In Gruppen fühlen wir uns im Gebirge üblicherweise geborgener und sicherer, als wenn wir alleine unterwegs wären. Wir neigen daher dazu, mögliche Gefahren entweder gar nicht in den Blick zu nehmen oder sie zu unterschätzen. Eine Gruppe im Gebirge trägt immer ihre soziale Welt mit ins Gebirge. Das ist klar erkennbar, wenn man auf die Gespräche achtet, die geführt werden: Sie handeln früher oder später immer auch von Vorgängen im Tal. Mit der Gruppe unterwegs zu sein, führt also zu einer Ablenkung von der hier und jetzt gegebenen Umwelt. Unsere Wahrnehmung ist „selektiv“ – sie wählt. Die alpine Umwelt muss dann schon mit einem starken Hinweisreiz auf Gefahren hinweisen: Eine starke Wolkenbildung kann eine wandernde Gruppe leicht übersehen, ein Donnerrollen nicht mehr. Ersteres ging aber Zweiterem voran und wäre leicht zu sehen gewesen, hätte man darauf geachtet.
Grundsätzlich wollen Menschen als soziale Wesen eine gute Stimmung in der Gruppe aufrechterhalten und Konflikte vermeiden. Selbst wenn eine problematische Entwicklung, sprich: eine Gefahr wahrgenommen wurde, kann es sein, dass wir uns lieber von der guten Stimmung ablenken lassen, als auf unangenehme Situationen wie eine Wetterverschlechterung hinzuweisen. Wir denken uns das Ausmaß der Wetterverschlechterung klein, um nicht in die Not zu kommen, uns und anderen das Tourenziel zu gefährden. Im Wunsch, zur Gruppe dazuzugehören und in guter Weise beizutragen, fällt es schwer, sich gegen die wahrgenommene Stimmung oder Meinung in der Gruppe zu positionieren.
Sicherheitsgefühl, selektive Wahrnehmung und Harmoniestreben in Gruppen können dazu beitragen, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, wie wir eigentlich Entscheidungen treffen und wer für die Entscheidungen – wie beispielsweise die Wegfindung – verantwortlich ist. Diese sogenannte Verantwortungsdiffusion kann im ungünstigen Fall dazu führen, dass wir als Gruppe immer weitergehen, obwohl einzelne Gruppenmitglieder sich bereits unwohl fühlen oder (allein) anders entscheiden würden. Da nicht klar ist, wie die Gruppe zu Entscheidungen kommt, fühlt sich auch niemand dafür verantwortlich.
Verwandt damit, für Gruppen aber sehr schwer zu durchschauen ist der Effekt, der eintritt, wenn in Gruppen wichtige Informationen nicht allen bekannt sind („ungeteilte Informationen“). So könnte es sein, dass eine Person in der Gruppe gehört hat, dass eine Brücke über einen Bach am Hüttenaufstieg bei einem Gewitter weggerissen wurde und daher ein Umweg nötig wird. Sie geht davon aus, dass dies auch alle anderen wissen und bringt es daher beim Aufbruch nicht zur Sprache. Die anderen jedoch wissen es nicht und so kommt es, dass die Gruppe schlussendlich überrascht vor der weggerissenen Brücke steht – bis auf die eine Person, die schon an sich gezweifelt hat, ob sie das mit der Brücke nicht vielleicht falsch verstanden hatte.
Allein schon das Wissen darüber, dass es die beschriebenen Effekte gibt, kann helfen, weniger anfällig dafür zu sein:
Sich bewusst von der Gruppe abzulenken und die alpine Umgebung in den Blick zu nehmen ist ein notwendiger mentaler Willensakt, den man sich in Gruppen zur Gewohnheit machen kann. Außerdem kann man ritualhaft in regelmäßigen Abständen kurz darüber nachdenken, wie man als Gruppe gerade unterwegs ist: Sind wir stark abgelenkt? Nehmen wir alle relevanten Informationen wahr? Wie treffen wir Entscheidungen und wer ist für die Entscheidungen verantwortlich? Wie ist die Stimmung und welchen Einfluss hat sie auf unsere Entscheidungen? Hinweise, wie man sich verhalten kann, um eine Verantwortungsdiffusion nicht weiter zu fördern, finden sich auch unter „Bedrängnis durch Ablenkung durch die Gruppe“. Schließlich kann man sich vornehmen, Dinge auch dann zur Sprache zu bringen, wenn man glaubt, dass sie auch allen anderen klar sind.
Hier geht's zum Glossar mit weiteren wichtigen Begriffen aus dem BergwanderCheck.