Eigentümlich ist die Lichtstimmung an diesem frühen Nachmittag, als wir unsere Schneeschuhe anschnallen. Von der Gemeinde Sonntag geht es ab der Fraktion Buchboden am Ende des steilen Kerbtals hinunter zum Oberlauf der Lutz. Der Hauptfluss des Großen Walsertales entspringt oberhalb von Buchboden auf über zweitausend Metern, mündet in den Rhein und liegt bis Raggal in der streng geschützten Kernzone des Biosphärenparks Großes Walsertal. Dunkel, fast schwarz fließt das Wasser neben uns ruhig dahin. Die Sonne lässt sich an diesem Tag Zeit, Hochnebel umwabert die oberen Bereiche der bewaldeten Steilhänge. Über Nacht hat es kräftig geschneit und wir tauchen ein in die gedämpfte Stille einer geheimnisvollen Winterlandschaft.
Dabei waren bei der Ankunft in Bludenz am Vortag die Temperaturen frühlingshaft und der gelbe Landbus, mit dem sich das ganze Tal äußerst komfortabel erreichen lässt, fuhr hinein in ein praktisch schneefreies Tal. Sehr schön, doch wenig winterlich, dabei sollte das Hauptaugenmerk der Recherchereise doch auf Aktivitäten im Schnee liegen! Nur gut, dass das Große Walsertal so viel mehr zu bieten hat – landschaftlich wie kulturell. Und dass am Ende dann doch eine höhere Kraft punktgenau die perfekten Rahmenbedingungen geschaffen hat. Ob das am Ende an der Übernachtung in der Benediktinerpropstei in St. Gerold lag, die ihre Gäste zum Innehalten und Aufatmen einlädt?
Modellregion für nachhaltiges Leben und Wirtschaften
Der frische, lockere Schnee knirscht unter den Schuhen, zwischen längeren Abschnitten des Schweigens und Genießens erklärt der Wanderführer Franz Ferdinand Türtscher, was es mit dem Biosphärenpark und dessen Kernzone Lutz auf sich hat. Biosphärenparks sind Modellregionen für nachhaltiges Leben und Wirtschaften und werden von der UNESCO ausgezeichnet. Weltweit gibt es über siebenhundert Modellregionen in 134 Ländern. Das internationale Konzept soll außergewöhnliche Natur- und Kulturlandschaften schützen, wobei die Menschen eine besondere Rolle spielen: Sie werden aktiv am Schutz und an der Erhaltung ihres Lebensraumes beteiligt.
17 Prozent des Biosphärenparks Großes Walsertal machen die Kernzone aus, in der sich Ökosysteme möglichst ohne Eingriffe entwickeln sollen. Neben der Lutz gibt es weitere Kernzonen wie den Moorkomplex Tiefenwald oder die Rote Wand, den höchsten Berg des Tales, die allesamt bereits vor der Gründung des Biosphärenparks Naturschutzgebiet waren. Knapp siebzig Prozent der Fläche sind Bergwälder, Alpen und Bergwiesen, die restlichen gut 13 Prozent sind Lebens-, Wirtschafts- und Erholungsraum für die Menschen. Das klingt nach wenig, allerdings ist das Große Walsertal mit seinen 25 Kilometern Länge auch eines der am dünnsten besiedelten Täler Vorarlbergs. Nur rund dreieinhalbtausend Menschen verteilen sich auf sechs Gemeinden: Thüringerberg, St. Gerold, Blons, Sonntag und Fontanella-Faschina liegen nördlich der Lutz an den sonnigen Hängen, nur die Gemeinde Raggal-Marul liegt auf der gegenüberliegenden Talseite.
Die Walserkultur ist überall sichtbar, die traditionell geschindelten Bauernhäuser wechseln sich mit neuen, schlichten Holzgebäuden ab, die Baukultur im Biosphärenpark ist preisgekrönt. Und die Tatsache, dass selbst das Bushäuschen stilgerecht aus dem heimischen Rohstoff besteht, tut dem Auge und der Seele gut. Im 14. Jahrhundert aus dem Wallis eingewandert, siedelte sich die Bevölkerung auf Geheiß des Grafen von Montfort im steilen und unwegsamen Gelände des Großen Walsertals an. Das schwäbische Adelsgeschlecht Montfort gehörte zum Hochadel des damaligen Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) und hatte einen entscheidenden Einfluss auf die territoriale Entwicklung der Region. Das Walservolk kontrollierte die Pässe und übernahm die Verteidigung der Grafschaft im Kriegsfall, im Gegenzug waren sie ein freies Volk und hatten sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit.
