Vor knapp zehn Jahren kaufte Michi hier unten eine Ferienwohnung mit grandiosem Blick auf die gewaltige Nordwestwand der Civetta, die das Gebiet dominiert und überragt. Die berühmte Wand hat er seither kein einziges Mal durchstiegen, nein, nicht einmal versucht. Absolvierte stattdessen, wissbegierig wie er nun mal ist, Kurse in Trailtechnik, um die fantastischen Möglichkeiten hier auf die Hörner zu nehmen. Nachdem für mich persönlich Mountainbiken nach dem Klettern immer alpine Disziplin Nummer zwei war und er auf dem Bergrad in den letzten Jahren so fleißig, scharren wir beide mit den Hufen: Wir kennen uns seit über dreißig Jahren, Sport war immer ein entscheidender Teil dieser Freundschaft. Nein, beweisen müssen wir uns nichts mehr, aber: Wir wollen was erleben, wir wollen unsere Freundschaft feiern.
Tag eins, Val di Zoldo auf der Ostseite des Civettastocks: Wir fahren zunächst mit der Seilbahn hinauf, dann zum grasigen Gipfel des Spiz de Zuel. Eine Herde Ziegen begehrt dort energisch unseren Proviant, doch dann ziehen sie ab, wir können das Panorama auf uns wirken lassen. Vor allem der Monte Pelmo beeindruckt: düster, riesig und seltsam fern über den grünen Matten, surreal, fast wie eine Kulisse aus dem Herrn der Ringe. Genug fantasiert, runter mit dem Sattel, rauf auf die Räder und rein in die Abfahrt. Strada vecchia heißt dieser Fünf-Sterne-Trail, zu deutsch also schlicht Alter Weg, es ist die vor Jahrhunderten angelegte Karrenstrecke vom Dorf hinauf zu den Almen. Im Original klingt das natürlich viel besser, hach, Strada vecchia! Könnte ein Film von Fellini sein, eine Nachspeise, eine neue Partei... egal, es ist ein Abfahrtsvergnügen wie beim Tiefschneefahren. der Trail ist perfekt: nicht so steil, dass man ständig in den Bremsen hängt, nicht so flach, dass es fad wird und immer schön kurvig. Zwei, drei knifflige Passagen sind dabei, beide kommen wir sturzfrei durch. FA-BEL-HAFT!
Weiter unten geht es über Bäche und Flüsse, es gibt separate kleine Brücken fürs Bike: wo sonst feuchte Holzbohlen seifenglatt uns Radler schrecken, sorgt eine Lage Hasendraht für sicheren Grip. Und das Geländer links und rechts so tief, dass der Lenker nicht anstoßen kann. Dann rollen wir aus durch wunderhübsche Dörfer, oh, ist das Leben schön! Welch ein erster Tag.
Normales Mountainbiken und Biken mit Unterstützung stehen, das lerne ich heute, zueinander etwa so wie normales Skitourengehen und Variantenfahren: Ohne maschinelle Unterstützung haben wir natürlich das schönere „Fair-means“-Erlebnis und verbrennen mehr Kalorien, mit Unterstützung greifen wir uns das Abfahrtserlebnis direkt und unverblümt. Der eigene sportliche Anspruch muss dabei keinesfalls geringer sein: Viele anspruchsvolle Abfahrtshöhenmeter sind in diesem Fall die Herausforderung.
Vorreiter in Sachen Mountainbiken
Tag zwei, wir treffen Enrico Lisetto, die örtliche „Ein-Mann-Trail-Behörde“, und den 75-jährigen Mountainbikepionier Silvano Rudatis. Sie erklären, wie es um den Fremdenverkehr und Biketourismus im Speziellen bestellt ist: Die Region lebt vom Tourismus, eh klar, auch wenn das deutschsprachige Südtirol die Sahne abschöpft. Im Winter lief es immer gut, aber Sommer und Zwischensaisons laufen eher schwach, viele Seilbahnen, Hotels, Restaurants sind schon jetzt geschlossen und wir haben erst Mitte September. In Sachen Mountainbike war die Region einst Vorreiter, weil Silvano als einer der Ersten weit und breit schon in den achtziger Jahren diese neumodischen Dinger an seine Hotelgäste vermietete. Sein Sport war eigentlich Eishockey, schwere Verletzung, Reha auf dem Rennrad. Radfahren ist auch nicht übel, dachte Silvano und prompt stand ein Mann vor der Tür, den er noch nie gesehen hatte, und bot ihm günstig zehn gebrauchte Mountainbikes an, ob er die nicht an seine Gäste vermieten wolle? Silvano griff zu, stieg vom Rennaufs Bergrad um und bot bald darauf geführte Mountainbiketouren an. Jahrelang war er damit der einzige weit breit.
