Von: Carsten Schymik
Wir kämpfen uns bereits seit ein paar Stunden den Berg hoch, vor uns rauscht ein beeindruckender Wasserfall ins Tal, der Wind weht uns die Gischt ins Gesicht. Großartig! Doch geschafft haben wir die Etappe heute noch nicht ganz. Es ist mühsam und uns stehen noch ein paar Tage bevor….
Aber von Anfang an: Nachdem ich mit meinen Töchtern im Herbst in Nauders am Reschensee zum Mountainbiken war, hatte Julia kurz vor Weihnachten beschlossen, an Silvester 2019 mit nach Finale Ligure zu fahren. Gesagt getan, die Generalprobe hat geklappt. Befeuert wurde diese Begeisterung für das Mountainbiken zusätzlich durch den Corona Lockdown im Frühjahr 2020. War dies doch über Wochen die einzig sinnvolle Beschäftigung, der man noch uneingeschränkt nachgehen konnte.
Prolog: Von Mals auf die Sesvennahütte
Die letzten Tage hat es heftig geregnet. Die ursprünglich für heute geplante Etappe durch die Uinaschlucht war gestern offiziell wegen Hochwasser und Murenabgang gesperrt. Oben auf den Berggipfeln liegt der erste Schnee dieses Herbstes. Oben am Reschenpass scheint die Sonne, vor uns strahlt der mächtige Ortler mit frischer Schneedecke. Wir parken in Mals und fahren direkt zur Sesvennahütte hoch.
Der Weg nach Schlinig ist steil und anstrengend. Einige der Rampen auf diesem Schotterweg sind an der Grenze des Fahrbaren. Wir lassen es gemütlich angehen, machen Pausen und wenn es zu steil wird, dann wird einfach mal geschoben. Nach einer Rast in dem kleinen Bergdorf geht es weiter ins Tal hinein Richtung Sesvennahütte. Zunächst flach, dann immer steiler. Dann diese Rampe neben dem Wasserfall. Allein der Anblick lässt Böses erahnen. Kurzum, es ist böse, sehr böse und vermutlich auch böser, als es ausschauen mag.
Wir erfreuen uns am Wasserfall, der aufgrund der starken Regenfälle der letzten Tage außergewöhnlich viel Wasser führt. Danach schieben wir den steilen Berg hoch und erreichen im Abendlicht die malerisch gelegene Sesvennahütte. Der erste Tag ist geschafft. Ein Tag, an dem es ausschließlich bergauf ging und wir keinen einzigen Singletrail gefahren sind.
Tag 2: Auf die Fuorcla Sesvenna
Als wir heute Morgen an der Hütte gestartet sind, haben wir uns erst gar nicht auf den Sattel gesetzt, sondern unsere Mountainbikes den schmalen Bergweg hinaufgeschoben – eine Etappe, die gleich mit einer 600 Höhenmeter langen Schiebe- und Tragepassage beginnt. Unten im Tal hat sich Nebel gebildet. Bei uns hier oben scheint zunächst die Sonne, doch schon bald stehen wir drei gemeinsam mit einer Wandergruppe im dichten Nebel. Mit vereinten Kräften machen wir uns an den Anstieg: Meine Partnerin Kerstin liefert die moralische Unterstützung und ich packe mit an, wenn es zu steil wird. Endlich reißt die Wolkendecke auf und wir erreichen den Furkelsee. Nach einer Pause und einem zugegebenermaßen sehr erfrischenden Bad auf über 2750 Metern Höhe erreichen wir die 2815 Meter hoch gelegene Fuorcla Sesvenna. Der Schnee der letzten Tage ist zum Glück wieder verschwunden.
Der erste Teil der Abfahrt ist ziemlich gut zu fahren, doch schon bald erreichen wir eine steile Passage, auf der der Weg in einer tief erodierten Rinne verläuft. Dann kommt es noch schlimmer! Wir müssen ein steiles Geröllfeld hinunter. An Fahren ist hier definitiv nicht mehr zu denken. An einigen Stellen müssen wir sogar klettern und die Räder hinab reichen. Mit aller Ruhe und in aller Sicherheit meistern wir die schwierigen Passagen. Die Wandergruppe schaut uns interessiert von unten zu, bis sie schließlich ihren Weg nach Richtung S-Charl fortsetzt.
