Je heftiger der Schnee fällt, desto mehr steigert sich in mir die kindliche Vorfreude auf die nächsten Tage. Mitte Februar, in 1800 Metern Höhe. Das Val Bever kerbt sich wie mit einem groben Brotmesser bearbeitet in die Albula-Alpen ein. Alles weiß. Alles still. Fünf Meter voraus setzt Monika Farbtupfer in das Wintergemälde. Wir ziehen bergan, getrieben von der Sehnsucht nach Natur. Der Schnee deckt die Langlaufloipe allmählich zu, als gelte es, alle Spuren zu verwischen. Lärchenbäume stehen schwer bepackt wie hingetupft in der Landschaft. Hier springt der Beverin-Bach freudig in seinem Bett, dort quietscht einer der feuerroten Züge der Rhätischen Bahn die kurvige Trasse entlang. Beine wie Arme arbeiten wie von allein. Das Hochgefühl wird die ganze Woche anhalten und uns unentwegt auf Tour begleiten.
Gestern sind wir mit der Schweizerischen Bundesbahn ins Engadin gezuckelt und sogleich auf die Ski gestiegen. Beides lässt sich hier wunderbar kombinieren. Es beruhigt, dass man an vielen Stellen immer wieder bequem in Bus oder Bahn steigen kann. Wer genüsslich unterwegs sein möchte, geht die Strecke des Engadin Marathons in umgekehrter Richtung an – bergauf, statt bergab. Geschwindigkeit reduzieren, statt zu ballern. So lässt sich die Natur intensiv erleben. Die Hauptstrecke ergänzen vier Streifzüge in die Seitentäler. Im Finale gleiten wir über die Engadiner Seenplatte und wechseln anschließend ins benachbarte Livigno. An allen Engadiner Loipen stehen eisblaue Richtungsweiser. Man braucht sich aus den 240 Kilometern gespurter Wege nur die Höhepunkte herauszupicken. Vom Dorf Bever aus ziehen wir am nächsten Morgen den Inn entlang. Er verleiht dem Engadin seinen Namen. Der 517 Kilometer lange Fluss entspringt nordöstlich vom Pass Lunghin und legt hier oben seine Schleifen um urige Bergorte. An unserem Weg liegen Samedan und Celerina. Die Sicht ist gut, die Loipe in einem Topzustand.
Beim Loslaufen um 8:30 Uhr ist es minus zehn Grad kalt. Stehenbleiben ist nicht drin und wir sind froh, dass es leicht hinauf geht und die Körpertemperatur langsam ansteigt. Im Val Bernina schmiegt sich die Loipe an die gleichnamige Eisenbahntrasse. Einem unzertrennlichen Paar gleich ziehen sie mit sanften Schwüngen bergan. Pontresina markiert die Mitte des Engadin Skimarathons. Das Bergdorf dient uns zwei Nächte als Basis, um die umliegenden Täler zu entdecken. Nachmittags steht das Val Morteratsch auf dem Programm. Wir wärmen uns im Bahnhofsrestaurant mit einer Gerstensuppe und Pizzoccheri – Buchweizennudeln – auf. Anschließend geht es über die Gleise des Bernina Express. Die Schuhe in die Ski klicken und ab in die Steigung. Im Nu schlägt der Puls schneller und die Augen scannen die Umgebung. Noch immer versteckt sich der Himmel unter einer grauen Wolkenschicht. Alle Konturen verwaschen. Der Blick konzentriert sich auf die nächsten Meter.
Die Loipe ist gleichzeitig Wanderweg. Zur Orientierung dienen an den Rändern Holzpflöcke in Pink und Türkis. Dazu fallen die 16 Metallstehlen auf, die in schrumpfenden Abständen am Rand der Loipe stehen. Die Stehlen markieren die unterschiedlichen Längen des Morteratschgletschers und tragen Jahreszahlen zwischen 1880 und heute. Mithilfe von QR-Codes lassen sich Audiodateien abspielen. Was man auf dem Lehrpfad auch bemerkt: Je weiter sich der Gletscher zurückzieht, desto mehr Kraft muss der Mensch investieren, um ihm nahezukommen. Das Gletschervorfeld erinnert mit seinen Felsblöcken und niedrigen Büschen an das norwegische Fjell, nur dass die Berge ringsum fast senkrecht in den Himmel wachsen. Wir rücken näher an die bis 4048 Meter hohe Berninagruppe heran. Mit jeder überwundenen Kuppe tritt der Morteratschgletscher eindrucksvoller in Erscheinung. Auf 2035 Metern setzen wir zur Kehrtwende an. Die Sonne spitzt durch die Wolken. Vorbote für den Wetterwechsel.
