Skiläufer im Schneegestöber
Dicke Flocken nehmen uns die Sicht Foto: Hauke Bendt
Skitrekking durch die Sumava

Friluftsliv im Böhmerwald

Um für eine Wintertour mit Zelt und Pulka nicht bis nach Skandinavien fliegen zu müssen, hielt unser Autor Ausschau nach Alternativen. Im tschechischen Böhmerwald wurde er fündig. Dort gibt es nicht nur viel unberührte Natur und eine Menge Schnee, sondern vor allem kleine Zeltplätze, die man im Winter ganz für sich allein hat.

Halt, still! Ich bleibe wie angewurzelt stehen und deute nach vorn. Hast du das gesehen? Ich traue mich kaum zu atmen. Was war das? Auch Andi ist abrupt stehen geblieben und späht in dieselbe Richtung. Ich glaube das war ein Luchs!

Dass es hier im Böhmerwald Luchse gibt, das wussten wir. Wir hatten aber nicht damit gerechnet, dass uns einer buchstäblich über den Weg laufen würde. Aber was da plötzlich von rechts aus dem Gebüsch springt, ein Stück auf dem Weg vor uns herläuft, um dann mit einem Satz nach links in den mit Schnee bedeckten Sträuchern zu verschwinden, ist ein Luchs.

Es ist früher Morgen und es ist nebelig. Ruhig gleiten wir mit den Ski einen schmalen Pfad hinab durch den verschneiten Wald. Das einzige Geräusch erzeugen unsere Pulkas, auf denen wir das Gepäck hinter uns herziehen. Wir reden nicht, sondern genießen die morgendliche Ruhe. So konnten wir das Tier wohl überraschen.

Alte mit Moos bewachsene Bäume stehen links und rechts des Weges. Foto: Hauke Bendt

Anreise

Am Vortag waren wir in München in die Bahn nach Bayrisch Eisenstein gestiegen. Eine Skidurchquerung des Sumava Nationalparks auf skandinavische Art stand auf dem Plan. Wir verwenden dabei Fjellski, breite Langlaufski mit Stahlkanten, und ziehen unser Gepäck auf Pulkas hinter uns her. Auf den Schlitten haben Ausrüstung und Verpflegung für mehrere Tage Platz. Da es dabei auf ein, zwei Kilo nicht ankommt, stapeln sich Haferflocken, Milchpulver, Couscous, Suppen, selbst gedörrtes Fleisch und Gemüse, außerdem Kekse und Schokolade für die vielen Kaffeepausen. Es geht uns auf dieser Tour nicht um sportliche Höchstleistungen, nicht um Distanz, Höhenmeter oder Gipfel. Es geht nur darum, ein paar Tage draußen in der Natur zu verbringen. Wir werden im Zelt schlafen und mit geschmolzenem Schnee Kaffee und Porridge kochen. In Norwegen gibt es für diese Art des „Draußenseins“ ein eigenes Wort: Friluftsliv.

Als wir in Bayerisch Eisenstein aus dem Zug steigen, ist es düster und diesig. Foto: Hauke Bendt

Ankunft

Als wir in uns Bayerisch Eisenstein aus dem Zug steigen, ist es düster und diesig. Die Wolken hängen tief zwischen den schneebedeckten Bäumen. Ein Wetter, bei dem es einem klamm und kalt wird, ohne dass es regnet. Aber das ist heute egal, wir freuen uns auf die nächsten Tage. Ich atme tief ein. Es riecht feucht, nach Wald und Schnee.

Der Bahnsteig liegt direkt an der Grenze. Wir brauchen die schweren Schlitten nur quer über die Schienen nach Tschechien zu tragen, die Ski anzuschnallen und loszulaufen. Nach etwa eineinhalb Kilometern führt der Weg an einem hölzernen Schild vorbei. „Národní Park Šumava“ und „Vítejte! Willkommen! Welcome!“ Darunter fallen mir kleine Piktogramme für Wandern, Kanufahren und Zelten auf. Kein einziges zeigt ein Verbot. Es geht vielversprechend los!

Freundlich werden wir empfangen: "Vítejte! Willkommen! Welcome!" Foto: Hauke Bendt

Los geht‘s

Mit jedem Meter wird der Wald winterlicher. Erst wachsen noch viele Laubbäume am Wegesrand, später sind es hauptsächlich Fichten, die im Nebel ihre Äste unter der Last des Schnees hängen lassen. Weil die Schlitten unentwegt an unseren Hüften hangabwärts ziehen, geht es nur langsam voran. Wir müssen uns erst daran gewöhnen und einen gemeinsamen Rhythmus finden. Da wir abends keine Möglichkeit haben werden, etwas zum Trocknen aufzuhängen und die feuchte Wäsche am Körper trocknen lassen müssen, versuchen wir nicht zu stark zu schwitzen. Aber es ist zu warm, die Temperaturen liegen nur knapp am Gefrierpunkt und es ist nebelig. Kleine Eiskristalle setzten sich auf der Kleidung ab und schmelzen sofort.

