Von: Sabrina Meinen
Damals: k. o. und Konichiwa
Ziemlich genau erinnere ich mich, wie wir fünf Höhenmeter vor der touristenüberfüllten Plattform auf dem Gipfel Halt machten. Erschöpft glitt ich zu Boden – das Geröllfeld und der Klettersteig hatten mich extrem gefordert. Die anderen drei aßen, tranken, posierten für Fotos und ich war dankbar, nur sitzen zu müssen. 30 Minuten rasteten wir hier. Dann wurde entschieden, den restlichen Weg zu beschreiten.
Nie im Leben hätte ich mir ausmalen können, was mir das letzte Stück abverlangen würde. Bereits beim Aufstehen versuchten meine Muskeln, ihren Dienst zu verweigern. Jeder einzelne Schritt bedeutete eine immense Kraftanstrengung. Zwar war ich durch Karate- und Tae-Bo-Training Muskelkater gewöhnt, aber keine der beiden Sportarten hatte mich bis dato an meine absolute Leistungsgrenze gebracht.
Schritt für Schritt kämpfte ich mich voran. Flüche begleiteten meinen Weg. Das letzte Stück über eine Stahltreppe bis zur Gipfelplattform wollte kein Ende nehmen. Nach einer mir endlos erscheinenden Zeit kam ich im touristenbevölkerten Bereich an. Mein Blick schweifte über die Massen an Menschen. Fröhliche Gesichter und keinerlei Anzeichen von Erschöpfung. Wie auch? Die meisten hatten sich Sneakers geschnappt und sommerlich bekleidet die Zugspitze per Bahn erklommen.
Die Geschichten von draußen
Immer wieder schicken uns DAV-Mitglieder und andere Bergbegeisterte E-Mails mit tollen Geschichten und Erlebnissen von draußen in die Redaktion. Es sind Geschichten aus den Bergen oder anderswo in der Natur. Mit der Online-Rubrik "Geschichten von draußen" schaffen wir eine Möglichkeit, all diese Geschichten und Erlebnisse zu teilen. Und alle, die lieber lesen als schreiben, finden hier Unterhaltung, Inspiration und vielleicht schon Planungsgrundlagen für die eigene nächste Tour. Die Geschichten ersetzen keine individuelle und sorgfältige Tourenplanung.
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Gegen Ende jedes Jahres wird über die besten Geschichten abgestimmt – die Autor*innen der Gewinner-Storys dürfen sich über einen tollen Gutschein freuen.
Mein Weg hier hinauf war hart erkämpft. Bewundernd sah ich die anderen drei an, mit denen ich nach oben lief: federnde Schritte, Lächeln und stetiges Staunen über den atemberaubenden Ausblick. Selbst die Sonne tat ihr Bestes, den Berg in optimales Licht zu tauchen. Mir erging es anders: vom eigentlichen Abenteuer hatte ich kaum etwas wahrgenommen. Lediglich das Grau in Grau der Felsformationen. Dass ich im Begriff war, Deutschlands höchsten Berg zu besteigen, spielte schon längst keinerlei Rolle mehr. Meine Freude, Teil dieses Abenteuers zu sein, hatte sich ins Nirgendwo verflüchtigt. Das wunderbare Blau des Eibsees strahlte die Zugspitze hinauf. Jedoch ohne mich zu erreichen. Ich war damit beschäftigt, mit meinen Kletterfreunden mitzuhalten. Andauernd war ich gewillt umzukehren. Einzig der Gedanke, gesellschaftslos im Auto auf die Anderen warten zu müssen, trieb mich an weiterzugehen.
