Faustregel
Reguliert ab dem Start als ungeführte Gruppe die Gehgeschwindigkeit so,
dass jede*r durch die Nase atmen kann,
dass sich ein Gespräch weiterführen lässt, ohne außer Atem zu kommen,
dass man nicht gleich nach zehn Minuten eine Ausziehpause machen muss. (Außer, man ist bspw. im Winter anfangs so warm angezogen, weil es am Startpunkt ohne Bewegung unangenehm ist.)
Theoretischer Hintergrund
Mitunter ist es vorab gar nicht so einfach einzuschätzen, ob man den Herausforderungen einer Tour physisch und psychisch gewachsen ist. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn man nicht regelmäßig unterwegs oder in einem unbekannten Gebiet ist. Oder wenn man auf unerwartete Herausforderungen wie z. B. ein Altschneefeld trifft.
Prävention
Aus oben genannten Gründen solltest du bereits bei der Tourenplanung:
ausreichend Zeitreserven einplanen,
Entscheidungspunkte festlegen
und mögliche Tourenoptionen bedenken.
Ein solches Planen mit Reserven und Denken in Optionen ist der erste Schritt, um falsche Einschätzungen von sich selbst oder anderen Gruppenmitgliedern zu vermeiden.
Ungünstig ist dagegen, eine Tour am Limit zu planen und keine anderen Optionen zu haben nach dem Motto: „Wenn alles gut geht und wir einen guten Tag haben, schaffen wir es auf den Gipfel und wir müssen auch unbedingt auf den Gipfel kommen.“
Der zweite Schritt ist, an den festgelegten Entscheidungspunkten sich einerseits über Aspekte der Orientierung oder der Wetterentwicklung auszutauschen; andererseits auch darüber, ob sich noch alle der Tour gewachsen fühlen oder schon jemand an persönliche Grenzen kommt.
Da der eigenen Leistungsfähigkeit mitunter eine große Bedeutung beigemessen wird, kann es passieren, dass es Einzelnen schwerfällt den anderen zu sagen, dass die Tour möglicherweise ihre Leistungsfähigkeit überschreitet.
Je mehr das gemeinsame Unterwegssein im Vordergrund steht und je weniger relevant das Erreichen eines anspruchsvollen Zieles ist; je mehr man auch in Optionen denkt, desto leichter ist es, Leistungsunterschiede innerhalb der Gruppe zu integrieren.
Es ist leichter, sich dazu auszutauschen, wenn eine Gruppenkultur gepflegt wird, in der von Beginn an über Erwartungen, Wahrnehmungen, Einschätzungen und eigene Bedürfnisse gesprochen werden kann. Dazu braucht es keine große Gesprächsrunde, in der alle Befindlichkeiten geteilt werden. Vielmehr genügen Kleinigkeiten wie z. B.: „Bin gespannt, wie warm es oben im Latschenfeld wird“ oder „Mal sehen, ob das Wetter so hält, wie der Wetterbericht versprochen hat“. Und diese können auch mal eingestreut werden. Nicht umsonst spricht man vom „Schweigen brechen“: Es ist viel schwieriger in einer Gruppe das Schweigen zu brechen, als einen losen Austausch wieder aufzunehmen. Aber auch letzteren muss es eben erst mal geben.
Gehörst du innerhalb der Gruppe zu den leistungsstärkeren Personen, dann achte auf die Leistungsschwächeren! Wenn Gruppenmitglieder hinterherhängen, wiederholt stehen bleiben, Gründe für Unterbrechungen suchen und finden (z. B. Trinken, Essen, Kleiderwechsel), auf den Boden schauen und ihren Blick nicht mehr in die Landschaft schweifen lassen; wenn das Gespräch in der Gruppe verstummt oder einzelne sich nicht mehr an Gesprächen beteiligen, dann fühlen sie sich möglicherweise gerade nicht so voller Kraft und Elan wie du. Du kannst entscheiden, ohne viel Aufheben einen langsameren Schritt anzuschlagen oder eine Trinkpause vorzuschlagen, auch wenn du sie selber noch nicht brauchst.
