Skifahrer beim Auslösen einer Lawine
Verschiedenen Lawinenarten sollte man auf unterschiedliche Weise begegnen. Foto: Christoffer Sjöström
Arten und Gefahren

Lawinen verstehen

Jeden Winter sterben Menschen in Lawinen. Um dieser Gefahr begegnen zu können, gibt es den Lawinenwarndienst und Risikostrategien verschiedener Verbände. Doch wer diese anwenden will, muss wissen, wovon die Rede ist – ein Überblick über die vielen Gesichter des „weißen Todes“.

Glücklicherweise sind Lawinen nicht ganz so organisiert, wie es der Schweizer Humorist Franz Hohler in seiner Geschichte „Die dumme Lawine“ erzählt, in der die kleinen Lawinen bei einer alten Schlawine in die Schule gehen und lernen, wie man mit Macht und Wucht den Hang hinunterdonnern kann. Doch durch die Art, warum und wie sie runterdonnern, lassen sie sich voneinander unterscheiden. Im Lawinenlagebericht wird aufgeführt, welche Lawinenart aktuell zu erwarten ist. Nur wer die Unterscheidung dieser verschiedenen Lawinenarten kennt, kann den Lagebericht verstehen und die richtigen Konsequenzen für die Praxis ziehen.

Vier Lawinenarten

Manche Unterschiede springen sozusagen ins Auge: Lawinen können punktförmig oder linienförmig anbrechen. Sie können vom Menschen ausgelöst werden oder „spontan“ abgehen, also ohne menschliches Zutun. Der Schnee kann nass oder trocken sein. Wenn Lawinen große Fallhöhen zurücklegen, können sie sich mit Luft durchmischen und sich zu so genannten Staublawinen entwickeln, die Geschwindigkeiten von 80 Stundenkilometern und mehr erreichen. Wenn sie Verkehrswege und Orte verschütten, werden sie als Katastrophenlawinen bezeichnet. Anhand solcher Merkmale kann man Lawinen im Nachhinein beschreiben und klassifizieren. Die Unesco hat sogar eine internationale Lawinenklassifikation erarbeitet, die für Forschende die Begrifflichkeiten standardisiert.

Beim Bergsport im winterlichen Gelände ist aber der Vorausblick wichtig: Wo können was für Lawinen abgehen, wie groß ist die Gefahr, wie kann man sie vermeiden? Für diesen wesentlichen Teil der winterlichen Tourenplanung, die Lawinenbeurteilung, ist es hilfreicher, die Lawinen nach ihrem Anbruchmechanismus zu unterscheiden. Der Lawinenlagebericht informiert, welche Lawinen mit welchem Anbruchmechanismus zu erwarten sind (beispielsweise  spontane Schneebrettlawinen). Mit dieser Information kann man sich dann im Gelände die Frage stellen, wo es Gefahrenstellen gibt, an denen die Voraussetzungen für den aktuell relevanten Anbruchmechanismus gegeben sind. Nach diesem Anbruchmechanismus kann man Lawinen in vier Arten unterscheiden: Schneebrett-, Nassschnee-, Gleitschnee und Lockerschneelawinen.

Schneebrettlawinen

Die absolut dominierende Gefahr beim Bergsport im Winter sind Schneebretter: Sie stellen gut 95 Prozent der Lawinen mit Verletzungs- oder Todesfolgen (Harvey, Rhyner, Schweizer, 2013). In den allermeisten Fällen haben die Opfer das Schneebrett selber ausgelöst; dazu genügt schon eine einzelne Person. Dann kommen schlagartig große Mengen Schnee in Bewegung: ein ganzes „Brett“ aus gebundenem Schnee, das von Anfang an mit relativ großer Geschwindigkeit zu Tal rauscht. Die typische „Skifahrerlawine“ ist 50 Meter breit, 200 Meter lang und 50 Zentimeter mächtig. Was bei einem trockenen Schneebrett etwa einer Masse von 1000 Tonnen entspricht. Voraussetzungen für eine Schneebrettlawine sind eine gebundene Schneedecke (zum Beispiel durch Wind gepackt), die als Schneebrett abgehen kann, und eine flächig vorhandene Schwachschicht. Eine Schwachschicht ist eine Schicht mit geringer Bindung zwischen ihren Schneekristallen. Beispiele für typische Schwachschichten sind Oberflächenreif, aufgebaute Schneeoberfläche (häufig im Hochwinter), Neuschnee, Graupel – wenn sie von neuem Schnee überlagert werden – und schwache Strukturen (etwa aufgebaute, kantige Formen) oberhalb oder unterhalb von Krusten (Harvey, Rhyner, Schweizer, 2013).