Auf der dritten Etappe umschmeichelt die Sonne unsere Haut. Wir laufen von Pontresina aus hinauf ins Val Roseg. Die 19 Kilometer lange Tour lässt sich nur im klassischen Langlaufstil absolvieren. Zuerst zieht sich die Loipe durch den Wald und erreicht eine Hochfläche. Sieben Grad plus. Die Eindrücke verschmelzen zu einem Gemälde – und wir mittendrin. Der Rosegbach schlängelt sich durch das Weiß der Berge. Ein blauer Postkartenhimmel, darunter der Roseggletscher. Anderentags geht es zurück auf die Loipen des Engadin Skimarathons. Die „Traumloipe“ führt talwärts an Schienen entlang und zweigt in den Stazerwald ab. Wir schnaufen zwei kurze Anstiege hinauf. Jede Wegbiegung beschert andere Eindrücke. Beiderseits stehen Lärchen, Bergföhren und Arven. Weiter unten liegt der Stazersee. Nach dem dritten Steilstück erreicht die Loipe eine Höhe von 1835 Metern. Dort kippt das Terrain und die Ski sausen hinab ins Inntal. Der Fluss hat an seinem Oberlauf eines der malerischsten Alpentäler geformt. Traditionell beliebtes Urlaubsziel ist die Engadiner Seenplatte, die Sonnenstube der Schweiz. Bei Tageskilometer sechs zieht sich St. Moritz den gegenüberliegenden Hang hinauf. Die Loipe führt durch den Ortsteil St. Moritz-Bad. Dahinter nehmen wir ein paar kleine Kuppen und laufen auf den zugefrorenen Champfèrersee hinaus.
Eingebettet in die Berge auf 1800 Metern Höhe friert die Seenplatte jeden Winter zu. Hintereinander aufgereiht bieten die Seen ein seltenes Vergnügen – flaches Dahingleiten in einer weiten Berglandschaft. Auf der Oberfläche sind mehrere Spuren nebeneinander präpariert. Ideal zum Überholen, genial zum Bummeln. Doch beim Laufen über das gefrorene Wasser kommen Zweifel auf. Wie stark ist das Eis eigentlich unter dem Schneepolster? Die Seeoberfläche fühlt sich fest wie Asphalt an. Nicht die geringste Schwingung zu spüren. Meine Skepsis weicht bald einem Gefühl von Freiheit. Geschwindigkeit aufnehmen, wieder rausnehmen, gleiten, umherschauen. Die Gedanken fliegen voraus zum Silvaplanersee. Am Ufer lädt eine Bank zur Picknickpause ein. Aus dem Rucksack holen wir Käsebrote, Tee und Schokolade. Anschließend laufen wir am Tagesziel, dem Dorf Sils vorbei und auf den gleichnamigen See hinaus. Mit seinen fünf Kilometern Länge und eineinhalb Kilometern Breite ist er der Größte im Kanton Graubünden. Die Loipen hat man so angelegt, dass sich ein Rundkurs anbietet. Das Gleiten „über Wasser“ kostet angenehm wenig Kraft. Am Westufer liegt Maloja. In dem Dorf startet der Engadin Skimarathon.