Mühsam bewegte ich mich durch die Menschenmenge. Hitze erfüllte meinen Körper, machte jegliches Kleidungsstück überflüssig. Meinen Rucksack hatte ich vor vielen Höhenmetern dankend an einen Mitstreiter abgegeben. Bratwurstgeruch stieg in meine Nase. Aber zu essen erschien mir unmöglich. Schließlich zeigte einer meiner Begleiter auf einen goldenen Stab in etwa 30 Meter Entfernung: „Da gehen wir jetzt hin. Dort ist das Gipfelkreuz.“
Mehr als ein Stöhnen, brachte ich nicht zustande. Dafür rasten tausend Gedanken in meinem Kopf umher. Sätze wie: „Ernsthaft?! Das soll ich jetzt noch schaffen!?“ und „Geh doch selbst hin, ich mache hier gar nichts mehr!“. Keine Ahnung, woraus ich meine allerletzten Kraftreserven bezog; ich ging weiter. Okay: ich kroch, aufrechtes Gehen war deutlich erschwert. Tausend Minuten später ergriffen meine Hände in den Fels gehauene Stahlstreben. Zu meiner Sicherheit fummelte ich den Karabiner an das Stahlseil. Selbst die kleinsten Bewegungen waren eine Qual. Heftig atmend kämpfte ich mich voran. Millimeter für Millimeter kam ich dem Gipfelkreuz näher.
Plötzlich wollten Menschen an mir vorbei. Sie hatten bereits ihre Gipfelfotos gemacht und waren auf dem Rückweg. Mir fiel es mega schwer, meinen Körper an die Seite zu bewegen, damit sie an mir vorbeikonnten. Mein Blick glitt zu den fremden Gesichtern. Sie erschienen mir asiatisch.
„Konichiwa“ presste ich hervor; woher auch immer das kam. Und ich erhielt eine passende Antwort. Begleitet von einem breiten Grinsen und gegenseitigem Anschubsen, weil ich trotz meiner sichtbaren Erschöpfung mit meinen Japanisch-Kenntnissen aus dem Karate-Training prahlte. Mühsam schleppte ich mich zum Kreuz, brachte eine einem Lächeln ähnliche Regung zu Stande.
Dazwischen
Die acht Jahre nach meiner ersten Bergbesteigung habe ich intensiv genutzt. Ich bin nicht nur um die Diagnose „Asthma bronchiale“ reicher, sondern habe mich meiner geringen Ausdauer gewidmet. Meine ersten Laufeinheiten waren fordernd. Mein Atem brannte in meiner Lunge und mein Kopf spielte ein Songtextausschnitt mit der passenden Melodie ab „... und du glaubst, ich bin stark und kenn` den Weg?“. Obwohl der Text demotivierend klang, hielt er mich am Laufen. Dem Liedrhythmus angepasst, bewegten sich meine Beine in einer mir angenehmen Geschwindigkeit. Unterstützend lief mein Mann neben mir. Sein Lächeln war eine zusätzliche Motivation durchzuhalten.
Diese Kombination aus Ohrwurm, Bewegung und Verbundenheit zu meinem Ehemann wurden eine Kraftquelle. Mir gelang es, eine Laufeinheit nach der anderen zu absolvieren. Schließlich begann mein Körper, das Glückshormon Serotonin auszuschütten und ich geriet in einen Rausch. Dieses Gefühl wollte ich ab da öfter spüren. Zunehmend fiel mir das Durchhalten leichter. Unser Ziel „gemeinsam die Zugspitze zu besteigen“ rückte in greifbare Nähe.
Vor der ersten Zugspitztour wusste ich leider nichts von meinem eingeschränkten gesundheitlichen Zustand. Immer wieder wurde mir in Kindertagen von Ärzten gesagt, ich wäre bloß untrainiert. Niemand sah sich meine Belastbarkeit genauer an. Ich müsste nur etwas mehr Laufen gehen, dann würde sich das geben. Aber Ausdauertraining fiel mir schwer, sodass ich mich im Kampfsport und in Kletterhallen versuchte. Und jammerte mich August 2009 den Berg nach oben.
Endlich belastbar
2017 fühle ich mich körperlich belastbar wie nie. Laufen gehen ist ein regelmäßiger Bestandteil meiner Freizeit geworden. Immer seltener muss ich zum Asthmaspray greifen. Es bleibt in meiner Tasche. Manchmal vergesse ich es zu Hause. Klar, bezeichnet mich der eine oder andere als verrückt, masochistisch, gar selbstmörderisch wegen meines erneuten Vorhabens, die Zugspitze zu erklettern. Aber das ist mir egal. Ich weiß, dass ich es schon einmal geschafft habe.
