Die normalen Bahnen sind anscheinend nicht mehr schnell genug, also haben sie in Zermatt den „Matterhorn- Express“ gebaut. Schlimm, dieser Zeitgeist, denkt man und ist dann – genau wie beim Eiger- Express in Grindelwald – doch ganz begeistert, wie schnell einen das moderne Zeug dort hinauf katapultiert, wo man hinwill: in die Berge. Über uns thront der vielleicht berühmteste Gipfel der Welt, das Matterhorn, das wir schon so oft auf Fotos und so selten in natura gesehen haben, dass es nun schwerfällt zu realisieren: Das ist echt!? Als ob man einem Filmstar auf der Straße begegnet und dann nicht weiß, wie man jetzt Original und mediales Abbild nebeneinander im Hirn einparkt. Egal, es ist wunderschön.
Hinauf zur Schönbielhütte
Obwohl ich wieder einmal beruflich unterwegs bin, muss ich mich erfreulicherweise um nichts kümmern. Beim Filmemachen hängt die Organisation an mir, diesmal gehe ich einfach mit und schreibe die Geschichte, alles andere erledigt der Fotograf Bernd Ritschel. Mit von der Partie sind Franz und Margit, sie freuen sich fast noch mehr als wir. Auch sie gehen schon ihr ganzes Leben in die Berge, aber diese große Kulisse hier in den Westalpen ist noch etwas Neues. Genau wie für mich das klassische Hochtourengehen neu ist, obwohl ich in jungen Jahren viel in den Westalpen unterwegs war, immer in möglichst schwierigen Wänden. Im Schatten der Walliser Viertausender wollen wir vier Tage lang von Hütte zu Hütte ziehen. Die heutige Etappe ist kurz: in zweieinhalb Stunden von der Station Schwarzsee hinüber zur Schönbielhütte.
In großem Abstand geht es unter der Nordwand des Matterhorns hindurch. Vor knapp vierzig Jahren bin ich dort hinauf. Inzwischen prüft man als Erstes, ob solche Wände überhaupt noch Eis haben. Heute ist sie fast durchgehend weiß, vor ein paar Tagen fiel ein Viertelmeter Schnee. Vermutlich haftet nur dieser eine Niederschlag als dünne Auflage auf dem Fels, aber immerhin: Im Moment ist dort von der Klimakatastrophe noch nichts zu sehen.
An der Hütte dagegen sieht man es drastisch. Unterhalb liegt das, was einmal das Bett des Zmutt-Gletschers war, leer und staubig in der Sonne wie eine Geisterstadt. Oberhalb der Hütte ist der Schönbielgletscher so weit zurückgegangen, dass der morgige Weiterweg hinab zur aperen Gletscherzunge erst einmal weiter talaufwärts führt und dort ohne Markierung hinab über geröllbedeckte Toteisreste in der Randmoräne. Hermann Berie, ein deutscher Bergführer, ist mit seiner Gruppe von der Bertolhütte über genau die Etappe herübergekommen, die wir morgen gehen wollen – er rät, dieses unübersichtliche Gelände erst bei Tageslicht zu beschreiten. Eigentlich wollten wir um drei Uhr nachts aufbrechen, um das südseitige Schneefeld, das weiter oben wartet, noch in den kühlen Morgenstunden zu passieren. Jetzt werden wir dort erst mittags ankommen – das wird heiß! Aber natürlich halten wir uns an Hermanns Rat und die schwierige Wegfindung gelingt im ersten Licht perfekt.
Unter den Hängegletschern
Auf einem herrlich einsamen Steig geht es nun rund tausend Höhenmeter hinauf, vis-á-vis die nächste berühmte Nordwand: die der Dent d‘Hérens mit ihren kolossalen Hängegletschern. 1925 wagten sich Willo Welzenbach und Eugen Allwein zwischen den häuserzeilengroßen Eisbalkonen hindurch, die drohend in der tausend Meter hohen Flanke hängen. Die riskante Linie wurde selten wiederholt, nun sind die gefährlichen Hängegletscher in rund 3600 Meter Höhe selbst bedroht: Für die nächsten zehn Tage etwa liegt die Nullgradgrenze laut Vorhersage konstant über viertausend Meter – und das im September. Dort herrschen jetzt also rund um die Uhr Plus-Temperaturen, im Hochsommer wären diese vermutlich sogar zweistellig. Seit Tausenden von Jahren hängen die Eisbalkone dort oben, jetzt verwette ich meine Steigeisen, dass sie früher enden als all die anderen Gletscher in den Ostalpen, die laut Studien in etwa fünfzig Jahren zur Gänze verschwunden sein werden. Wenn der Frost die Basis der Hängegletscher nicht mehr mit dem Untergrund verklebt, dann hält sie nichts mehr. Es wirkt wie eine Metapher für das Verhältnis von Mensch und Natur schlechthin: Lange waren und fühlten wir uns von Naturkräften bedroht, um seit geraumer Zeit festzustellen, dass wir selbst imstande sind, die Naturgewalten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nun denn... wir müssen Anseilen.
