Die Überquerung der Sierra Nevada im sonnigen Andalusien war ein lang gehegter Wunsch, den ich mir im September 2019 per Bus und Bahn erfüllen wollte. Das bedeutet eine 38-stündige Fahrt per Fernbus, der sich dank einer Klimaschutz-Demonstration in Freiburg auch noch verspätet. Doch irgendwann, kurz nach Mitternacht, komme ich in Granada an. Am Morgen danach liegt die Sierra, die traumhafte Kulisse der Alhambra, zunächst noch in Wolken.
Diese lichten sich aber bald und verheißen für die kommenden Tage die erhoffte Schönwetterlage. Nach dem obligatorischen (und faszinierenden) Besuch der Alhambra habe ich drei Fragen für die Tour über das Gebirge: Erstens: Woher kommt denn das Wasser, das die vielen Brunnen und Wasserläufe in der Burganlage speist, wenn es rundum staubtrocken ist? Zweitens: Abu’l-Hasan Ali ibn Sa’d, der drittletzte Emir von Granada, wollte dem Himmel so nahe wie möglich begraben werden – gibt es auf dem höchsten Gipfel der Sierra Nevada irgendwelche Anzeichen für ein Grabmal? Und schließlich: Findet sich in Bubión, dem allerletzten Rückzugsort der vertriebenen Mauren nach dem Fall Granadas im Jahr 1492, vielleicht noch eine Moschee, in der kniend in Richtung Mekka gebetet wird?
Von Nord nach Süd durch die Sierra Nevada
Bei bestem Wetter starte ich mit dem Bus nach Güéjar Sierra, dem Startpunkt meiner Nord-Süd-Überquerung. Die Vereda de la Estrella, einer der schönsten Wanderwege der Sierra Nevada, soll mich ins Gebirge hineinführen. Der Weg ist benannt nach den Minas de la Estrella, ehemaligen Eisen- und Kupferminen, von denen nur noch Ruinen stehen. Ziel dieser ersten Etappe ist die Cueva Secreta (geheime Höhle), ein grottenartiger Unterstand in einem hohlen Monolithen, der in der Tat kaum zu finden ist. Am nächsten Tag steige ich mühsam über steiles und teilweise unwegsames Terrain zur Laguna de la Mosca auf knapp 2900 Metern am Fuß des Nordhangs des Mulhacén.
Eine grüne Oase in steinerner Wildnis. Von diesem kleinen Karsee aus fließt das Gebirgswasser zum Rio Genil, der dann die Bewässerung der Alhambra sichert. Damit ist die erste Frage beantwortet, und eine fast sakrale Erfahrung gibt es obendrein: Da dieses Gewässer das höchstgelegene auf der Nordseite des Gebirgskamms mit mehr als 20 Dreitausendern ist, kommen all die Tiere der Felsenlandschaft zum Äsen und Trinken.
Am folgenden Tag steht mit dem Aufstieg zum 3482 Meter hohen Mulhacén die nächste Strapaze an. Begleitet von ungläubigen Blicken der Steinböcke, an denen ich vorbeikeuche, erreiche ich zunächst die Collada del Ciervo, von der aus der Gipfelanstieg in Angriff genommen werden kann. Meinen schweren Rucksack lasse ich an einer Steinwarte zurück und erreiche somit recht mühelos den höchsten Gipfel der Iberischen Halbinsel.
Der bietet zunächst einmal einen herrlichen Rundblick über braunrote Hügelkämme als Belohnung, dann will ich der zweiten Frage nachgehen. Eine norwegische Gruppe bittet um ein Foto und überredet den einheimischen Bergführer, mit auf das Bild zu kommen. Die dabei entstehende Unterhaltung ermutigt mich, ihn nach einem Grab zu fragen, das hier oben doch sein sollte. Zunächst erklärt er mir, dass er eigentlich keine kulturhistorische Führung geplant hätte, „aber wo du mich schon einmal fragst …“ lässt er sich nicht zweimal bitten. Er führt uns in Gipfelnähe zu einem rostigen Eisendeckel, öffnet ihn, lässt einen Stein in das darunter sichtbare Rohr fallen, den niemand aufschlagen hört, und erklärt etwas, das im pfeifenden Wind leider vage und undeutlich verweht. Das Geheimnis um die letzte Ruhestätte des Emirs Abu’l-Hasan Ali bleibt also ungelüftet. Doch da er von kastilischen Chronisten als Muley Hacén bezeichnet wurde, ist der nach ihm benannte Berg die wohl denkbar gewaltigste Erinnerungsstätte, wo auch immer er tatsächlich begraben sein mag.
Malerische Bergdörfer mit Gottesanbeterin
Ich steige ab zur einzig bewirtschafteten Berghütte in dieser Gegend, dem Refugio del Poqueira, bekomme aber nur für zwei Nächte Platz. Zumindest erkunde ich noch den Pico del Veleta, den zweithöchsten Berg der Sierra Nevada, der samt der unter dem Gipfel liegenden Sternwarte die Berg-Kulisse der Alhambra über Granada bietet. Dann geht es weiter zu den malerischen, maurisch geprägten Bergdörfern Capileira, Bubión und Pampaneira, wo ich in drei Tagen mit leichtem Gepäck die Gegend ausgiebig erkunde. Doch eine letzte Aufgabe bleibt noch zu lösen. In Bubión findet sich keine Moschee, nur eine Kirche. Und an deren Mauern aufrecht stehend sehe ich wahrhaftig – eine Gottesanbeterin. Nun, trotz ihrer markanten Haltung kann man ihr Verhalten (Weibchen frisst Männchen) nicht gerade als christlich bezeichnen. Damit ist auch die dritte Frage beantwortet: Die Mauren haben zwar sehr viel Kultur hinterlassen, sie selbst aber sind wohl aus guten Gründen wieder in ihre nordafrikanische Heimat zurückgekehrt. Die Sierra Nevada liegt hinter mir, doch meine Reise ist noch nicht beendet. Nicht allzuweit entfernt liegt der legendäre „Caminito del Rey“ – die Gelegenheit „vom höchsten Gipfel zur tiefsten Schlucht“ darf ich mir nicht entgehen lassen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.