... Nein, auch mit bedrohlich wie verheißungsvoll klingenden Etappenzielen wie „Zuflucht“, „Kalte Herberge“ oder gar „Notschrei“.
Noch ist es weit bis zum Ziel, dem Badischen Bahnhof in der Schweiz. Ich stehe am Bahnhof in Pforzheim und suche vergeblich nach einem Hinweis zum eigentlichen Ausgangspunkt, der „Goldenen Pforte“. Mit etlichen Hilfestellungen von ortskundigen Einheimischen ist dieser Durchgang nach etwa drei Kilometern Stadtbummelei gefunden. Aufbruch in ein weit über 300 Kilometer langes Abenteuer in heimischen Gefilden!
So gut beschildert und erschlossen dieser Fernwanderweg auch sein mag, es warten etliche Unwägbarkeiten, Irrungen und Wirrungen auf den Etappen von oftmals über 30 Kilometern Länge. Kondition und Durchhaltevermögen sind durchaus gefragt und nicht wenige ersparen sich die erste oder letzte Etappe, um Kräfte zu sparen oder weil die Reserven einfach erschöpft sind.
Von Pforte zu Pforte
Gleich die erste Etappe wird mich an einem sonnigen Sonntag im Mai entlang der Enz weit über die besagte Distanz nach Dobel bringen. Die Hauswirtin der ersten Unterkunft hätte meine Ankunft beinahe verschlafen, weil ich erst am späten Abend eintreffe. Da kein Speiselokal mehr geöffnet hat, improvisiert sie mir zuliebe einen riesigen Teller mit Käsespätzle. Nach einigen Dehnübungen und zwei Magnesium-Pillen gegen sich ankündigende Krämpfe falle ich bald erschöpft, aber mit einem sehr guten Gefühl in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
Am kommenden Morgen wird schon die nächste Pforte, das „Sonnentor“ am Ortsausgang von Dobel durchschritten. Wie bei allen diesen zahlreichen Pforten kann man an den bebilderten Innenwänden die Besonderheiten und Sehenswürdigkeiten der Gegend kennenlernen. Am Boden lässt sich der Verlauf der Tour ablesen. Und Abstempeln kann man hier auch - zur Freude jener, die ihre Anwesenheit hieb- und stichfest beweisen möchten.
Hochmoore und Windmühlen
Auf dem Weg nach Forbach, dem nächsten Etappenziel, entdecke ich ganz in der Nähe des Hohloh- oder Kaiser-Wilhelm-Turms bei Kaltenbronn die ersten für den Nordschwarzwald typischen Hochmoore. Auf Bohlenstegen wandelnd, fühlt man sich in dieser urtümlichen Landschaft wie in einer anderen Welt. Unweit aufragende Windkraftanlagen holen aus den Tagträumereien jedoch schnell in die Gegenwart zurück. Das Nebeneinander von unberührter Natur und moderner Stromerzeugung ist mittlerweile typisch für den Nordschwarzwald und zwingt gelegentlich zu Umwegen, da die ursprünglich auf dem Westweg zu passierenden Bergkuppen nun durch die Anlagen blockiert sind. Warnschilder gebieten unter Verweis auf möglichen Eisabwurf den nötigen Abstand zu halten.
In Richtung Unterstmatt ist zunächst wieder einmal ein berüchtigt steiler Anstieg zu bewältigen, der auf dem weiteren Weg auf einem der zahlreichen „Hochköpfe“ an der Strecke gipfelt, bevor man im urigen Bikerlokal „Zur großen Tanne“ gemütlich und gut verpflegt unterkommt. Der kahle Kopf der Hornisgrinde, mit 1163 Metern die höchste Erhebung des Nordschwarzwaldes, liegt in Sichtweite und lässt ahnen, woher die Bezeichnung stammen könnte. Derartig hochmoorige Bergkuppen werden in dieser Gegend als „Grinden“ bezeichnet. Mit krüppelwüchsigen Latschenkiefern, Heidekraut, Binsen- und vor allem Wollgräsern sieht man viele der typischen Gewächse am Wegrand im Frühlingswind wiegen.