Als es langsam zu dämmern anfängt, erreichen wir eine große Lichtung. Ein paar knorrige, alte Bäume stehen im Schnee. An ihren Stämmen wächst Moos empor. Etwas abseits des Weges ragt ein Zaun nur knapp aus der Schneedecke heraus. Ein Schild markiert den ersten Zeltplatz „Hůrka u Prášil“.

..oben leuchten die Sterne und unten leuchten wir... Foto: Hauke Bendt

Zeltplätze

Hier im Nationalpark gibt es sieben Zeltplätze. Alle liegen, in einem Abstand von etwa 15 Kilometern, direkt an der im Winter präparierten „Šumava-Magistrale“. Man kann also jeden Abend bequem einen dieser Plätze erreichen und ganz legal zelten. Außer einem hölzernen Tisch mit zwei Bänken und einem etwas entfernten Toilettenhäuschen, gibt es keinerlei Komfort. Das Übernachten ist kostenlos und es bedarf auch keiner Anmeldung. Man hinterlässt den Platz so wie er vorgefunden wurde.

Weil es schnell dunkel wird, fangen wir sofort an das Zelt aufzubauen. Im Schnee funktioniert das anders als auf der Wiese. Erst treten wir den Schnee mit den Ski zu einer kompakten Ebene herunter, dann verwenden wir sie zum Abspannen des Zelts. Große Schneeheringe geben zusätzlichen Halt. Tunnelzelte mit verlängerter Apsis haben sich im Winter bewährt. Sie bieten viel Platz und man kann im Eingangsbereich einen schmalen, knietiefen Graben schaufeln. So lässt sich bequem ein- und aussteigen. Man braucht auch nicht im Schneidersitz auf dem Boden zu hocken, sondern kann auf der Isomatte wie auf einer Bank sitzen, wenn man die Füße in den Graben stellt. Weil es im Winter kalt und früh dunkel ist, verbringt man viel Zeit im Zelt. Also macht man es sich drinnen möglichst gemütlich.

Hygge

Wenn abends der Benzinkocher unter dem Topf faucht, wird es schnell warm im Zelt. Die Daunenjacke braucht man nicht mehr. Es gibt Couscous mit Makrelen in Tomatensauce, dazu Tee, später noch einen Kaffee. Während wir essen, schmelzen wir unentwegt weiter Schnee, um sämtliche Flaschen mit Wasser zu füllen. Direkt nach dem Aufwachen soll es schließlich schnell gehen: Zum Frühstück gibt es Kaffee und Porridge, was im Zelt mit kalten, klammen Fingern und in eine dicke Daunenjacke gehüllt besonders gut schmeckt. Ich genieße es, wenn langsam die Wärme in Füße und Hände zurück gelangt. Es sind diese kleinen Momente, die eine Wintertour so besonders machen. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann es vermutlich nicht so recht nachvollziehen. Als die Sonne es wenig später über die Baumkronen schafft, melden sich endgültig alle Lebensgeister zurück und wir brechen auf. Ganz ruhig, Schritt für Schritt immer tiefer hinein in den verschneiten Wald.

Unermüdlich läuft der Benzikocher und schmelzt Schnee. Foto: Hauke Bendt

Off the beaten tracks

Immer wieder verlassen wir bewusst die präparierten Strecken und spuren uns selbst einen Weg. Doch der Schnee ist nass und tief und selbst wenn es leicht bergab geht, ist das Vorankommen mit der Pulka zäh. Einmal stehen wir während einer dieser Eskapaden plötzlich vor einem Bach. Er ist nicht sehr tief, dennoch müssen wir unsere Pulkas die Böschung in das Flussbett hinablassen, sie durchs Wasser und auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinaufziehen. Danach geht es weiter durch den tiefen Schnee. Wir sind nicht traurig als wir nach etwa zwei Kilometern wieder auf die präparierte Sumava-Magistrale treffen. Sie verläuft nun entlang des Rachelbaches (Roklanský potok), der durch die verschneiten Maderer Filze, das größte Hochmoorkomplex im tschechischen Nationalpark fließt. Irgendwie erinnert es mich hier ein wenig an Skandinavien. Große weiße Flächen, vereinzelt ein paar Birken. Ein Elch, der Blätter von einem der niedrigen Sträucher frisst, würde gut in die Szene passen. Und tatsächlich wäre das sogar möglich, in der Nähe des Moldaustausees lebt tatsächlich eine kleine Population dieser vierbeinigen Riesen.

In den 90er Jahren sind weite Teile der Sumava dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen. Foto: Hauke Bendt

Menschen

Während der gesamten Tour kommen wir nur selten in die Nähe von Straßen und Ortschaften. Über weite Strecken sehen wir nur wenige Menschen. Am Morgen des dritten Tages kommen wir durch Modrava, einen beliebten Ausgangspunkt für Langlauftouren und Wanderungen. Es ist Wochenende und und auf dem großen Parkplatz laufen Menschen mit Ski und Rucksäcken hin und her. Von einem Moment auf den anderen haben wir die Ruhe des Waldes verlassen und sind in ein geschäftiges Treiben gestolpert.