Dann folgt diese unsägliche Kuhweide. Irgendwie will es nicht so richtig rollen. Was vorhin viel zu steil war, ist jetzt einfach zu flach. Irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen, meiner Partnerin und meiner Tochter das nach der mühsamen Plackerei auf die Fuorcla Sesvenna auch noch anzutun. Egal, da müssen wir jetzt gemeinsam durch. Und dann wird alles gut. Der letzte Abschnitt der Abfahrt ist einfach traumhaft. Es rollt wieder und wir haben viel Spaß auf dem Singletrail durchs Tal. Landschaftlich ist die ganze Etappe sicher ein Highlight und dass der Trail weiter unten sehr schön zu fahren ist, entschädigt für Mühen und Schiebepassagen. Wir überholen die Wandergruppe wieder und meine Tochter erntet ein dickes Lob und viel Anerkennung.
In S-Charl rasten wir kurz und machen uns bereit für die 400 Höhenmeter hinauf zum Passo Costainas. Den größten Teil des Anstiegs fahren wir auf Schotter hoch. An der Alp Astras geht der Weg dann in einen schmäleren Pfad über. Auch dieser führt leicht bergauf, ist aber durchgehend und gut fahrbar. Am Pass angekommen, ziehen wir noch schnell die Jacken an und schon geht´s geschwind auf einem Forstweg bergab. Das Wetter hält zum Glück und wir erreichen trocken den Ort Lü. Nach ein paar Tiefenmetern auf der Straße zweigt ein schöner Singletrail ab, der uns bis nach Valchava führt. Hier folgen wir dem Weg am Bach entlang und erreichen bald darauf unser Tagesziel.
Tag 3: Über das Stilfser Joch
Mit 14 Jahren aufs Stilfser Joch radeln? Es gibt sicher nicht viele, die in diesem Alter überhaupt auf die Idee kommen, die Königsdisziplin am Ortler auszutesten. Dass es sich bei der heutigen Etappe um kein Kinderspiel handelt, ist klar. Dass es dann doch so hart wird, hätten wir allerdings nicht erwartet.
Das Wetter ist gut und wir starten nach dem Frühstück zu unserer längsten Auffahrt. Der Auto- und Motorradverkehr ist heute ziemlich gering und somit erträglich. Nach 500 Höhenmetern legen wir die erste Pause ein und essen eine Kleinigkeit. Bald darauf überschreiten wir die Baumgrenze und genießen die warmen Sonnenstrahlen. Meine Tochter kämpft sich langsam nach oben. Wir verabreden, dass wir jetzt immer 200 Höhenmeter am Stück fahren und dann wieder warten. So kann jeder von uns zumindest ein wenig seinen Rhythmus finden.
Das letzte Stück ist ätzend. Zum Greifen nahe erscheint die Passhöhe, aber es geht nicht wirklich voran. Dazu der ständige Lärm der Motorräder, die uns echt das Leben schwer machen. Wir wechseln noch auf die alte, inzwischen gesperrte Straße und fahren zwischen den Felsbrocken, die hier auf der Straße liegen, ohne Verkehrslärm weiter. Meine Tochter schlägt sich tapfer und bewältigt den gesamten Anstieg von St. Maria bis auf das 2757 Meter hohe Stilfser Joch aus eigener Kraft. Stolz hebt sie mit letzter Kraft ihr Moutainbike hoch und lässt sich fotografieren. Wow! Wir trinken an der Tibethütte noch einen Kaffee, bevor wir die letzten Meter hinauf zum Rifugio Garibaldi packen. Den steilen Anstieg hier hoch müssen wir schieben.
Nach dem Check-in machen wir uns nochmal auf und erkunden die Stellungen aus dem Ersten Weltkrieg hier oben am Dreiländereck. Während Österreicher und Italiener sich hier jahrelang erbitterte Kämpfe lieferten, hat die Schweizer Armee ihre Grenze gesichert und damit sichergestellt, dass über ihr Territorium hinweg keine Angriffe auf die gegnerische Seite geführt werden. Geschichtsunterricht zum Anfassen!