Hast du dahingegen den Eindruck, dass du innerhalb der Gruppe zu den Leistungsschwächeren gehörst, dann mach den Mund auf! – Vielleicht könntest du das Tempo ja eine Weile halten, doch über kurz oder lang würdest du wohl den Anschluss abreißen lassen müssen. Es ist meist besser, die Gruppe frühzeitig zu informieren, dass du diesen Schritt nicht die ganze Zeit halten kannst. Sehr gut möglich sogar, dass dir andere dankbar sind, dass sie nun ebenfalls langsamer gehen können.
Wichtig ist, sich klar zu machen, dass es in einer ungeführten Gruppe keinen „unabhängigen Adressaten“ für Leistungsunterschiede gibt (es „fehlt“ in diesem Sinne ein*e Dritte*r, also Tourenleiter*in). Vielmehr müssen alle Befindlichkeiten und Wünsche direkt zwischen den Gruppenmitgliedern ausgehandelt werden.
Doch alle können – im Idealfall – aufeinander achten und zugehen (vergleiche auch: Kommunikation): So ist die leistungsstärkere Person vergleichsweise frei, ihre Gehgeschwindigkeit zu verlangsamen (der leistungsschwächeren Person fiele es sehr viel schwerer, die ihrige dauerhaft zu beschleunigen.) Sollte auf Tour dennoch deutlich werden, dass der Leistungsunterschied so groß ist, dass das gemeinsame Tourenziel gefährdet wird, liegt es nun eher an der leistungsschwächeren Person, eine Lösung anzubieten: „Ich bleibe an der Scharte. Ich wickle mich in den Biwaksack, dann wird mir nicht so kalt, bis ihr zurück seid“. Eine solche Lösung kann von der Gruppe angenommen werden. Umgekehrt fiele es den Leistungsstärkeren in einer Gruppe hingegen schwer, der leistungsschwächeren Person solch eine Lösung vorzuschlagen, da dieser dann ja der gemeinsame Gipfel (oder andere geteilte Ziele) „genommen wird“.
Merke: Beginnt eine Gruppe vergleichsweise ruhig, kommt sie eher in eine gute Gehgeschwindigkeit, als wenn sie diese später drosseln muss. Außerdem ermüdet ein hohes Anfangstempo leistungsschwächere Personen stärker und schneller als ein langsameres Aufwärmtempo.
Entwicklungsperspektive
Hattest du stärker als erwartet oder komplett überraschend mit dem Anspruch der Tour zu kämpfen, hilft es, im Nachgang der Tour jede Phase zu analysieren. So kannst du verstehen, welche Faktoren eine Rolle spielten und du kannst überlegen, was du beim nächsten Mal anders machen würdest. Beispiele könnten sein:
Ich werde mehr Getränke mitnehmen, früher mit dem Trinken beginnen und so Dehydration (und damit Leistungsabfall) vermeiden.
Ich werde von Anfang an ein gemütlicheres Gehtempo anschlagen.
Ich weiss, dass ich mich in kurzen Kraxel- oder Gratpassagen sicherer fühle, wenn wir in der Gruppe ein Seil dabeihaben. Die/der XY weiß, wie das einzusetzen ist – ich werde fragen, mir zu helfen.
Um auch die erlebte komplexere Gruppensituation besser zu verstehen und daraus auch Schlüsse für das Miteinander auf einer nächsten (gemeinsamen) Tour zu ziehen, lohnt es, sich der Faktoren bewusst zu werden, die sich auf die Gruppendynamik ausgewirkt haben. Folgende allgemeine Faktoren können hineinspielen, wenn eine Gruppe in Bedrängnis durch Überforderung (einzelner oder der ganzen Gruppe) gerät:
Bindungswunsch: „Ich will dazugehören.“ Menschen sind soziale Wesen. Sie wollen Gruppen angehören und in Gruppen Ziele erreichen und Interessen verfolgen. Ein Gruppenmitglied gehört dann dazu, wenn es dazu beitragen kann, dass die Gruppe ihr Ziel erreicht. Bereits „Abreissen lassen“ stellt eine – wenn auch kleine – Bedrohung dieser Zugehörigkeit dar. Um eine Zugehörigkeit nicht zu gefährden, kann es passieren, dass Menschen ihre eigenen Befindlichkeiten nicht wahrnehmen bzw. als weniger relevant einschätzen.
