Dorf mit traditionellen alten Holzhäusern
Auf der letzten Etappe Richtung Tolmezzo sollte man Zeit für Plodn einplanen. Die deutschsprachige Sprachinsel wirkt wie ein bewohntes Freilichtmuseum. Foto: Arnold Zimprich
Graveln von München nach Tolmezzo

Über alle Berge

Das Frühjahr ist keine Jahreszeit, in der man üblicherweise eine Alpenüberquerung mit dem Rad plant. Die hohen Pässe sind mit dem MTB noch lange nicht machbar, Rennradreifen bieten bei Schnee und Eis zu wenig Grip. Das Gravelbike erscheint da wie die perfekte Lösung. Die etwas gröberen Reifen sorgen für ausreichend Traktion auch auf Eis und Schnee, und wenn man will, ist man (fast) so schnell wie auf dem Rennrad.

Gnadenlos weht der Föhn um die altehrwürdigen Mauern der Porta Claudia bei Scharnitz. Schon bevor es so richtig in die Berge ging, wogten die Bäume bereits im Abwind – ein klares Föhn-Indiz, „Sunnawind“ sagen sie auch dazu. 35 Kilometer später geht dann die Düse. Und mit noch etwas habe ich nicht gerechnet. Je näher ich Seefeld komme, desto länger werden die Radweg-Abschnitte, die im Winter als Loipe genutzt wurden und nun noch teilweise von betonhartem Schnee bedeckt sind. Mit meinen Gravelreifen walze ich zum Glück einfach drüber. In Seefeld selbst wird noch Ski gefahren – dank Kunstschnee. Schick angezogene italienische Paare flanieren in der Fußgängerzone. Ich hingegen überlege erstmal, wo ich auf die Schnelle unterkommen kann. Eigentlich wollte ich noch bis jenseits des Brenners kommen an diesem ersten Tag. Aber es hilft nichts. Zeit, sich einen Schlafplatz zu suchen. Am nächsten Tag im Inntal ist der Föhn Vergangenheit.

Weg vom Brenner – rein in die Idylle

Locker rolle ich auf dem Innradweg in die aufwachende Hauptstadt Tirols, bevor ich vom Tivoli über Vill Richtung Brenner radle. Die Straße ist zu schmal, der Pendelverkehr zu intensiv, der Berg zu steil, um ihm mit ein paar beherzten Kurbelumdrehungen schnell zu entfliehen. Die östlich hoch über der Sill entlang führende Straße über Ellbögen hingegen fährt sich wunderbar, schnell bin ich in Matrei, allein die letzten Rampen zum Brenner ziehen sich. Hier ist der Verkehr wieder ausreichend dünn. Die Radelei macht Spaß. Der wohl meistbefahrene Pass der Alpen wird mit dem Bau neuer Outlets und Imbissbuden nicht schöner. Erleichtert lasse ich den Brennerrummel hinter mir und biege auf den Radweg Richtung Sterzing ab, der zum Teil auf der alten Bahntrasse verläuft. Er ist noch alles andere als geräumt – über Kilometer hinweg liegt noch Altschnee, das Fahren gleicht auf dem stellenweise breiigen Schnee einem Eiertanz. An Gossensass vorbei rollt es sich dann ganz wunderbar nach Sterzing, ich kaufe Lebensmittel ein und lasse das ansonsten absolut besuchenswerte Städtchen zügig hinter mir, will Land gewinnen. Wie weit werde ich heute noch kommen? Als ich später Franzensfeste erreiche, fühle ich mich immer noch gut und so ist der Entschluss schnell gefasst, heute noch Sankt Lorenzen kurz vor Bruneck anzusteuern. Auf der Ostseite des Eisack lassen sich einige Kilometer Richtung Pustertal abkürzen.

Am Kreuzbergpass herrschen auch im Frühjahr noch gute Wintersport-Bedingungen. Foto: Arnold Zimprich

Lange hatte ich gegrübelt, ob ich nicht das Rennrad nehme – doch für den Radweg ins Pustertal ist das Gravelbike wie geschaffen. Zelt- und Kochausrüstung finden gut Platz, mit dem Rennrad hätte ich auf Pensionen ausweichen müssen. So kann ich mir meine Schlafplätze spontan aussuchen, so wie den Campingplatz Ansitz Wildberg, der unter anderem eine warme Dusche bietet – das Wichtigste für mich heute. Als die Muskeln nach einer kalten Nacht wieder warm sind, bestaune ich die Sextener Dolomiten und kurbele weiter hinauf zum Kreuzbergpass, mit 1636 Metern der Höhepunkt dieser Alpenüberquerung. Mit der Abfahrt Richtung San Pietro di Cadore folgt für mich Terra Incognita. Ein wenig verschlafen wirkt alles, aber nicht minder interessant, insbesondere mein nächster Etappenort, Plodn (auf italienisch Sappada). Er wirkt wie ein bewohntes Freilichtmuseum. Die Anzahl an liebevoll gepflegten, eigenwilligen und für die Region untypischen, weil von Tiroler Einwander*innen zum Teil vor Jahrhunderten gebauten Häusern ist absolut faszinierend. Ich klappere die einzelnen Ortsteile ab, fotografiere, kann mich kaum trennen. Ich muss wiederkommen und mehr über den Ort erfahren, der mit einem kleinen Skigebiet aufwarten kann und zum Wandern im Sommer einlädt. Doch nun folgt die nächste Abfahrt – und was für eine. Allein schon die ersten Kehren hinab nach Forni Avoltri reißen mich zu Jubelstürmen hin. Weniger begeistert bin ich vom einsetzenden Regen, aber bei dieser genialen Abfahrt ist mir das Nasswerden egal.

Der Tagliamento ist der einzige verbleibende Wildfluss seiner Größe in den Alpen. Foto: Arnold Zimprich

Je näher ich Villa Santina und damit dem Tagliamento komme, desto heftiger wird der Regen. Ich habe leider nicht viel Zeit, müsste morgen Abend Triest, mein ursprünglich geplantes Ziel, erreichen, doch die Wetteraussichten sind trübe – Dauerregen ist angesagt. So entscheide ich mich, den Ehrgeiz hintanzustellen, mir in Tolmezzo eine Unterkunft zu suchen und am nächsten Morgen ab Carnia mit dem Zug zurück nach München zu fahren. Ich werde wieder ins Friaul kommen – die Möglichkeiten zum Radfahren, Bergsteigen, Wandern und Skitourengehen wollen erkundet werden.

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