In benachbarten Regionen gibt es heute ganze Mountainbike-Erlebnispakete, frische Trails unter jeder Seilbahn, günstige Ticketpauschalen inklusive. Kollege Lentrodt war hier schon viel unterwegs, stets waren die Seilbahnen gut gefüllt, berichtet er – und neun von zehn Gästen hatten ein Rad dabei! Wenn ich an den gestrigen Tag denke: logisch, das versteht sich von selbst. So viel Fahrspaß an einem einzigen Tag? Kein Wunder, dass das in den Alpen boomt.
Obwohl hier rund um die Civetta bereits grandiose Trails existieren und das Landschaftserlebnis woanderskaum , besser sein kann als hier, ist die Region Civetta/Val di Zoldo beim MTB-Tourismus abgehängt. Und an genau dieser Stelle kommt Rico ins Spiel. Im Winter Herr über die Pisten der Civettaregion, hat er im Sommer jetzt einen neuen Job: Im Ein-Mann-Betrieb baut dieser Mittfünfziger neue Mountainbiketrails. Rico ist jetzt sechsundfünfzig, und da wir seit Udo Jürgens wissen, dass auch mit sechsundsechzig Jahren noch lange nicht Schluss ist, hat er also noch gut Zeit. Und Silvano, der seine Trails meist als Erster fährt und quasi abnimmt, ist sogar schon fünfundsiebzig, welch ein Team.
DAV und das Thema E-MTB
Mountainbikes mit elektrischer Unterstützung sind aus den Bergen nicht mehr wegzudenken. Was Menschen am E-MTB begeistert, liegt auf der Hand: Das mühsame Bergauffahren wird erleichtert, vor allem steile Rampen verlieren ihren Schrecken. Wer älter ist, kann so noch auf seine Lieblingsalm radeln, der jüngeren Generation gefällt es, durch flottere, kraftsparende Auffahrten mehr Ab- fahrtsmeter an einem Tag sammeln zu können. Der DAV hat sich in seinem Positionspapier zum Mountainbiken auch mit dem Thema E-MTB auseinandergesetzt und eine Position dazu erarbeitet:- Der DAV versucht, der Dynamik der neuen Mobilität gerecht zu werden, sieht die Chancen, aber auch die damit einhergehenden Nachteile. Daher setzt er sich kritisch mit dieser Entwicklung auseinander.
Mountainbiken ist eine Kernsportart des DAV. Das Fahren mit dem E-MTB ist keine Kernsportart.
Der DAV sieht die Entwicklungen rund um das E-MTB kritisch, da es potenziell die Massenphänomene im Gebirge verstärkt, den Vorstoß in sensible Räume begünstigt und Konflikte zwischen Wegenutzern verstärkt.
Der DAV empfiehlt einen Verzicht auf Ladestationen auf DAV-Hütten und verzichtet auf Werbung für E-MTBs.
Der DAV sieht beim E-MTB aber durchaus auch die positiven Anwendungsmöglichkeiten, wie die Alternative zur Autonutzung, als Anreiseoption zum Bergsport, als Motivation zu Bewegung und Sport und als Möglichkeit für Menschen, an Sektionsveranstaltungen teilzunehmen. Grundsätzlich gilt der Appell an alle Bergsporttreibenden, egal ob radelnd oder wandernd, sich mit Respekt, Toleranz und Rücksichtnahme zu begegnen. Das Prinzip der „Shared Trails“, gemeinsamer Wege, auf denen alle miteinander unterwegs sind, ist das erklärte Ziel. Mountainbiker*innen passen dort ihre Fahrweise dem Fußgängerverkehr an und gewähren immer Vorrang. Die komplette Version des DAV-Positionspapiers MTB mit E-MTB ist hier zu finden: alpenverein.de/36827
Gemeinsam schlängeln und kurven wir über lauter Singletrail-Filetstücke. Und Silvano? Waren nicht Michi und ich hier die Silverbirds, die mit Ende fünfzig im subjektiv empfundenen Zwischenhoch dem sportlichen Abendrot entgegenradeln? Fotograf Julian Bückers, um das nicht zu verschweigen, ist erst unverschämte Mitte dreißig, der braucht natürlich weder einen Kurs noch dreißig Jahre Mountainbike-Erfahrung, der fährt das frecherweise alles einfach so. Und nun fährt Silvano mit der Silbermähne so weit voraus, dass Julian immer wieder rufen muss: „Sil-VANO, WAIT!“ Sonst käme Julian hier zu keinem einzigen Bild.