Bei der Auslösung eines Schneebretts bricht durch eine Zusatzlast (zum Beispiel Skifahrer*innen) zuerst ein kleiner Teil der Schwachschicht innerhalb der Schneedecke in sich zusammen – der Initialbruch. Wenn die Schwachschicht flächig in der Schneedecke vorhanden ist, pflanzt sich der Bruch fort. Ist dann die Reibung zwischen den Bruchflächen nicht groß genug, um das Schneebrett „festzuhalten“, rutscht es ab. Maßgeblich dafür ist die Hangsteilheit: Ab etwa 30 Grad Neigung können trockene Schneebretter abgleiten, meist lösen sie sich zwischen 35 und 40 Grad Hangneigung. Ein Bruch kann aber auch im Flachen initiiert werden und sich ins Steile fortsetzen. Dabei können Wintersportler*innen nur Schwachschichten auslösen, die weniger als einen Meter unter der Einsinktiefe liegen. Wenn sich ein Bruch flächig fortsetzt, kann er sich indirekt auch auf noch tiefere Schichten auswirken und ein Schneebrett an tief liegenden Schichtgrenzen auslösen.
Schneebrettlawinen sind sehr anspruchsvoll zu beurteilen, und es bleibt letztlich bei einer Abschätzung des Risikos. Die Basis dafür ist der Lawinenlagebericht und das dort genannte Gefahrenmuster in Kombination mit der DAV-Snowcard, ergänzt durch analytische Überlegungen.

Voraussetzungen für einen Schneebrett-Abgang sind eine Hangneigung über 30 Grad (steilste Stelle), eine gebundene Schicht (etwa windverfrachteter Schnee) und eine Schwachschicht, die durch einen Initialbruch ausgelöst werden kann. Illustration: Georg Sojer

Lockerschneelawinen

Kennzeichen von Lockerschneelawinen sind ein punktförmiger Anriss und eine birnenförmige Sturzbahn. Im Vergleich zu Schneebrettlawinen sind sie relativ langsam und für Wintersportler*innen weniger gefährlich. Die Hauptgefahr besteht darin, mitgerissen zu werden. Bei Lockerschneelawinen kommt Schnee, spontan selbst ausgelöst oder durch Menschen ausgelöst, in Bewegung und reißt beim Abgleiten immer mehr Schnee mit – der typische „Schneeballeffekt“, durch den die Lawine immer größer wird. Voraussetzung für Lockerschneelawinen ist unverfestigter Schnee an der Oberfläche. „Trockene“ Lockerschneelawinen treten typischerweise nach Neuschneefällen auf, wofür meistens Hangneigungen von 40 Grad und steiler nötig sind. „Nasse“ Lockerschneelawinen entstehen bei oberflächlicher Anfeuchtung des Schnees, können auch schon bei weniger als 40 Grad Neigung losbrechen, verhältnismäßig groß werden und erreichen schnell viel Kraft. Wenn die komplette Schneedecke durchfeuchtet ist, können sie auch bis zum Grund abgehen, und das sogar auf Hängen unter 30 Grad Neigung.

Lockerschneelawine Illustration: Georg Sojer

Diese Lawinenart ist für Bergsteigende weniger problematisch. Schnee, den man lostritt, fließt ja nach unten weg – gefährlich wird das nur für andere Menschen in der Fließbahn, vor allem in Absturzgelände. Ernsthaft gefährlich sind hauptsächlich nasse Lockerschneelawinen, die im Frühjahr bei Erwärmung und Durchfeuchtung spontan abgehen und herabgleiten – oder auch zum Beispiel ausgelöst durch tauenden Schnee, der aus einer Felsflanke rutscht. Die Verhaltenstipps gleichen denen bei Nassschneelawinen (s. u.).

Gleitschneelawine

Gleitschneelawinen spielen in der Unfallstatistik eine untergeordnete Rolle, sie verursachen nur sehr vereinzelt tödliche Lawinenunfälle. Erst in den letzten Jahren wurden Gleitschneelawinen stärker zum Thema in der Lawinenbeurteilung. So war beispielsweise der Winter 2011/12 im Allgäu von einem anhaltenden Gleitschnee-Problem geprägt, als nach einem warmen Spätherbst die weitgehend aperen Steilwiesen massiv eingeschneit wurden. Das dicke Schneepaket isolierte den relativ warmen Boden; als es zusätzlich durchfeuchtet wurde, bildeten sich riesige „Fischmäuler“. Wenn sich solche „Gleitschneemäuler“ immer mehr öffnen, können daraus Gleitschneelawinen entstehen. Sie reißen linienartig an, und die gesamte Schneedecke rutscht auf dem Boden ab.