Anerkennungswunsch: Menschen wollen einer Gruppe nicht nur angehören, sondern auch Anerkennung erleben. Anerkennung wird gegeben für Leistungen, die den Gruppenzielen dienen (eine gute Tourenidee, eine gelungene Wegfindung, ein mitgenommenes Eisgerät, um im Altschneefeld Stufen zu schlagen, …) oder durch Taten, die zur positiven Stimmung beitragen (der trockene Kommentar oder die Gipfelschokolade, die überraschend aus dem Rucksack hervorgekramt wird). Anerkennung wird eher nicht gegeben, wenn ein Gruppenmitglied Gruppenziele oder -interessen gefährdet oder vereitelt. Dies macht es auch so schwer, Dinge zur Sprache zu bringen, die das Ziel oder die Stimmung gefährden könnten.
Festlegung: „Die Tour geht, also geht sie.“ Wenn eine Gruppe (und auch eine Einzelperson) zu einer Entscheidung für eine Tour oder einen Gipfel gekommen ist, wird diese Entscheidung nur widerwillig in Frage gestellt. Hilfreich ist die Haltung, vor allem unterwegs sein zu wollen, statt bestimmte Ziele unbedingt erreichen zu wollen. Festlegung führt zum nächsten Faktor …
Ballistisches Handeln: „Wir haben das so ausgemacht, also machen wir es so.“ Die Gruppe bewegt sich durchs Gebirge wie eine abgeschossene Kanonenkugel: Deren Flugbahn hängt ausschließlich vom Abschuss ab, sie ist „ballistisch“. Hilfreich ist, vorab Checkpunkte festzulegen, an denen die Flugbahn neu justiert werden kann. An solchen Checkpunkten kann dann – idealerweise – festgestellt werden: „Wir liegen gut in der Zeit, das Wetter, die Bedingungen und unsere Kondition passen, also weiter“. Oder aber auch: „Wir sind langsamer als gedacht und die Wolken türmen sich schon; wir müssen unsere „Flugbahn“ ändern und ein anderes Ziel wählen oder die Tour abkürzen.“
Ungenügende Tourenplanung und damit „Blindflug“: Ein Checkpunkt kann z. B. nur genutzt werden, wenn für den Abschnitt bis zu diesem Checkpunkt eine Zeitplanung gemacht wurde. Nur dann kann eine Gruppe erkennen, „in der Zeit“ zu sein oder auch prüfen, ob die Kondition für die Resttour reichen wird.
Gruppendruck: Im Wortsinn wird ein solcher selten vorkommen – eine Gruppe wird meist nicht direkt (d. h. durch Worte oder Taten) Druck auf einzelne ausüben und wenn, dann nicht durch alle. Meist wird Gruppendruck von einer Person vermutet, die der Annahme ist, dass sie mit Zielen oder Bedürfnissen der Gruppe nicht übereinstimmt, z. B.: „Bei dieser Kälte und diesem Nebel zieht es mich überhaupt nicht auf den Gipfel. Aber die anderen wollen ihn ja unbedingt.“ Hilfreich für eine Person, die Gruppendruck vermutet, ist, sich nicht als EINZIGE gegen ALLE ANDEREN vorzustellen, sondern, um zu obigem Beispiel zurückzukehren, zu überlegen, ob wirklich alle die Tour weiter machen wollen und ob die, die das wollen, so entschlossen sind, wie es erscheint.
Verlusteskalation: Je mehr Kosten und Mühen wir aufgewandt haben, um ein Ziel zu erreichen, desto schwerer fällt es, von diesem Ziel loszulassen: Kurz vor dem Gipfel ist es viel schwerer umzudrehen oder sich einzugestehen, dass man der Anforderung nicht gewachsen ist, als kurz nach Beginn der Tour. Hilfreich ist wiederum die Haltung des „Unterwegsseins“.
Selektive positive Erinnerung: Die Schwierigkeit einer Tour und wie anstrengend sie ist, wird auf der Basis des Könnens und der Kondition „abgespeichert“. Unternimmt man nach Jahren dieselbe Tour wieder, kann es passieren, dass man von der Länge, der Ausgesetztheit oder der Schwierigkeit einzelner Stellen überrascht wird, wenn das eigene Leistungsvermögen gesunken ist oder man schlicht nicht mehr so häufig in entsprechendem (z. B. ausgesetzten) Gelände unterwegs ist.