In den Tagen vor der Tour kenne ich kein anderes Thema mehr als die Zugspitze. Sicherheitshalber erhält mein Mann hundert Mal die Warnung, dass ich ihn nerven könnte. Dass ich den gesamten Weg jammern würde, wohl andauernd umdrehen wollte und wir Millionen Pausen machen müssten.
Endlich ist das herbeigesehnte Wochenende da: Früh in Ehrwald angekommen, steige ich müde aus unserem Auto. Die schlafreduzierte Nacht macht sich bei mir eindeutig bemerkbar. Mein Mann dagegen sieht munter und fit aus. Gähnend wühle ich im Kofferraum, lege mir im schwachen Licht des Kofferraums mein Equipment an; schließlich schultern wir beide unsere Rucksäcke und nehmen unser größtes gemeinsames Abenteuer in Angriff. Die ersten Schritte in der kühlen Luft vertreiben meine Müdigkeit. Neben der Morgenkühle begleitet uns tiefschwarze Dunkelheit. Stirnlampen dienen als Sichtbereicherung.
Der zweite Anlauf
Meine Füße treten auf grünlich-schwarzes Gras, es wird erst zwei Stunden später in sattem Grün strahlen. Durch die steigungsbedingt angewinkelte Fußhaltung ist mir der morgige Muskelkater in meinen Schienbeinen gewiss.
Als wir bei dem Geröllfeld sind, erreichen uns die ersten kräftigen Sonnenstrahlen. Die Sonne zeigt sich in ihrer vollen Pracht am strahlend blauen Firmament. Dank meiner Vorbereitung kann ich zwischendurch stehen bleiben und den klaren Blick nach unten wahrnehmen. Dieses Mal habe ich ein Auge für die schöne Aussicht: die Täler zwischen den riesigen Bergen, die grünen Wälder und der wolkenfreie Himmel. Außerdem erspare ich meinem Mann das Gejammer.
Erleichtert lächle ich über die Erinnerung an meine erste Tour. Damals trottete ich schimpfelnd den Anderen hinter her. Ich erinnere mich, wie der vorgegebene Weg meine Beinmuskeln forderte. Alle 10 Meter stoppte ich und maskierte meine Anstrengung über eine Trinkpause. Kurz mal Luft holen, dann weiterkämpfen. Den Blick stets auf den Boden gerichtet. Reiner Eigenschutz vor Demotivation, wie weit es nach oben geht. Je mehr der Weg voranschritt, desto öfter geriet ich ins Rutschen; ich merkte, dass ich erschöpft war.
„Mein Schatzi! Cheese.“ Breit grinsend reagiere ich auf die Aufforderung meines Mannes, die mich ins Hier und Jetzt holt. Im Grunde genommen fühle ich mich dieses Mal super. Verglichen mit meiner ersten Zugspitztour ist diese ein Spaziergang. Trotz der schweren Trekkingschuhe kann ich meine Füße mit Leichtigkeit heben. Kraftvoll arbeiten meine Oberschenkel- und Wadenmuskeln. Am Ende des Geröllfeldes biegen wir links ab, laufen viele Meter auf einem schmalen Pfad. Erwartungsvoll sehe ich nach unten: Wo bleibt er? Eigentlich müsste er bald zu sehen sein.
Endlich entdecke ich das wunderschöne, blaue Wasser: der Eibsee. Ein Anblick wie aus einem Film. Mit großen Augen bestaunt mein Göttergatte den See. Mich erfüllt Freude. Nachdem wir das Geröllfeld und ein weiteres Wegstück hinter uns gelassen haben, zeigt sich mein sehnlichst erwartetes Zwischenziel: die Wiener-Neustädter Hütte. Eine halbe Stunde Rast zum Befriedigen der üblichen Bedürfnisse, dann gehen wir gestärkt an den „Stopselzieher“.