Die Ursache von Gleitschneelawinen ist das Gleiten des Schnees auf dem Untergrund. Im Gegensatz zum Schneebrett entstehen sie nicht durch einen Bruch in der Schneedecke, sondern durch großflächigen Reibungsverlust zwischen Schneedecke und Unterlage aufgrund von Wasser. Je glatter der Untergrund, desto eher können Gleitschneelawinen im Steilgelände auftreten – typischerweise auf steilen Wiesenhängen oder glattem (felsigem) Untergrund (Nairz, 2010). Zunächst führt schnelles Schneegleiten (einige Millimeter bis mehrere Zentimeter pro Tag) zu einem hangparallelen Zugriss durch die gesamte Schneedecke: Das Fischmaul entsteht. Wenn die Gleitbewegung der Schneetafel weiter zunimmt, geht sie als Gleitschneelawine ab (Mitterer, Schweizer, 2013). Gleitschneelawinen gehen in der Regel spontan ab und werden nicht vom Menschen ausgelöst. Sie können zu jeder Tages- und Nachtzeit abgehen und nicht nur bei warmen Temperaturen. Deshalb sind sie quasi nicht vorherzusehen – der Lawinenwarndienst verglich die Gefahr im Winter 2011/12 mit Seracbruch im Hängegletscher. Um das Risiko klein zu halten, bleibt also nur eins: Zonen mit Fischmäulern meiden oder sich zumindest nicht länger als unbedingt nötig unter ihnen aufhalten.

Gleitschneelawine, Illustration: Georg Sojer

Nassschneelawinen

Nassschneelawinen verursachten in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren nur rund jedes zehnte Lawinenopfer. Unter den „spontanen“ Lawinen aber, die also nicht von Menschen ausgelöst werden, geht jedes zweite Opfer auf das Konto von Nassschneelawinen (Mitterer, Schweizer, 2014). Nassschneelawinen können als Schneebrett oder als Lockerschneelawine anbrechen; deshalb werden sie manchmal nicht als eigene Art klassifiziert. In beiden Fällen ist der Hauptauslöser Wasser in der Schneedecke, das bestimmte Schichten der Schneedecke oder Bindungen an Schichtgrenzen markant schwächt. Ist die durchnässte Schicht die Schneeoberfläche, geht die Lawine eher als nasse Lockerschneelawine ab (s. o.). Liegt die geschwächte Schicht in der Schneedecke und über einer Schichtgrenze (wie etwa einer Schmelzharschkruste), geht die Lawine eher als Schneebrett ab. Nassschneelawinen reißen meistens spontan los und lösen sich vor allem bei Regen oder nach einer tageszeitlichen Erwärmung. Sie entstehen vor allem im Frühling. Dabei ist der Festigkeitsverlust am stärksten, wenn die Schneedecke zum ersten Mal durchfeuchtet wird. Meist lösen sich Nassschneelawinen bei Hangneigungen über 35 Grad – unter 30 Grad nur dann, wenn die Schneedecke völlig durchnässt ist (Harvey, Rhyner, Schweizer, 2013).

Ein paar Faustregeln helfen Winterbergsportler*innen gegenüber dieser Gefahr. Vor allem gilt es, mögliche Einzugsgebiete (was ist über mir?) zu beurteilen, weil Nassschneelawinen vor allem spontan abgehen. Markante Schichtunterschiede in der Schneedecke machen sie anfälliger für Wasserstau und Schwächung. Nassschneelawinen sind umso wahrscheinlicher, je mehr Wasser die Schneedecke enthält – Vorsicht also bei Regen und starker Wärme! Bei Abkühlung unter null Grad dagegen können die Schneestrukturen wieder gefrieren und sich stabilisieren.

Wenn der Lagebericht vor Nassschneelawinen warnt, heißt es achtgeben auf „Einzugsgebiete“, aus denen spontan (selbst) ausgelöste Lawinen abgehen können. Wenn die Tageserwärmung eine Schneedeckendurchfeuchtung verursacht, sollte man frühzeitig zurück sein Illustration: Georg Sojer

Fazit

Schneebretter sind und bleiben die Hauptgefahr im Winter – vor allem, weil sie meist durch die Aktiven selbst ausgelöst werden. Aber andere dominante Lawinenarten können anderes Verhalten nahelegen. Ein Check des Lawinenlageberichts ist die Grundlage für jeden Tag im Gelände; aber nur wer ihn versteht, kann optimal reagieren.

Übersicht der vier Lawinenarten

Zum Weiterlesen

  • S. Harvey, H. Rhyner, J. Schweizer: Lawinenkunde, Bruckmann Verlag, 2013

  • P. Nairz: Gleitschneelawinen, Bergauf 1/2010

  • C. Mitterer, J. Schweizer: Gleitschneelawinen, Bergundsteigen 4/13

  • C. Mitterer, J. Schweizer: Nassschneelawinen, Bergundsteigen 1/14