Eine Plane soll den Gletscher am Gemsstock in Andermatt schützen.
Seit 2004 schützt eine Plane die Eisrampe am Gemsstock bei Andermatt. Fotos: Johannes Schnitzer
Kampf gegen die Gletscherschmelze

Tropfen auf das heiße Eis

Wissenschaft und Tourismus suchen nach Möglichkeiten, das Verschwinden der Gletscher zu verlangsamen. Von Schneelanzen über Abdeckungen und Windfänge bis hin zu Eis-Stupas gibt es viele Ideen – die allerdings nur Symptome statt der Ursachen bekämpfen. Langfristig helfen sie nicht.

Am 7. April 2056 ist Schluss. Dann wird zum letzten Mal ein Mensch auf Skiern den Vorabgletscher bei Laax hinuntergleiten. Danach ist der Gletscher weg. Es sei denn, viele, sehr viele Skifans kaufen den Last-Day-Pass, einen Skipass für den letzten Tag auf dem Gletscher. Denn mit jedem Kauf werden eine Tonne CO2 kompensiert und Bergwald aufgeforstet – und der letzte Tag um zehn Minuten nach hinten verschoben. Das ist nicht viel. Tatsächlich werden die Gletscher in den Alpen bis 2100 voraussichtlich verschwunden sein. Es wird zu warm, auch in den Höhenlagen.

Mehrere Initiativen versuchen, den Rückgang zumindest zu verzögern. Doch retten wird die Gletscher wohl niemand. Dabei sind sie an vielen Orten nicht nur eine wichtige Wasserquelle, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor – und das weit über die Alpentäler hinaus bis in die Ebenen der Flusssysteme. Offensichtlich ist das bereits heute bei den alpinen Wintersportorten. Taut dort ein Gletscher ab, kann die Funktionsfähigkeit und Rentabilität eines Skigebiets in Frage gestellt sein. Aber auch andere Wirtschaftszweige sind betroffen.

In Deutschland ist die Sache klar: In zehn Jahren sind die Gletscher laut einer Studie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW) alle weg. Denn damit ein Gletscher bestehen kann, braucht er einen Bereich oberhalb der klimatischen Schneegrenze, erklärt Wilfried Hagg, Professor für Glaziologie, Hydrologie und Physische Geografie der Hochgebirge an der Hochschule München: „Diese Grenze hat sich aber deutlich nach oben verschoben und liegt jetzt zwischen 3300 und 3500 Metern.“ Zu hoch für Deutschland.

Felsen anmalen, Windfänge, künstliche Beschneiung

Zahlreiche Alpengemeinden machen sich daran, den Schwund zu bremsen. Versucht wurde schon viel: Felsen anmalen, Windfänge, künstliche Beschneiung und immer wieder Abdeckungen. Zu den Vorreitern zählte die Bayerische Zugspitzbahn. Sie begann bereits 1993 damit, im Frühjahr auf Teilen des Schneeferners auf dem Zugspitzplatt Planen auszubringen und so die Schmelze zu verlangsamen. Bis zu 6000 Quadratmeter waren es in den Anfangsjahren, dann wurde immer weniger Fläche abgedeckt, in der Saison 2012/2013 waren es noch 500 bis 600 Quadratmeter. Dann stellte die Zugspitzbahn die Aktion ein. „Es hat nicht den erwarteten Effekt gebracht“, begründete das Unternehmen diesen Schritt.

Andere Skidestinationen setzen nach wie vor auf die Abdeckung. Andermatt schützt so beispielsweise eine Eisrampe, die es erst ermöglicht, von der Bergstation am Gemsstock abzufahren. Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat die Maßnahmen in der Schweiz analysiert. Demnach sind gerade mal 0,02 Prozent der Gletscherfläche im Sommer abgedeckt. Tatsächlich schmilzt unter den Planen rund 60 Prozent weniger Eis. Das entspricht rund 350.000 Kubikmetern pro Jahr – hochgerechnet auf 24 Jahre sind das aber gerade einmal rund 0,001 Promille der 6,1 Billionen Tonnen, die Gebirgsgletscher weltweit in den ebenfalls 24 Jahren 1994 bis 2017 verloren haben.