Jeden zweiten Sonntag im März warten dort Tausende auf den Startschuss und sprinten los. Formiert wie ein riesiges Ameisenheer jagen sie über die zugefrorenen Seen und das Inntal hinab. Sicher werden sie die Landschaftsbilder einsaugen. Die Berge zu beiden Seiten, die Inseln, die Dörfer. Heute geht es auf dem Silsersee überschaubar zu. Manche ziehen flott, andere gemütlich umher. Alle Altersklassen vereint beim Breitensport. Wir drehen zeitlose Runden. So lange, bis die Sonne hinter den Bergen abtaucht. Um 17:15 Uhr verschwindet die Wärme ihrer Strahlen. Das Licht erlischt. Sogleich beißt die Kälte. Sie treibt uns zurück zum Hotel. Die Landschaft des Engadins hat uns Kraft verliehen.
Besonders angetan von diesem malerischen Flecken Erde war der Philosoph Friedrich Nietzsche. In den 1880er Jahren wanderte er Sommer für Sommer von Sils aus in den Bergen umher und schrieb: „Neue Wege entstehen, indem wir sie gehen.“ Der letzte Weg der Reise führt ins Nachbartal nach Livigno. Dort warten weitere dreißig Loipenkilometer und ein besonderes Finale. Das Dorf Livigno erreichen wir mit dem Postbus. Es sonnt sich auf 1816 Metern Höhe in der italienischen Provinz Sondrio. Zu Beginn der napoleonischen Zeit im Jahr 1805 ernannte man das abgeschiedene Hochtal, zwischen Bernina und Ortler gelegen, zur zollfreien Zone. Die Gemeinde ist bis heute gefragt. Im Sommer nutzen viele deren Lage zum Höhentraining auf dem Rennrad, dem Mountainbike oder zu Fuß. Im Winter kann man neben Ski- auch Schlittenfahren und Schneeschuhtouren unternehmen. 2026 trägt Livigno die Freestyle- und Snowboard- Wettbewerbe der Olympischen Spiele aus. Im Tal liegen siebzig Zentimeter Schnee. Der Wetterbericht meldet für die Region kräftigen Nordföhn mit Böen bis zu neunzig Kilometern pro Stunde. Um kurz nach zehn Uhr geht es vom Hotel aus mit den Ski in der Hand zur zweihundert Meter entfernten Loipe. Gegen Mittag bricht die Sonne durch die graue Wolkendecke.
Die Langlaufroute wechselt auf die Straße Via Forcola. Diese ist tief eingeschneit und zieht mit sanften Schwüngen dem gleichnamigen Pass entgegen. Der nächtliche Schneefall hat die Spur verdeckt. Wir mühen uns die von anderen bereits gespurte Linie hinauf. Heute sind nur wenige unterwegs. Mit den Ski durch die Berge zu ziehen hat hier Tradition. Im einst armen Livigno gehörte der Warenschmuggel dazu. „Piccolo Tibet“ nennen die Einheimischen ihre Heimat. Bis ins Jahr 1968 erreichte man das Hochtal nur über Alpenpässe. In jenen Tagen bohrten Arbeiter vom Ofenpass aus den Tunnel „Munt la Schera“. Durch diese einspurige, leicht gruselig enge Röhre kommen heute die meisten Wintergäste. Langsam geht es bergan. Der Schnee hat die Straßenleitpfosten fast komplett begraben.
In der Höhe weicht der Lärchenwald zurück. An Steillagen ragen graue Felsen hervor. Nun spannt sich ein strahlend blauer Himmel über die Livigno-Alpen. Auf den Gipfeln weht der Sturm Schneefahnen davon. Stille. Nur der eigene Atem ist zu hören und wie Ski und Stöcke sich voran tasten. Weiter. Immer weiter – und höher! Die Skispur reicht bis Kilometer zwölf. Hier auf 2100 Metern beginnt der Tiefschnee. Als wir uns einen Schluck aus der Trinkflasche gönnen, nähern sich zwei Wanderer. Es sind Touristen aus Polen und sie fragen, wie weit es bis zur Passhöhe und der Schweizer Grenze ist. Ich öffne eine Outdoor-App und messe nach. „Drei Kilometer. Aber hier muss man umdrehen!“ Voraus zieht die Straße an einem Berghang vorüber und ist mit Schneewechten verschüttet, auch die Galerien sind voll. Wir wenden. Mühelos geht es zu Tal. Was bleibt, ist das Hochgefühl, eine der schönsten Ecken der Alpen auf Langlaufski entdeckt zu haben.