Als wir unsere Schlitten quer durch den Ort ziehen, werden wir kaum beachtet. Am Einstieg der Loipe stehen zwei Nonnen auf alten Holzski. Sie tragen einen typischen schwarzen Habit, dreieckige Rucksäcke aus Segeltuch und lederne Stiefel, die in herkömmlichen Drahtbindungen stecken. Die beiden kümmern sich um eine Gruppe Kinder, sie schließen hier eine der kleinen Jacken, rücken dort eine Mütze zurecht und stellen ihre Schützlinge schließlich hintereinander in die Loipe. Zwanzig kleine Augenpaare schauen uns neugierig an. Wir lächeln ihnen zu und überholen langsam.

Kaffeezeit! Foto: Hauke Bendt

Pausen und Routinen

Will man eine gute Zeit in der Natur verbringen, schadet es nicht, sich Zeit für Pausen zu nehmen. Vor allem im Winter ist es wichtig dem Körper regelmäßig Energie zuzuführen. Denn ist man erstmal erschöpft und muss an die körperlichen Reserven, fängt man zu frieren an und der Spaß ist schnell vorbei. Darum planen wir regelmäßige Pausen ein und verhandeln sie nicht ständig neu. Sie folgen einer festen Choreografie: Alle 60 Minuten werden die Pulkas am Wegesrand abgestellt und die Ski in den Schnee gesteckt. Wir ziehen uns dicke Daunenjacke über und setzen uns auf die Schlitten, es gibt Kaffee aus der Thermoskanne, Schokolade und Kekse. In der Mittagspause nehmen wir uns Zeit, eine Suppe zu kochen. Diese kurzen Unterbrechungen geben dem Tag einen Rhythmus. Besonders wenn die Motivation mal nachlässt, hilft es ungemein auf die Uhr gucken zu können und zu wissen: Nur noch zehn Minuten, dann gibt es Kaffee.

Wie durch einen natürlichen Tunnel führt der Weg schnurrgerade durch die Birkenallee Foto: Hauke Bendt

Abkürzungen

Dass es nicht immer eine gute Idee ist, die ausgewiesenen Skirouten zu verlassen, erfahren wir am Morgen des vierten Tages. Wir verlassen den Zeltplatz Strážný auf einer alternativen Route und stehen wenig später in tiefen Spurrillen, die schwere Forstmaschinen hinterlassen haben. Hinter einer Kurve liegen zahlreiche gefällte Bäume. Weil für uns umkehren aber nicht in Frage kommt, klettern wir über die Stämme hinweg und zerren das Gepäck zwischen den dichten Zweigen hindurch. Immer wieder, bis wir einen alten Bauwagen passieren. Er steht etwas abseits, ein Schornstein ragt vom moosigen Dach empor. Im Inneren stehen Konserven und Flaschen auf einem Tisch, unter dem Wagen liegen Müll und Kanister. Holzfällerromantik sieht anders aus!

Erst eine halbe Stunde später erreichen wir eine große freie Fläche und wir können die Ski wieder anlegen. Auf den Feldern sind wir nun beißendem Wind ausgesetzt, der uns schräg von vorne entgegen bläst. Es wird sofort kalt und wir verstecken uns unter unseren Kapuzen, während wir dem schnurgeraden Weg folgen. Er ist von Birken gesäumt und ein kleiner Bach gurgelt an ihm entlang. Ein Biber hat hier vor kurzem die weißen Stämme bearbeitet, die Späne sind noch frisch und liegen ringsum im Schnee.

In Nové Údolí gibt es einen Kiosk in einem alten Bahnwaggon. Foto: Hauke Bendt

Je später es wird, desto bleierner hängen die Wolken am Himmel. Und noch bevor wir die Grenze nach Deutschland erreichen, hat es zu schneien begonnen. Dicke, schwere Flocken behindern die Sicht, man kann kaum mehr hundert Meter weit schauen. Hier in Nové Údolí endet das tschechische Bahnnetz an einem kleinen Kopfbahnhof. Auf einem Abstellgleis steht ein alter Wagon, in dem sich ein Kiosk befindet. Heute ist er geschlossen. Weit und breit ist niemand zu sehen, es ist wie ausgestorben. Wir überqueren die Grenze nach Deutschland und laufen weiter in Richtung Haidmühle. Weil wir den vorhandenen Rufbus nicht reserviert haben, nehmen wir ein Taxi nach Freyung und warten dort eine halbe Stunde auf den Bus, der uns nach Passau bringt. Eine gute Gelegenheit, ein letztes Mal Thermoskanne und Kekse herauszuholen und die Beine auszustrecken.