Weiter geht die Tour am idyllischen und entsprechend touristisch überlaufenen Mummelsee vorbei zum Nationalparkzentrum Ruhestein mit seiner Naturskisprungschanze. Schanzen werden mir auf der ganzen Strecke noch häufig begegnen. Allerdings weniger im sportlichen, als eher im wehrhaften Sinne - Überreste von Befestigungsanlagen zur Verteidigung der Bevölkerung gegen vorbeiziehende Kriegshorden, die sich gerne an Vorräten der armen ansässigen Bauersleute bedient haben. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass der Begriff „Schwedenschanze“ immer wieder auftaucht - ein Zeugnis brutaler Ereignisse während des Dreißigjährigen Krieges. Da ist die „Zuflucht“ mit gleichnamigem Hotel, kurz nach Röschenschanze und Lotharpfad, ein willkommenes Etappenziel. Auf dem nach Orkan „Lothar“ benannten, zirka einen Kilometer langen Pfad, lassen sich die immer noch sichtbaren Verwüstungen, die dieses gewaltige Naturereignis am zweiten Weihnachtstag 1999 angerichtet hat, über Stege, Leiter- und Treppenanlagen aus nächster Nähe erleben. Inzwischen ist das Jungholz nun schon so weit nachgewachsen, dass man sich in Wipfelhöhe bewegt.
Nach einem Ruhetag auf dem Harkhof verlasse ich mit einer Station in Hausach den Nordschwarzwald, um in die mir vertraute Landschaft des Südens einzutreten. In Richtung Wilhelmshöhe, dem nächsten Zwischenziel, geht es zunächst wieder steil bergauf. Aber ich bin heute ohne Eile unterwegs, schließlich habe ich vom Gasthof Wilhelmshöhe eine sehr freundliche Zusage für eine Unterkunft erhalten.
Geduldig reihe ich mich an diesem Sonntagabend in die beträchtliche Schlange der Hausgäste ein, um schließlich zu erfahren, dass ich versehentlich ein Zimmer am Bodensee gebucht hatte. „Also, vierhundert Kilometer werden Sie heute Abend wohl nicht mehr laufen wollen?“, sagt der Wirt schmunzelnd. Seine Frau bietet mir als Ersatz das letzte freie Zimmer an. Den Rest regeln die Wirtsleute vom Schwarzwald und Bodensee untereinander; ich bin nicht der Erste, dem dieses Missgeschick passiert ist. So bin ich doch noch glücklich im Gasthaus - nicht -hof - Wilhelmshöhe untergekommen.
Nächstes Ziel ist die „Kalte Herberge“, deren Name darauf zurückzuführen sein soll, dass ein Handwerksbursche vor 200 Jahren in einer Juninacht dort auf der Ofenbank erfroren sein soll. Eine andere, etwas glaubwürdigere Version besagt, dass in verborgenen Kellergewölben Lebensmittel und auch Menschen vor den bereits erwähnten vorbeiziehenden Horden versteckt worden sein sollen, was im älteren Schwarzwälder Wortschatz als „verkalten“ bezeichnet wurde; so nachzulesen in den sehr interessanten und aufschlussreichen Anlagen der Speisekartenmappe des Gasthauses.
Über die Wasserscheide und auf den Feldberg
Auf dem Weg zwischen der Wilhelmshöhe und der Kalten Herberge muss ziemlich in der Mitte der Brend, der mit seinen 1149 Metern als höchster Punkt der europäischen Wasserscheide zwischen Rhein und Donau beschrieben wird, überwunden werden. Und genau dort wird mir deren Bedeutung physisch vor Augen geführt, als ein gewaltiger Gewittersturm von Schönwald über den Berg zieht. Tatsächlich strömen beträchtliche Wassermassen links und rechts des Hauptkamms hinunter. Nach Osten zur nahen Breg, einem Quellfluss der Donau; westwärts in Richtung Rhein. Da das örtliche Naturfreundehaus geschlossen hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als durch den Starkregen und die ringsum einschlagenden Blitze weiter zu ziehen. Bis auf die Haut durchnässt genieße ich aber bald wieder die wärmende Frühsommersonne und bin bis zum Eintreffen in der Kalten Herberge schon halbwegs getrocknet.