Schließlich erreichen wir die Cima Fertazza, einen Aussichtspunkt, der uns den Atem stocken lässt. Jäh ragt vis-a-vis die Riesenwand der Civetta in den Himmel, über tausend Meter bricht es vor unseren Füßen ab zum Lago di Alleghe, der mild und blau und wissend in der Nachmittagssonne funkelt: ja, ja, ihr habt viel gesehen in den Bergen, aber schöner als jetzt war der Blick selten, richtig? Amen, halleluja, jawohl, das stimmt. Und dann wieder so eine Abfahrt, diesmal sind es neue Strecken, die Rico kürzlich angelegt hat, es ist ein einziger Rausch. Und Silvano wieder voraus, hindurch unter umgestürzten Stämmen, durch steile und enge Kurven. Einerseits muss man sagen: es nimmt einem die Angst vorm Älterwerden. Andererseits sind extra fürs Bergrad angelegte Trails anders als die meisten Wege, die ich aus den Voralpen kenne eben auch immer gerade eben noch befahrbar.
Erst die Fahrt hinab ins halb verlassene Dörfchen Fernazza ist so steil, dass es uns gelegentlich zum Absteigen zwingt: aber es ist halt auch ein alter Fußweg. Michi und ich gehen hier bis an unser Limit, wenn der erste absteigen muss, springt er aus dem Weg, sagt dem zweiten die beste fahrbare Linie an. Und fast am Schönsten – wir können es immer noch genau gleich gut.
Konflikte im Gebirge?
Dass dieses wunderschön gelegene Dorf zum Großteil aus Ruinen besteht, weil hier seit langem kaum noch jemand wohnt, zeigt uns eindrucksvoll: Die Region lebt vom Tourismus oder gar nicht. Später beim Bier erzählen wir von den Konflikten im deutschen Gebirge, Wandern vs. Biken vs. E-Biken, getrennte Streckenführung oder Shared Trails, viele Fragen sind hier ungeklärt. Silvano und Rico zucken mit den Schultern, hm, tja, das Problem kennen sie hier nicht. Fünfe gerade sein lassen, warum ist das eigentlich bei uns immer so schwer?
Andere Frage: Ist das, was wir hier machen, umweltfreundlich genug, dass man es mit guten Gewissen genießen und empfehlen kann? Ich denke ja. Für Mountainbiker*innen werden keine neuen Seilbahnen gebaut, sondern vorhandene genutzt. Die Trails sind mit Bedacht angelegt mit möglichst wenig Eingriff in die Landschaft. Und, ganz wichtig: Wer zum Radeln in die Alpen fährt, fliegt schon mal nicht mit dem Flugzeug in den Urlaub. Im Alltag kann ein E-Bike auch Fahrten mit dem PKW ersetzen, im Idealfall sogar gleich das ganze Auto.
Auf all das stoßen wir an und wollen wieder kommen. Und Ricos neue Strecken abfahren. Meinem alten Freund Michi habe ich dabei zu verstehen gegeben, dass er, wenn ich ihn dort nächstes Mal besuche, mit mir gefälligst schon noch einmal die Civettawand klettern soll. Aber dass, nun ja, die Verhältnisse schon wirklich passen müssen. Dass ich am Ende überhaupt nicht traurig bin, falls wir stattdessen wieder radeln gehen, habe ich ihm nicht gesagt. Das weiß er auch so. Schließlich kennen wir uns seit dreißig Jahren.