Landbus und Mitfahrbänkle
Freiheitsliebend und etwas eigen sein, vor allem aber etwas Eigenes auf die Beine stellen und zusammenhalten: Das scheint das Erfolgsrezept dafür zu sein, dass ein entlegenes Tal mit sechs kleinen und weit verstreuten Gemeinden eine erstaunlich gute und moderne Infrastruktur hat. Das fängt mit dem „Landbus Großes Walsertal“ an, der sich selbst bei winterlichen Straßenverhältnissen zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk fast stündlich zwischen Thüringerberg am Taleingang und Fontanella-Faschina am Übergang zum Bregenzerwald den Weg talauf- wie talabwärts bahnt. Und wer doch einmal abseits des Fahrplans von einem Ort zum anderen muss, der kann mit einem Handgriff die Bushaltestelle zum „Mitfahrbänkle“ umfunktionieren: Einfach die gelbe Fahne hissen und darauf warten, dass ein Auto anhält. Was nicht allzu lange dauern dürfte, denn mit den Menschen im Großen Walsertal kommt man schnell ins Gespräch. Vor allem, wenn man eben gerade nicht separiert im eigenen Auto, sondern mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist.
Was ebenfalls recht schnell ins Auge sticht, wenn man an der einen oder anderen Haltestelle steht oder sich auf den Weg dorthin macht: Jede (!) Gemeinde hat eine eigene Dorfschule, ein Gemeindeamt, einen Lebensmittelladen und sogar eine Bibliothek! Es gibt 180 landwirtschaftliche Betriebe, fast die Hälfte in Biolandwirtschaft, und im biosphärenpark.haus, dem Besuchszentrum in Sonntag, stellt die gläserne „Winter-Sennerei“ von Mitte September bis Ende Mai regionalen Heumilchkäse her – mit dem passenden Namen „Walserstolz“. Das Tal ist außerdem bereits seit 2009 Klima- und Energiemodellregion mit dem erklärten Ziel, bis 2030 eine hundertprozentige Selbstversorgung mit regionaler erneuerbarer Energie beim Strom wie auch bei der Wärmeversorgung zu erreichen.
Bergsteigerdörfer
Ursprünglichkeit, Tradition und Kultur: Das Große Walsertal ist eines von vierzig Bergsteigerdörfern im Ostalpenraum, einer Initiative der Alpenvereine. Vom Großen Walsertal aus können im Sommer u.a. die Biberacher Hütte, die Göppinger und die Freiburger Hütte erreicht werden – alle drei Hütten haben auch einen Winterraum für Touren auf Selbstversorgungsbasis im Gebiet.
Mehr: bergsteigerdoerfer.org
Leben und arbeiten im Einklang mit der Natur, das gilt auch für Julian Martin, den Berufsjäger im Jagdgebiet „Wald und Wild“ im Großen Walsertal, den ich tags darauf bei der Rotwildfütterung in seinem weitläufigen Revier in der Umgebung der Ortschaften Raggal und Marul begleiten darf. Der Jagdbetrieb umfasst neun Reviere mit einer Gesamtfläche von rund siebentausend Hektar und ist für das nachhaltige Wald- und Wildmanagement in Teilen des Biosphärenparks Großes Walsertal zuständig. In einer Kulturlandschaft müssen die Bedürfnisse von Wild, Wald und Mensch unter einen Hut gebracht werden. Die Zufütterung im Winter ist ein Bestandteil davon. Weshalb? Ohne menschlichen Einfluss würde das Rotwild im Winter die talnahen sonnigen Hänge nutzen. Doch die sind besiedelt und die Bereiche darüber als Schutzwälder ausgewiesen, wo ein Verbiss unerwünscht ist. Etwa neunzig Prozent der Waldfläche im Großen Walsertal haben wegen der steilen Berghänge eine wichtige Schutzfunktion gegen Elementargefahren wie Lawinen und Hangrutsche. 1954 ereignete sich im Tal ein verheerendes Lawinenunglück mit siebzig Toten, seitdem gibt es zahlreiche, weithin sichtbare Lawinenverbauungen und Schutzwaldaufforstungen. Und damit die Tiere dort fernbleiben, erhalten sie an mehreren Futterständen in der Kernzone Faludriga-Nova, die gleichzeitig Großwildschutzgebiet ist, Heu.
Zwischendurch lohnt sich auch der Weg nach etwas weiter oben: Wer von Sonntag mit der kleinen Gondelbahn nach Sonntag-Stein fährt, kann von dort auf einem abwechslungsreichen Winterwanderweg bis zur Alpe Unterpartnon wandern und dort gemütlich einkehren. Oder ab Fontanella, dem höchstgelegenen Dorf des Tales, einen Spaziergang zum winterlichen Seewaldsee unternehmen. Oder …