Schon bei der Fahrt durch das Höllental entlang der wild rauschenden Schwarza fallen dem geschulten Kletterauge zahllose Möglichkeiten ins Auge, von Sportklettereien bis hin zu größeren Unternehmungen. Auch Klettergeschichte wurde auf der Rax schon früh geschrieben: Fritz Benesch hat bereits 1894 in seinem Raxführer mit einer „vergleichsweisen Rangeinteilung der Steige nach ihrer Schwierigkeit“ eine erste alpine Schwierigkeitsbewertung entworfen. Diese Benesch-Skala hatte sieben Schwierigkeitsstufen. Mit der Stufe VII bewertete Benesch die leichtesten Routen, mit der Stufe I die damals schwierigsten. Der Klassiker des Reifwegs checkt bei IV- ein. Allerdings in der heute gebräuchlichen UIAA-Skala.
Vor rund hundert Jahren war die Rax auch beliebtes Betätigungsfeld der vorwiegend jüdischen Sektion Donauland aus Wien. Im Dezember 1924 schloss der Deutsche und Oesterreichische Alpenverein (DuOeAV) diese Sektion, die siebtgrößte des Vereins, aus antisemitischen Gründen aus. Sie war erst 1921 gegründet worden, nachdem immer mehr Sektionen einen „Arier-Paragraphen“ eingeführt hatten. Donauland bildete fortan Zufluchtsstätte und Heimat von Bergbegeisterten, die wegen ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer liberalen Einstellung andere Alpenvereinssektionen verlassen hatten bzw. mussten. Mit dem Donauland-Ausschluss positionierte sich der Alpenverein klar antisemitisch und völkisch, Donauland machte als selbstständiger „Alpenverein Donauland“ weiter.
Eines der aktiven Mitglieder war Rudolf Reif, einer ihrer Bergführer und Tourenwarte. Zahlreiche Erstbegehungen gehen auf das Konto des exzellenten Kletterers. Bekannt war er auch für sein humoristisches Talent, von Karikaturen seiner Bergfahrten bis hin zu kabarettistischen Auftritten an Hüttenabenden. Einige seiner Touren sind bis heute überaus beliebt. Und so fragt uns gleich beim Zustieg durch den Wachthüttelgraben eine Seilschaft, die bereits absteigt: „Wollt ihr zum Reifweg?“ – ganz offensichtlich also einer der beliebten Klassiker auf der Rax, und noch dazu mit reichlich historischem Hintergrund.
Der Zustieg
45 Minuten, anstrengend durch Schotter
Direkt an der Bundesstraße, an einer Galerie, startet der Wanderweg in Richtung Wachthüttelkamm, Schönbrunnerstiege, Gaisloch (Wegweiser). Aber schon nach wenigen Metern im Wald wird dieser verlassen und es geht gerade hinauf, hinein in den steilen Wachthüttelgraben. Dank des feinen Schotters verdient sich der Zustieg definitiv das Prädikat „besonders mühsam“. Nach etwa einer halben Stunde ist ein markanter Klemmblock erreicht, der die gesamte Schlucht blockiert. Spätestens hier den Helm aufsetzen, eventuell absteigende Seilschaften lösen oberhalb leicht Steinschlag aus. Ein paar engagierte Kletterzüge später (im Zweifel hier schon sichern) steht man oberhalb des Klemmblocks. Kurz danach zweigt rechts eine Seitenschlucht ab, unterhalb eines weiteren, kleinen Klemmblocks beginnt die Kletterei des Reifwegs.
Die Kletterei
8 SL, 220 Klettermeter, IV- (obl.), oft leichter
Der Reifweg ist eine klassische Kletterei, wie sie im Buche steht: Geschickt windet sie sich durch die Wand, stets den leichtesten Weg suchend. Ein Gutteil der Stände wird an den großen Bäume gemacht, welche die Wand bewachsen. Alle anderen Stände sind mit soliden Klebehaken bestens ausgestattet, auch als Zwischensicherungen finden sich seit der Sanierung hier und da ein paar, ergänzt durch einige historische Schlaghaken. Eine besondere Skurrilität ist der geschlagene „Haken“ (eher ein großer Metallbügel) in der fünften Seillänge, nicht etwa im soliden Fels, sondern im Stamm einer Kiefer. Rechnet man die letzten Meter im Gehgelände mit, wartet die Tour mit acht Seillängen auf, die offizielle Schlüsselstelle in der sechsten Länge, die „Reifplatte“, fällt heute – ausgestattet mit guten Kletterschuhen – relativ leicht, ein „Aufsteher“ auf dem rechten Fuß (bestens abgesichert) und schon sind wieder gute Griffe erreicht. Typischerweise sind es eher die „klassischen“ Risspassagen, die einem zu schaffen machen: Mit elegantem Stil ist man hier oft fehl am Platz, hier und da ist rustikales Zupacken und Reinsteigen gefragt – vermutlich war das auch schon zu Zeiten der Erstbegeher 1936 so. Die Felsqualität der Tour ist durchwegs gut. Zitat Reif aus seinem Tourenbericht: „Das Gestein ist außerordentlich fest“, deutliche Begehungsspuren gibt es, aber die Tour ist weit weniger poliert als man das bei der Beliebtheit der Kletterei erwarten könnte. Ebenfalls typisch für einen solchen Klassiker: Ein wenig Wegfindungsgespür ist durchaus gefragt. Nach der Reifplatte folgt noch eine Genusslänge durch wunderbar gestuftes Gelände mit herrlichem Ausblick. Letztes Highlight ist dann ein luftiger Spreizschritt über den finsteren Wachthüttelkamin, bevor man sich auf einem schmalen Pfad an den Abstieg macht.
Der Abstieg
Ca. 50 Minuten, Wanderweg mit versicherten Passagen/Leitern
Man folgt dem Gratverlauf noch etwa 150 Meter, bis einen Pfadspuren zum Wachthüttelkamm bringen, ein kleinerer Gegenanstieg inklusive. Schließlich erreicht man den Wanderweg, den wir schon von den ersten Metern des Zustiegs kennen. Etwas Kondition ist noch gefragt, denn es erwarten einen immer wieder steile Passagen, teilweise versichert mit Leitern und Drahtseilen.
Der Mensch zum Berg
Rudolf Reif (geb. 1891 in Mürau/Mírov, gest. 1958 in Wien), von Beruf Kontorist, schließt sich früh dem Alpenverein Donauland an, für den er als Tourenwart und Bergführer tätig ist. Als exzellenter Kletterer unternimmt er, auch mit seiner Frau Hedwig, zahlreiche Touren, darunter die Erstbegehung der Haindlkarturm-Nordwand. Viele weitere Erstbegehungen folgen, vor allem auf der Rax und im Gesäuse – am liebsten im brüchigen Gelände. Ein guter Teil seiner Erstbegehungen gelingt ihm nach seiner Rückkehr nach Österreich 1949. Denn 1938 muss er vor den Nazis nach Shanghai fliehen. Unter den wenigen Habseligkeiten, die er mitnimmt, sind seine Tourenbücher.