Die Kleine Zinne steht etwas im Schatten der beiden großen Schwestern, die sich in Richtung Westen aneinanderreihen. Sie wurde als letzte der drei erstbestiegen und wird auch heute noch wesentlich seltener begangen. Zu Unrecht, denn die anhaltend anspruchsvolle Kletterei im soliden und griffigen Dolomitgestein ist ein Hochgenuss und die Ausblicke auf die gewaltige Ostwand der Großen Zinne und die umliegenden Gipfel der Sextener Dolomiten sind grandios – ein echter Klassiker eben.
Hinzu kommt die bestens mit Bohrhaken eingerichtete Abseilpiste, die nach dem Gipfelglück einen angenehmen und zügigen Abstieg ermöglicht. Wenngleich die beiden größeren Schwestern wegen ihrer Berühmtheit und wegen der einfachen Zugänglichkeit (die Zustiege von der Auronzohütte zu den Ausgangspunkten der Normalwege betragen in der Regel gerade einmal 45 Minuten) hin und wieder unter „Überbesteigung“ leiden, so findet sich mit der Kleinen Zinne ein eher ruhiger und weniger stark frequentierter Weg hinauf zu einem der drei Gipfel. Von den Drei Zinnen ist der Normalweg der Kleinen Zinne der anspruchsvollste, insgesamt 13 teils sehr ausgesetzte Seillängen mit Stellen im oberen vierten Grad führen durch die steile Südwand dieses bizarren Felsriegels. Trotz einiger Schlaghaken, Sanduhren und soliden Bohrhaken im oberen Teil ist alpine Erfahrung erforderlich, um diese tolle Bergfahrt sicher und in vollen Zügen genießen zu können.
Kleine Zinne Normalweg – Stück für Stück
1. Zustieg von der Auronzohütte
1 Std., 250 Hm
Von der Auronzohütte (2320 m) geht man auf dem breiten Wanderweg nach Osten in Richtung Cappella degli Alpini. Wenige Meter vor der Kapelle zweigt ein Pfad nach links ab, dessen Serpentinen den steilen Südhang der Großen und Kleinen Zinne emporleiten. Auf etwa 2500 Metern verlässt man den Pfad und folgt etwas weniger deutlich ausgeprägten Trittspuren in die Rinne zwischen Großer und Kleiner Zinne. Der Einstieg in die Kletterei des Normalweges der Kleinen Zinne ist mit einem Pfeil und dem Schriftzug „NORMA“ im Fels gekennzeichnet.
2. Klettertour über Normalweg
4 Std., 290 Hm
Die Tour unterteilt sich in drei logische Abschnitte: Im ersten Teil (max. Schwierigkeitsgrad III) führen vier Seillängen über den etwas flacheren Wandvorbau aus der Rinne zwischen Kleiner und Großer Zinne heraus. Zuerst traversiert man über gestuftes Gelände nach rechts, um dann über eine geneigte Rampe nach links hinauf zu einem Schuttband zu gelangen. Der zweite Abschnitt (Seillänge 5-10, max. Schwierigkeitsgrad IV-) schlängelt sich elegant über diverse natürliche Schwachstellen im Fels wie Schuppen, Bänder und Rampen durch den wesentlich steileren mittleren Teil der Wand bis hinauf zu einem großen, flachen Sattel. Sanduhren und Schlaghaken weisen den Weg. Die Standplätze ab der achten Seillänge aufwärts nutzen die soliden Bohrhaken mit Edelstahlringen, welche auch die Abseilpiste bilden. Der dritte Abschnitt führt nun über drei sehr ausgesetzte Seillängen vom Sattel bis zum Gipfel. Die Schlüsselstelle der Tour (IV/IV+) stellt ein senkrechter Kamin in der letzten (13.) Seillänge dar, der so genannte Zsigmondy- Kamin.
3. Abstieg
¾ Std.
Entlang der Aufstiegsroute geht es vom Standhaken der letzten Seillänge wieder hinab in den Sattel. Dort folgt man der bestens mit Edelstahlringen ausgestatteten Abseilpiste, die in idealer Linie steil hinabführt. Die Aufstiegsroute verlässt man auf Höhe des Standplatzes der achten Seillänge und zuletzt seilt man nahezu senkrecht hinunter in die Rinne zwischen Großer und Kleiner Zinne. Achtung: Die Rinne schnellstmöglich verlassen, es droht Gefahr durch Steinschlag von Seilschaften, die noch in der Wand sind.
Die Menschen zum Berg
Michael und Johann Jakob Innerkofler
Die Brüder Michael (1844 - 1888) und Johann Jakob Innerkofler (1833 - 1895) aus Sexten gelten als die bedeutendsten Erschließer der Dolomiten. Auf ihr Konto gehen Erstbegehungen nahmhafter Berge wie Elferkofel, Zwölferkofel, Kleine und Westliche Zinne sowie einige Anstiege auf den Monte Cri stallo. Michael starb durch einen Spaltensturz am Monte Cristallo, den er mehr als 300 Mal bestiegen hatte. Johann, der wegen seiner Begeisterung für die Jagd und seines gewandten Kletterstils den Spitznamen „Gamsmandl“ trug, galt als „trinkfrohes und humorvolles“ Original. Angeblich wurde er von seinem Bruder vor gemeinsamen Unternehmungen hin und wieder zur Ausnüchterung eingesperrt.