Neuschnee verdeckt die Spalten des hier sonst aperen Gletschers, aber momentan tragen diese Schneebrücken natürlich nicht. In weiten Kurven umgeht die gottlob gut sichtbare Spur von Hermann Beries Gruppe Spalten und Brücken. Nun wird es steil, die Sonne steht senkrecht, sie heizt an diesem Frühherbsttag die Täler auf über dreißig Grad und wir sehen beinahe Sternchen. Tausend Höhenmeter, die Hitze und, tja, unser Alter summieren sich zu einer Erschöpfung, die sich gewaschen hat: bis auf Margit sind wir alle Ü60. Als die anderen mich vorgestern am Bahnhof in Konstanz abgeholt haben, bin ich mit ihr und Franz wegen der lieben Politik heftig aneinandergeraten.
Ganz kurz bevor es wirklich laut wurde, haben wir betreten geschwiegen und die beiden dachten wohl genau wie ich: DAS kann ja heiter werden! Heute früh mussten wir bei der Wegfindung kooperieren, es gelang ganz vorzüglich. Jetzt geben sie mir großzügig von ihrem Proviant ab – ich hatte Gewicht sparen wollen und darauf kalkuliert, auf der Hütte Verpflegung für unterwegs einkaufen zu können, was sich als falsch erwies. Nur mit Schokoriegeln, wie sie dort erhältlich waren, täte ich mir schwer. Und bin entsprechend dankbar, dass sie mich freigebig und ohne jedes Nachkarten an Nüssen, Käse und Salami teilhaben lassen. Kameradschaft nennt sich das: ein Begriff, der vielleicht veraltet klingt, aber ein zeitloser und unverzichtbarer menschlicher Wert ist.
Hitze auf über 3000 Metern
Zur Bertolhütte geht es zwar nur noch bergab, aber es ist weit, der Schnee reflektiert so extrem, dass die Luft sich schier spiegelt und ich mich nicht wundern würde, wenn wir bald eine Fata Morgana sähen. Es ist eine ziemlich ernste Tour: Wir sind wirklich far out hier, weit und breit ist niemand anderes zu sehen. Ein verstauchter Fuß und man geriete schier in Bergnot. Es zieht und zieht sich, wir sind müde und haben nichts mehr zu trinken. Schließlich stehen wir an den Eisenleitern unter der Bertolhütte, einem Stützpunkt der legendären Skidurchquerung Haute Route. Wie ein Adlerhorst hockt die Hütte auf 3311 Meter Höhe, gegenüber ragt die Dent Blanche in den Himmel. Es ist eine der spektakulärsten Hütten des gesamten Alpenraums.
An einen messerscharfen Felsgrat, der von einem Nachbargipfel herabzieht, ist eine Schmelzwasserleitung an den Felsen montiert wie ein Klettersteig mit höherem Schwierigkeitsgrad. Grat und Gipfel sehen allerdings ebenfalls völlig aper aus. Woher soll das Wasser also kommen? Auch das ist so ein Klimawandelproblem. Wasser wird auf der Hütte jedenfalls drastisch gespart, es gibt keine Duschen, die Toilette ist ein Bioklo mit Torf. Bernds minutiöse Planung sieht als morgiges Ziel eigentlich den abermals verdammt langen Weg zur Vignetteshütte vor, aber die Variante, die er gehen will, ist laut Hüttenwirt von Steinschlag bedroht: Gletscherrückgang, labile Moränen, das Übliche.
Da die Alternativstrecke noch länger wäre, verkürzen wir unsere Tour um einen Tag und steigen ab nach Arolla. Immer noch wie betäubt von der überwältigenden Aussicht auf die Viertausender des Wallis, nehmen wir am Morgen die steilen Eisenleitern hinab: Laut Bernds zehn Jahre alter Karte stünden wir jetzt auf dem Bertolgletscher, aber den gibt es nicht mehr, nur Steine und ein leeres Gletscherbecken, das die Sonnenwärme aufnimmt.
Vereinzelte Toteisreste und darüber extrem labile Hänge, gottseidank in sicherer Entfernung. Der Weg zu dieser fantastischen Hütte ist tatsächlich nirgends von Steinschlag bedroht. Wir hatten drei unvergessliche Tage. Am Ende bleibt uns die Schönheit dieser Berge intensiver in Erinnerung als die überdeutlichen Zeichen, dass der Klimawandel in Siebenmeilenstiefeln voraneilt. Und die beste Erinnerung ist doch, wie leicht es fiel, mit Franz und Margit die Differenzen in der schnöden Politik zu vergessen: Berge verbinden uns am Ende immer mehr mit den anderen Menschen als nur mit der Landschaft.