Tag 4: Auf dem Goldseetrail
Ganz so schwer hatte ich diese Abfahrt nicht in Erinnerung – gut nach 15 Jahren vergisst man so einiges und an manchen Stellen ist der Weg sicher auch anspruchsvoller geworden. Dennoch ist der Goldseetrail eines der Mountainbike-Highlights im gesamten Alpenraum. Wir schieben mal wieder über eines der zahlreichen Geröllfelder, als über uns ein Schatten erscheint. Ein mächtiger Steinadler kreist nur wenige Meter über unseren Köpfen, nutzt die Thermik der Morgensonne, um sich scheinbar ohne Kraftaufwand nach oben treiben zu lassen. Immer wieder sucht er die Hänge vor und neben uns nach Beute ab. Bis um 9 Uhr müssen wir in den Goldseetrail einfahren, danach ist er nur zu Fuß zugänglich. Eine tolle Lösung, um beiden Gruppen ein ungestörtes Bergerlebnis zu ermöglichen und eine gute Alternative, diesen einzigartigen Weg nicht gänzlich sperren zu müssen. Da wir gleich am Einstieg übernachtet haben, sind wir natürlich rechtzeitig dran und können im allerschönsten Morgenlicht im Angesicht des mächtigen Ortlers diese Singletrailabfahrt der Extraklasse in vollen Zügen genießen.
Immer wieder wird der Genuss von anspruchsvollen Passagen und einigen Gegenanstiegen unterbrochen. Zudem sollte man auf dem Goldseetrail sein Mountainbike gut beherrschen, denn auf der rechten Seite geht es eigentlich immer ordentlich bergab. Nach einer steilen, mit Stufen versehenen Passage erreichen wir schließlich die Baumgrenze. Hier folgt ein flowiger Trailabschnitt bis zur Furkelhütte. Jetzt ist erstmal eine Pause angesagt und wir stärken uns mit einer Portion Pasta. Auf einem schönen Singletrail fahren wir Richtung Trafoi, irgendwann stoßen wir auf die Straße, auf der wir dann nach Gomagoi hinab rollen.
Jetzt sind es nochmals 600 Höhenmeter hinauf nach Sulden. Auf der Straße geht es aufwärts bis zur Talstation der Seilbahn zur Schaubachhütte, die letzten Höhenmeter gleiten wir bequem in der Gondel nach oben.
Schlussetappe: Endloser Singletrail nach Goldrain
Das 3123 Meter hohe Madrischjoch ist inzwischen ein echter Klassiker, bei blauem Himmel und Sonnenschein schieben wir die Bikes durchs Skigebiet im Angesicht von Gran Zebru (Königspitze), Zebru und Ortler. Der Weg ist steil, die Landschaft schön. Allerdings macht das Skigebiet im Sommer keinen so schönen Eindruck. Inzwischen stehen hier Schneekanonen auf über 3000 Metern. Klimawandel? Fehlanzeige, the show must go on!
Auf der weiteren Abfahrt wechseln sich immer wieder flowige und leicht zu fahrende Passagen mit technisch anspruchsvollen Streckenabschnitten ab. Ich warte immer wieder auf meine Mädels und mache Fotos. Wir haben alle drei sehr viel Freude auf dieser schönen alpinen Abfahrt und erreichen schließlich nach einem kurzen Gegenanstieg die Zufallhütte. Jetzt ist erst einmal eine Pause angesagt.
Auf einem stellenweise recht feuchten und fahrtechnisch anspruchsvollen Singletrail geht es weiter hinab zum Zufrittsee. Am Seeufer legen wir die Protektoren ab und verstauen diese im Rucksack. Weiter geht es auf einem Schotterweg am Seeufer entlang. Nach dem Gegenanstieg und dem nur teilweise fahrbaren Trail auf Höhe der Staumauer fahren wir ein Stück auf der Straße bis zur Kapelle St. Maria. Hier beginnt ein parallel zur Straße verlaufender Weg, der zum Teil auf Schotter später dann immer öfter auf Trails das gesamte Martelltal hinab verläuft. Vorbei an Erdbeerplantagen erreichen wir unterhalb von Ennewasser einen alten Waalweg. An der Kapelle der Heiligen Barbara wechseln wir schließlich die Talseite, um zur Montani-Burg zu gelangen. Der Singletrail von der oberen zur unteren Burg stellt das Ende unserer kleinen, aber feinen Alpenüberquerung dar.
Wir fahren durch die Apfelplantagen bis nach Goldrain, wo die 2666 Höhenmeter lange Singletrailabfahrt endet. Ich bin unglaublich stolz auf meine zwei Komplizinnen, die gemeinsam mit mir die besonderen Herausforderungen dieser Tour gemeistert haben.
Über den Autor
Carsten Schymik aus Aalen in Baden-Württemberg ist seit 1990 dem Virus Mountainbike verfallen. Über normale Touren und das Befahren von Wanderwegen ist er über die Jahre immer mehr zu alpinen Unternehmungen gekommen. Seit einigen Jahren schreibt Carsten Mountainbike-Führer und gibt gelegentlich Fahrtechnikseminare.
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