Leichtfüßig und stolzerfüllt
Wahnsinn, wie leicht mir alles fällt. Natürlich merke ich eine gewisse Anstrengung, dennoch kann ich die Tour genießen. Voller Kraft bewegen sich meine Hände und Finger in einem gleichmäßigen Rhythmus, öffnen und schließen den Karabiner. Sie haken ihn in das Stahlseil ein, damit er mich mit dem Fels verbindet. Das Seil der Fallsicherung erinnert mich an eine Nabelschnur zur Überlebenssicherung. Elegant drücke ich meinen Körper hoch, zwänge mich wendig durch die als Stöpselzieher bezeichnete Felsformation.
Nach kurzer Zeit, muss ich stoppen. Jedoch liegt es an einer Frau, die sich vor mir den Berg nach oben quält. Ihr Gesicht ist feurig rot, glänzt vor Schweiß, ihre Augen blicken müde den Fels an. Ob mich die anderen Kletterer damals genauso erlebt haben? In meinem Inneren breitet sich Wärme aus. Es ist angenehmes Gefühl. Denn die Wärme bedeutet Stolz. Ja, ich bin mega stolz auf mich, dass ich heute warten muss. Statt, dass ich andere am Weitergehen hindere. Niemand schnaubt genervt in meinen Hals, ich möge ihm Platz machen, damit er seine persönliche Bestzeit zur Bergbesteigung schlagen kann.
Und ich empfinde Mitleid mit der Bergsteigerin. Ich weiß, welche Anstrengung sie gerade erlebt und wieviel sie für ihr Ziel weiterhin aufbringen muss. Ihr Begleiter zieht sie zur Seite: „Wir wollen ja nicht alle hier aufhalten.“ Der verbale Nackenschlag spiegelt sich im Gesicht der Frau wider. Wird sie es wirklich bis zum Gipfelkreuz schaffen?
Leichtfüßig schiebe ich mich an den beiden vorbei. Immer wieder strahle ich meinen Mann begeistert an: Wir besteigen gemeinsam die Zugspitze! Er macht laufend Fotos von mir, von unserer genialen Aussicht und uns beiden. Mir bleibt sogar die Kraft, auf den Bildern Grimassen zu schneiden.
Ein Höhenmeter nach dem anderen vergeht. Niemand möchte mich heute überholen. Gefühlt bin ich doppelt so schnell wie bei meinem ersten Versuch den Klettersteig zu meistern. Mein Körper schüttet immens viel Serotonin aus, dass mich beinah nach oben schweben lässt. Dauergrinsend, bewältige ich diesen Teil der Tour. Schließlich kommt die Stahltreppe. Als ich sie mir betrachte, ist sie gerade einmal halb so lang wie ich sie in Erinnerung habe. Und wenngleich meine Füße vor Belastung zu brennen begonnen haben, fühlt sich mein Körper leichter an als 2009. Ich trage sogar meinen Rucksack nach oben.
Zur Mittagszeit sind wir auf dem Gipfel angekommen, schlagen uns durch die Touristenmenge zum Gipfelkreuz. Diesmal ohne Japaner. Dafür mit aufrechtem, stolzem Gang. Selbst für das Gipfelkreuzfoto habe ich Reserven, glücklich in die Smartphone-Kamera zu lächeln.
Über die Autorin
Sabrina Meinen (34) arbeitet als Ergotherapeutin; außerdem ist sie im Redaktionsteam einer Fachzeitschrift für Ergotherapie und Rehabilitation aktiv, wo sie sich vor allem mit Gesundheits-, Präventions- und Rehabilitationsthemen beschäftigt. Mit dem Text „Unser Abenteuer zu zweit“ hat sich Sabrina ihrer anderen Leidenschaft zugewandt: den Bergen.
Hinweis der Redaktion
Die Zugspitze, Deutschlands höchster Berg (2962 m), lockt jedes Jahr tausende Bergbegeisterte an. Gut informiert und vorbereitet wandert es sich sicherer. Die fünf Gipfelvarianten, darunter auch die durch den Stopselzieher, sind in diesem Artikel erläutert: Sicher auf die Zugspitze.