Theoretischer Hintergrund
Ehrgeiz ist Ausdruck des Antriebs, bestimmte Ziele zu erreichen. Ohne ein Mindestmaß an Ehrgeiz wären wir nicht motiviert, Ziele wie die Besteigung eines Berges in die Tat umzusetzen. Ehrgeiz an sich ist also zunächst weder schlecht noch problematisch. Ehrgeiz wird erst dann zu einem Bedrängnis, wenn wir uns selbst oder andere falsch einschätzen und uns Dinge, Touren und Routen zutrauen, denen wir oder unsere Tourenpartner*innen nicht gewachsen sind. Dabei nicht vergessen: was für den einen ein mit Ehrgeiz erreichbares Ziel erscheint, muss für den anderen noch lange nicht passen. Hier ein paar konkrete Beispiele:
Eigenes Können überschätzen: einen Gipfel, eine Bergtour wie z. B. die Watzmannüberschreitung wirklich wollen, ohne jedoch der Herausforderung körperlich und mental gewachsen zu sein. Problematisch würde der Ehrgeiz werden, wenn du dich trotz beschränkten Könnens an diesen Berg heranwagen würdest.
Seinen eigenen Willen/Ehrgeiz auf andere übertragen: z. B. „der will sicherlich auch immer auf den Gipfel“; „das ist so eine schöne Route, zwar etwas schwerer, aber der Ausblick, die Herausforderung lohnt sich allemal“; „wir haben beide die ganze Woche gearbeitet, am Berg wollen wir uns so richtig auspowern.“
Davon ausgehen, dass wir und andere immer dieselbe Leistungsfähigkeit haben: „vor ein paar Jahren sind wir locker diese anspruchsvolle Tour gegangen, das wird heute auch klappen.“
In Gruppen wird es immer wieder unterschiedliche Leistungsniveaus und Motivationen für eine Tour geben. Es wird also auch vorkommen, dass ich mich mal durchbeißen muss und mir eine Wanderung zu lang, anstrengend oder ausgesetzt war. Ein anderes Mal werde ich möglicherweise unterfordert sein oder angenehm müde, während andere Gruppenmitglieder sich zusammenreißen müssen, um die Tour zu beenden.
Geht man mit bekannten Tourenpartner*innen, ist deren Ehrgeiz in der Regel bekannt und du kannst aktiv und bewusst entscheiden, ob du dich aktuell dem Leistungsniveau oder den Zielen der anderen anpassen möchtest oder nicht. Folgende Aspekte können dir zusätzlich dabei helfen, einen ausgeprägten, manchmal ungesunden Ehrgeiz (Egoismus) zu erkennen:
Hohe Risikofreude: sich z. B. bei unsicheren Wetterverhältnissen für die schwere Tour entscheiden, grundsätzlich eher anspruchsvolle Wege/Touren aussuchen und das eigene Leistungsniveau nicht beachten. Oder immer wieder an die eigenen Grenzen und darüber hinaus zu gehen.
Andere zu Touren überreden, Touren schmackhaft machen, schönreden z. B. „du wirst sehen, das ist nicht so schwierig, ich kenne die Tour“, wobei erkennbar ist, dass es der Person darum geht, zu ihrer Tour zu kommen. Es kann sein, dass die Person Bedenken und Einwände anderer übergeht, ignoriert, was an Vorschlägen eingebracht wird und alleine Entscheidungen trifft.
Unrealistische Ziele werden gesetzt, z. B. werden Höhenmeter und Zeit unterschätzt oder es werden schwierige Wegpassagen bei der Planung nicht angemessen berücksichtigt.
Zudem haben Gruppeneffekte einen Einfluss darauf, wenn der Ehrgeiz einer Person in der Gruppe für dich zum Bedrängnis werden kann. Deshalb achte auf folgende Aspekte:
Ein Gruppeneffekt begründet sich darin, dass wir als Mitglied einer Gruppe in unseren Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen und unserem Verhalten immer auch Aspekte der Gruppe berücksichtigen. Wir wollen beispielsweise gerne eine gute Stimmung in der Gruppe aufrechterhalten und Konflikte vermeiden und tun uns daher schwer, eine ehrgeizige Person „einzubremsen“, da wir befürchten, damit auch die Gruppenharmonie zu gefährden.