Der Vorabgletscher bei Laax reichte noch vor einigen Jahrzehnten bis zum Bergrestaurant Vorab. Bis 2056 wird wohl auch der letzte Rest verschwunden sein. Foto: LAAX/Claudio Casutt

Für den einzelnen Ort kann die Abdeckung vorerst durchaus sinnvoll sein. „Grundsätzlich stellt diese Maßnahme eine effiziente Methode dar, um lokal die Funktionsfähigkeit von Skipisten oder anderen touristischen Attraktionen für eine gewisse Zeit zu sichern“, fasst Matthias Huss, Glaziologe an der WSL, zusammen. Doch der Preis dafür ist hoch. Im vergangenen Jahrzehnt hat der Erhalt eines Kubikmeters Eis pro Jahr zwischen 0,60 und 7,90 Schweizer Franken gekostet, haben die Forschenden ermittelt. „Eine Anwendung im größeren Maßstab, also die vollständige Rettung von ganzen Alpengletschern, dürfte daher weder realisierbar noch bezahlbar sein“, stellt Huss klar. Alle Schweizer Gletscher abzudecken, würde jährlich mehr als eine Milliarde Franken kosten und ihren Rückgang nur verlangsamen, nicht längerfristig stoppen. Hinzu kämen die Folgen für die Natur. Die Plastikfasern der Abdeckungen schaden der Umwelt, warnt Huss: „Durch Verwitterung dürfte man weiter unten im Tal Mikroplastik finden.“

Gletscherschwund verzögern

An manchen Orten sind Planen oder andere Maßnahmen schlicht verboten. So liegen beispielsweise in Österreich am Dachstein Gletscherflächen im Naturschutzgebiet. Beschneiung ist dort laut Georg Bliem, dem Planai-Geschäftsführer, grundsätzlich nicht gestattet. Schneekanonen und -lanzen auf Gletscher auszurichten, um sie zu erhalten, propagieren dagegen manche Stimmen aus der Wissenschaft schon lange. Mit viel Medienrummel startete Anfang 2021 eine Initiative auf dem Morteratschgletscher bei Pontresina in Graubünden. Hier sprühen spezielle Beschneiungsseile mit Schläuchen und Düsen, die ähnlich wie die Tragseile einer Bergbahn über ein Gebiet gespannt werden, Kunstschnee aufs Eis. Die Projektverantwortlichen sind sich sicher, den Gletscherschwund so um bis zu 50 Jahre zu verzögern. Auf 30 Monate ist das Projekt angelegt und kostet 2,5 Millionen Franken. Für Christoph Mayer, Glaziologe an der BAdW, eine wahnsinnige Investition mit einem fragwürdigen Zweck: „Es geht ja in erster Linie darum, dass es die Touristen nicht so weit zur Besichtigung des Gletschers haben.“

Huss von der WSL sieht die benötigte Infrastruktur für Beschneiungsanlagen kritisch. „Meines Erachtens ist es ein Paradox, die Berge mit Stauseen und Seilbahnen zu verschandeln, um dann die Gletscher zu retten“, sagt der Wissenschaftler. Und es sei auch immer die Frage, ob man hundert bis zweihundert Millionen Euro investieren wolle, um das Abschmelzen der Gletscher zu verlangsamen.

Gletscherschmelze

Einige wirtschaftliche Folgen

Landwirtschaft: Selbst außerhalb der Alpen ist die Landwirtschaft auf das Wasser aus den Bergen angewiesen, beispielsweise in der Poebene. Bereits im Dürresommer 2017 wiesen die italienischen Behörden Kraftwerksbetreiber an, Speicherseen zu einem bestimmten Grad zu entleeren, damit flussabwärts genügend Wasser entnommen werden konnte, ohne den Flüssen einen ökologischen Infarkt zu versetzen. 2022 bat Italien das Nachbarland Schweiz, Wasser aus ihren Stauseen abzulassen, mit Hinweis auf ihre Stromproduktion im Winter lehnte die Schweiz das im ersten Anlauf ab.

Energieversorgung: Auch wenn viel Wasser zunächst viel Strom bedeutet, weil Wasserkraftwerke das zusätzliche Schmelzwasser nutzen können: Ist das Eis der Gletscher komplett verschwunden, kann nur noch Regenwasser die Stauseen befüllen. Langfristig wird die Stromproduktion deutlich zurückgehen.

Kühlung: Industriekonzerne und Versorger entlang der großen Abläufe der Alpenflüsse kühlen ihre Anlagen mit Wasser. Ist der Pegel zu niedrig, müssen sie schlimmstenfalls die Produktion stoppen.

Wasserwege: Die Gletscher und Seen der Alpen speisen Flüsse, die für den europäischen Gütertransport auf dem Wasserweg unerlässlich sind. Bei zu niedrigem Wasserstand könnte es notwendig werden, Stauseen abzulassen, um den Warenverkehr aufrechtzuerhalten.

