentlich sollen die Hütten der VAV erst ab Juni und dann auch nur an Wochenenden und in Ferienzeiten bewirtet sein. „Wir putzen die Capanna aus dem Winterschlaf“, begrüßt uns Paula Martinetti lächelnd. Die Hüttenwirtin wird dabei von ihrem Mann Giacommo unterstützt. Auch für Giorgio und Mattia ist es als Vereinsvorstände der SEV Ehrensache, den beiden zu helfen. Das Kürzel, das deutschen Bahnreisenden Angstperlen auf die Stirn treibt, steht im Tessin für einen der bemerkenswertesten Wandervereine der Alpen. Seit vier Jahrzehnten engagieren sich seine Mitglieder für die Instandhaltung der Wege im Verzascatal. Vor allem aber haben sie in unzähligen Stunden ehrenamtlicher Arbeit die Berghütten entlang der VAV restauriert und renoviert: Die Capanne Barone, Congnora, Cornavosa, Borgna und die erst 2022 eingeweihte Capanna Efra. Vor zwanzig Jahren dienten die Hütten Mensch und Tier noch als Zufluchtsort in kalten Sommernächten, verfielen aber mehr und mehr. Heute stellen die fünf Bergunterkünfte mit Augenmaß, vor allem aber mit viel Liebe renovierte Steinhäuser in traumhafter Berglandschaft dar. „Ich bin gespannt, wie euch die Cornavosa gefällt. Da oben habe ich in den letzten Jahren fast jedes Wochenende gewerkelt. Zum Glück hat das meine Freundin irgendwie ausgehalten“, erzählt uns Mattia beim gemeinsamen Abendessen. Während er eine Nacht unterm Sternenzelt vorzieht, haben Jana und ich die Ehre, mit Präsident Giorgio das Lager im Dachgeschoss zu teilen. Doch das Einschlafen fällt nicht ganz leicht. Schließlich gilt die morgige Etappe als eine der schwersten.
Die VAV zeigt Zähne
Um sieben Uhr morgens schultern wir mit freudiger Anspannung die Rucksäcke. Zunächst geht es über die Bochete di Cazzann und den gleichnamigen Bergkessel nach Norden. Dann zeigt die VAV erste Zähne. In stetem Auf und Ab queren wir auf schmalen Pfaden steile Wiesenhänge. Schon jetzt gibt es viele Passagen, an denen man keinesfalls ausrutschen darf. Für die beeindruckenden Tiefblicke ins Valle Moleno bleibt nicht viel Muße. Besser ist es auf den Steig zu achten. Dann leiten die weiß-blauen Markierungen zum eigentlichen Kamm hinauf. Schwitzend erreichen wir die Bocchetta di Leis und werden den Grat laut Karte nun lange Zeit nicht mehr verlassen. Und das ist gut so. Sonnengewärmtes Urgestein macht die schönen Kletterstellen zur reinen Freude.
Die Zeit vergeht schnell auf dem Weg zum El Ponción Piòta, dem höchsten Gipfel des heutigen Tages. Allerdings hatten wir an seinem riesigen Steinmann nicht einmal ein Drittel des Tagespensums geschafft, wie wir einige Stunden später etwas erschöpft aber überglücklich auf der Capanna Cornavosa bilanzieren. Dort steigt kein Rauch aus dem Schornstein. Und das ist auch nicht nötig. Ein moderner Gasherd macht das Kochen leicht. Mattia & Co. können wirklich stolz auf ihre Arbeit sein. Fotos an den Wänden zeugen davon, dass hier oben unzählige Arbeitsstunden geleistet wurden. Die Grundmauern mussten teils wiederaufgebaut und innen isoliert werden. Dachstuhl und Steindach wurden komplett wiederhergestellt. Tatkräftige Unterstützung gab es dabei übrigens auch vom DAV. Mitglieder der Sektion Weiler lernten 1996 auf der Capanna Efra die Hütten- und Wegebauer*innen aus dem Verzascatal kennen und unterstützten sie seither mit Arbeitseinsätzen. Sogar die Jugendgruppe packte immer wieder mit an und so konnte dieser besonders schöne Stützpunkt der Via Alta eingeweiht werden.
Sanfte Almwiesen und ausgesetzte Grate
An unserem dritten Tag kommen wir nach einer Stunde Gehzeit an der Alpe Fümegna vorbei – eine der wenigen Alpen, auf der heute noch gekäst wird. Dabei soll es früher über hundert Käseralpen gegeben haben. Verfallene Alphütten verraten, dass die Bauern einst die Ziegen herauftrieben und das wenige Heu holten, um nicht verhungern zu müssen. Die VAV passiert mehrere solcher „Alpe di fame“. Hinter den sanften Almwiesen geht es dann wieder steiler zur Sache. Ein abschüssiges Felsband führt, teils mit Stahlseil gesichert zum „Bassa“-Sattel hinauf, von wo es im Felsblockgelände zur großartigen Cima Lunga weitergeht.
Auch auf diesem Berg treffen wir keine Menschenseele und kommen aus dem Schauen kaum heraus. In der Ferne ist die Cima di Rierna zu sehen. Die ebenfalls zu überschreitende Cima di Gagnone erblicken wir noch lange nicht. Als wir an dem mit 2518 Meter höchsten Punkt der Etappe ankommen, meinen wir, diesen schon in der Tasche zu haben. Weit gefehlt. Denn erst muss noch ein herrlich ausgesetztes Gratstück im nun wieder festen Fels zur Scaiee-Scharte abgeklettert werden. Da wir nur drei Tage Zeit haben, müssen wir uns dort von der Via Alta della Verzasca verabschieden und zur sprudelnden Verzasca absteigen. Jana und ich sind uns einig: Die restlichen Etappen werden kommendes Jahr unsere Tourenbücher füllen.