Ferner fühlen wir uns in Gruppen üblicherweise geborgener und sicherer, als wenn wir alleine unterwegs wären. Dieses Sicherheitsgefühl kann dazu beitragen, dass wir bereit sind, uns auf Ziele oder Herausforderungen einzulassen, die wir uns allein nicht zutrauen würden.
Ehrgeiz, Erfolg, Sympathie, selbstbewusstes Auftreten können dazu führen, einer Person mehr zu vertrauen, ihr Fachwissen zuzuschreiben, das sie vielleicht gar nicht hat und ihr schlussendlich die Führungsrolle für die Tour anzuvertrauen (z. B. die Person erzählt, sie kenne sich im Gebiet gut aus, habe den Gipfel bereits gemacht oder erzählt von Ausbildungen). Sie kann nun wirklich kompetent sein, jedoch aufgrund des hohen Ehrgeizes die Bedürfnisse & Erwartungen der anderen vernachlässigen oder sie ist nicht so kompetent, wie sie dir erscheint. In beiden Fällen kann dich das in ein Bedrängnis bringen.
Ehrgeizige Personen werden in einer Gruppe eher die anspruchsvolleren, längeren, schwierigeren Touren favorisieren und vorschlagen. Als Faustregel gilt: Wer in einer Gruppe die relativ zu anderen Gruppenmitgliedern anspruchsvolleren Ziele hat, wird diese bereits ins Auge gefasst haben, bevor die Gruppe in ein Gespräch eintritt und sie von sich aus früh in die Diskussion einbringen. Dieser Effekt wird als „Risikorhetorik“ bezeichnet.
Ein gemachter Vorschlag ist nicht nur einfach gesagt, sondern setzt einen Standard, an dem die anderen Gruppenmitglieder nicht mehr vorbeikommen. Aufgrund der oben beschriebenen Harmonietendenz sind sie nicht mehr so frei wie vor dem Vorschlag, ihre eigenen Vorstellungen einzubringen.
Da in ungeführten Gruppen niemand für die Moderation von Entscheidungsprozessen verantwortlich ist , werden andere Gruppenmitglieder, denen eine weniger anspruchsvolle Tour lieber wäre, nun entweder abwarten, ob jemand ihnen die unangenehme Aufgabe abnimmt, diese vorzuschlagen oder einen Vorschlag machen, der möglicherweise ein bisschen über ihr eigenes Anspruchsniveau hinausgeht, um der*dem Ehrgeizigen entgegen zu kommen.
Prävention und Entwicklungsperspektive
Kenne deine eigene Leistungsfähigkeit/Leistungsgrenzen und plane gemeinsam die Tour: Wenn du im Vorfeld deine mentale und körperliche Leistungsfähigkeit kennst, kannst du im Vorfeld bereits mit deiner Tourenbegleitung offen kommunizieren, welche Art von Tour dir möglich ist und rechtzeitig die Bremse ziehen bzw. Alternativvorschläge unterbreiten oder nicht an der vorgeschlagenen Tour teilnehmen. Überprüfe anhand der Tourenplanung selbst, ob die Tour deiner aktuellen Leistungsfähigkeit angemessen ist. So kommst du nicht in die Situation, dass du unvorhergesehen in eine gefährliche Situation gerätst, die dich an dein Limit bringt.
Mach den Mund auf und sei mutig: Da der Leistungsfähigkeit manchmal ein großer Wert zugeschrieben wird, kann es sein, dass es Einzelnen gar nicht so leicht fällt, den anderen zu sagen, dass die Tour möglicherweise ihre Leistungsfähigkeit überschreitet. Je mehr das gemeinsame Unterwegssein im Vordergrund steht und je weniger bedeutsam das Erreichen eines anspruchsvollen Zieles ist; je mehr ihr in Optionen denkt, desto leichter ist es, Leistungsunterschiede innerhalb der Gruppe zu integrieren. Ein Austausch hierüber gelingt auch leichter, wenn eine Gruppenkultur gepflegt wird, in der von Beginn an über Erwartungen, Wahrnehmungen, Einschätzungen und eigene Bedürfnisse gesprochen werden kann. Dazu braucht es keine große Gesprächsrunde, in der alle Befindlichkeiten geteilt werden, vielmehr genügen Kleinigkeiten wie z. B.: „Bin gespannt, wie warm es oben im Latschenfeld wird“ oder „Mal sehen, ob das Wetter so hält, wie der Wetterbericht versprochen hat“. Und diese können auch mal eingestreut werden. Nicht umsonst spricht man vom „Schweigen brechen“: Es ist viel schwieriger in einer Gruppe, das Schweigen zu brechen, als einen losen Austausch wieder aufzunehmen. Dazu muss es ihn aber auch erst mal geben.