Nachdem ich mit der Türkenlouis-Schanze auf dem „Hohlen Graben“ wieder einmal einer Wehranlage begegnet bin, steht nun der berühmte Titisee bevor. Auf dem Weg dorthin holt mich am Doldenbühl über dem Jostal ganz unvermittelt meine eigene Geschichte ein. Eine Stele aus Schwarzwälder Granit mit folgender Inschrift: „Am 18. Oktober 1986 fand hier am Thurner die Großkundgebung Endlich handeln. Für den Wald - für das Leben mit mehreren tausend Menschen statt.“ Mit Richard von Weizsäcker nahm zum ersten Mal ein Bundespräsident als Hauptredner an einer Demonstration teil. Ich war damals als Mitglied des Organisationsteams an einem Verpflegungsstand und freute mich über sein anerkennendes Zuwinken.
Vom beschaulichen Titisee aus führt der Westweg nun über Hinterzarten zu seinem höchsten Punkt, dem Feldberg mit seinen stattlichen 1493 Metern. An der Adlerschanze in Hinterzarten vorbei geht es hinauf zum malerischen Feldsee, wo man bei einer entspannten Rast kleine Fischlein umher schwimmen sehen kann - es sind Elritzen. War im Nordschwarzwald der Begriff "Grinde" Namensgeber für die Bezeichnung unbewaldeter Hochflächen, so ist es hier das mittelhochdeutsche "Velt", das der heutigen Bezeichnung "Feld" sehr nahe kommt.
Da weder am „Stübenwasen“ noch am „Notschrei“ eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden war, nehme ich eine sehr lange Etappe bis zum „Wiedener Eck“ in Kauf. Unterwegs werde ich einer ganz seltenen Begegnung gewahr: Ein Auerhahn posiert am Wegrand und lässt sich ausgiebig portraitieren. Das Problem mit der Unterkunft ist aber an diesem Christi-Himmelfahrtstag noch nicht gelöst. Das lange Wochenende hatte ich bei der Planung meiner Tour glatt übersehen. Da ich aber hier so nahe beheimatet bin, dass ich sogar meinen Wohnort im Tal erkennen kann, finde ich im Rohbau einer guten Bekannten unweit der Wiedener Passhöhe einen provisorischen Unterschlupf für die Nacht.
Belchen, Blauen, Bahnhof
Der nächste Tag wird noch beschwerlicher, da mit Belchen und Blauen gleich zwei der höchsten Schwarzwaldgipfel zu überschreiten sind. Ziemlich gerädert lande ich am späten Nachmittag am Berghaus Hochblauen. Ohne Nachtlager beschließe ich, noch die neun Kilometer weiter bis nach Kandern zu gehen, wo ich dann kurz vor Einbruch der Nacht, nach über 35 Kilometern auf und ab, von vietnamesischen Wirtsleuten aufgenommen werde.
Ein letzter Marsch durch das idyllische Markgräflerland führt zum Endpunkt der Tour. Das sogenannte „Chanderli“, die historische Kandertalbahn, macht in Hörweite darauf aufmerksam, dass man es wenigstens bis kurz vor Weil am Rhein bequemer haben könnte. Aber schließlich widerstehe ich auch dieser Verlockung und erreiche am frühen Abend den Badischen Bahnhof in Basel, von dem aus ich – recht komfortabel – die Heimreise antrete.
Damit wäre der Westweg eigentlich begangen, gäbe es da nicht noch dessen „Ostvariante“. Und nach all den erlebnisreichen Tagen ist der Entschluss schnell gefasst, den östlichen Westweg im Spätsommer retour, also von Basel nach Titisee in Angriff zu nehmen...