Trinkwasser: Um die Bevölkerung vor Ort mit ausreichend Trinkwasser zu versorgen, müssen die Alpenstaaten Wasserspeicher errichten. Denn fließen die Niederschläge im Winter ungehindert ab, fehlt das Wasser in den Bergregionen.

Bergsteigen: Durch den Gletscherrückgang ist die Versorgung mancher Berghütten mit Trinkwasser gefährdet. Gletscher sind außerdem immer öfter bereits deutlich früher im Jahr aper und der Permafrost, der die Bergflanken zusammenhält, geht zurück. Weniger stabile Schneebrücken über Spalten und vermehrter Steinschlag oder Glerscherabbrüche wie an der Marmolata sind die Folge, wodurch viele Bergtouren hochriskant und nicht mehr begehbar sind.

Vergleichsweise einfach ist die Idee von Hans-Joachim Fuchs, Professor für Geografie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Er hat 2008 im Rahmen einer Lehrveranstaltung einen Test-Windfang auf dem Rhonegletscher installiert und die kalten Fallwinde auf dem Eis gebremst. „Im Kleinen hat das funktioniert“, fasst er zusammen. Die Temperatur ging um 1,5 bis drei Grad zurück, nach zehn Tagen war das Eis unterhalb des Windfangs einen Meter dicker als an der Vergleichsfläche daneben.

„Das Projekt ist Symptombekämpfung, kein Klimaschutzprojekt.“
- Hans-Joachim Fuchs

Was im Grunde genommen für alle Ansätze gilt, denn keiner reduziert den Ausstoß von Gasen, die zur Erderwärmung beitragen. Im Gegenteil, oft geht es darum, Gäste in die Region zu locken – und die kommen nicht klimaneutral.

Dennoch hat Fuchs im Anschluss Anfragen bekommen, nicht nur aus Skigebieten, sondern auch vom indischen Umweltministerium, das den Quellgletscher des Ganges retten will. Während es in den Alpen kurzfristig um den Erhalt der Skigebiete geht, geht es am Himalaya darum, die Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen. Die Menschen rund um das Gebirge hängen stark vom Schmelzwasser der Gletscher ab. Eis-Stupas helfen, dieses zu speichern. Dabei wird es durch senkrecht stehende Rohre in die Höhe geleitet, verteilt sich ähnlich wie bei einem Springbrunnen, gefriert, und es entstehen haushohe Stupas aus Eis, die in der warmen, trockenen Jahreszeit schmelzen und das dringend benötigte Wasser für Landwirtschaft und Bevölkerung liefern. Auch in Pontresina hat man bereits mit dieser Technik experimentiert, allerdings mehr, um auf die Lage in Asien aufmerksam zu machen, als zur Wasserversorgung des Ortes.

Eis-Stupas in Ladakh helfen landwirtschaftliche Flächen zu bewässern. Foto: icestupa.org

Aber das könnte sich schon bald ändern. Die Trinkwasserversorgung wird auch in Europa ein Problem werden. Gletscher sind wichtig für den Wasserhaushalt. Sind sie fort, muss die Bevölkerung auf andere Art versuchen, das kostbare Nass in den Bergen zu halten. Denn sonst fließt es viel zu schnell ab. „Man wird wohl einige Gletscher durch Stauseen ersetzen“, prognostiziert Huss.

Die letzte Abfahrt verschiebt sich

Allerdings ist das Abwägungssache. Denn gegen den nachvollziehbaren Wunsch, die Niederschläge des Winters zurückzuhalten, steht der Naturschutz. Christoph Mayer von der BAdW hält das Vorhaben daher nicht für praktikabel: „Die Mengen sind immens, wir bräuchten zahlreiche Stauseen.“ Andererseits betrachtet er auch die Versuche, die Schmelze aufzuhalten, nüchtern: „Ich habe noch keinen sinnvollen Rettungsansatz gesehen.“ Erfolg versprächen die Projekte nicht.

In Laax hatten Ende Juli genau 606 Menschen den Last-Day-Pass für je 80 Schweizer Franken erworben. Damit haben sie die letzte Abfahrt auf dem Gletscher um vier Tage und fünf Stunden verschoben. Ein Tropfen auf das heiße Eis. Klar ist das auch Reto Fry, dem Leiter Greenstyle bei der für Vermarktung von Laax zuständigen Weiss Arena Gruppe. „Wenn man die Gletscher tatsächlich retten möchte, braucht es viel mehr“, sagt Fry. Es gehe vor allem auch darum, das Bewusstsein von Einheimischen und Gästen für das Thema zu schärfen. Und dazu sei der Vorabgletscher durchaus geeignet. Im Gegensatz zum Senes-Gletscher gleich nebendran: „Der ist in fünf Jahren weg.“