Wenn du den Eindruck hast, dass du zu den Leistungsschwächeren in der Gruppe gehörst: Mach den Mund auf und sei mutig! Es wird besser sein, die Gruppe zu informieren, dass du diesen Schritt nicht die ganze Zeit halten kannst, als zu versuchen, ihn zu halten und dann abreißen lassen zu müssen. Dann könntest du die Erfahrung machen, dass dir andere dankbar sind, dass sie nun auch langsamer gehen können. Sollte deutlich werden, dass der Unterschied so groß ist, dass das gemeinsame Tourenziel gefährdet wird, dann liegt es eher an der leistungsschwächeren Person, eine Lösung anzubieten: „Ich bleibe an der Scharte. Ich wickle mich in den Biwaksack, dann wird mir nicht so kalt, bis ihr zurück seid.“ Oder dass mir jemand aus der Gruppe Gewicht aus dem Rucksack oder den ganzen Rucksack abnimmt und ich dann genügend Reserven für die längere Variante habe. Eine solche Lösung kann von der Gruppe angenommen werden. Umgekehrt fällt es den Leistungsstärkeren in der Gruppe hingegen schwer, der leistungsschwächeren Person eine Lösung vorzuschlagen, da ihr dann ja der gemeinsame Gipfel (oder andere geteilte Ziele) genommen wird.
Nimm dich selbst ernst: Achte bereits im Vorfeld und während der Tour auf deinen Körper und deine Intuition. Nimm sie ernst. Gedanken und Gefühle wie „Ich habe das flaue Gefühl, dass das für mich zu schwierig sein würde, aber ich sage nichts.“ bringen dich in Bedrängnis. Rechtzeitig umzudrehen, auf den Gipfel zu verzichten, regelmäßiges Essen und Trinken sind kein Zeichen von Schwäche oder mangelnder Fitness, sondern von mentaler Stärke.
Störungen haben Vorrang
Allgemein solltet ihr folgende Faustregel beherzigen: Störungen haben Vorrang. Damit ist gemeint, dass Bedürfnisse, die sich aus der individuellen körperlichen oder psychischen Belastungsfähigkeit oder aus individuellen Wünschen ergeben, immer dann Vorrang haben, wenn sie so dringend sind, dass eine normale und für alle befriedigende Durchführung der Tour nicht mehr gewährleistet ist – die Bedürfnisse also den Ablauf stören. Kommt ein Gruppenmitglied an seine körperliche Belastungsgrenze, entsteht daraus das Bedürfnis nach einer Pause, Essen und Trinken oder – im ungünstigen Fall – vielleicht auch Umkehr oder Sitzenbleiben. Dieses Bedürfnis ist groß genug, um den geplanten Verlauf der Tour zu stören und muss daher von der Gruppe berücksichtigt werden. Daher das Motto „Störungen haben Vorrang“.
Für einen „Motivationsausgleich“ (jede*r kommt auf ihre*seine Kosten) sorgen: eine tolle Möglichkeit, den unterschiedlichen Leistungsniveau Rechnung zu tragen, ist es, für die Leistungsfähigeren oder Ehrgeizigeren in der Gruppe eine Zusatzrunde, einen zweiten Gipfel, „letzte Strecke Tempo und dann am Gipfel warten“ oder etwas in der Art einzuplanen, während die anderen Pause machen oder sich schon zum Abstieg begeben.
Zusammenfassend:
Kenne deine eigene Leistungsgrenze und plane die Touren gemeinsam.
Entwickelt eine Gruppenkultur, die den Austausch über gegenseitige Bedürfnisse und Erwartungen ermöglicht.
Nimm dich selbst ernst und sei mutig, offen zu kommunizieren.