Smaragd-Express. Ein vielversprechender Name für das Shuttle-Taxi, welches Lauffaule vom Eingang des Habachtals zum Gasthof Alpenrose chauffiert. Die Mehrheit der Fahrgäste ist ausgerüstet mit Schaufel und Sieb – und steuert den Schuttkegel an, den der Leckbach nur ein paar Meter hinter dem Gasthaus aufgetürmt hat. Weit oben am Berg, quasi am Beginn der Bachrinne, befindet sich ein Smaragdbergwerk, dessen Abraumhalde vor einigen Jahren bei einem Unwetter talwärts rutschte. Und jetzt begibt man sich hier auf Schatzsuche. Doch die Wahrscheinlichkeit, einen zu finden, ähnelt der Chance auf einen Lottogewinn. Schon vor Jahren haben mein Sohn und ich dort vergeblich unser Glück versucht. Statt der erhofften Edelsteine gab es nur aufgescheuerte Fingerkuppen, mehrere Stärkungen im Gasthaus – und zum Trost einen Besuch im Mineralienmuseum Bramberg.
Dort lassen sich die Vielfalt der Mineralien und die atemberaubenden Steine aus dem einzig nennenswerten Smaragdvorkommen Europas bewundern. „Das Habachtal ist eines der interessantesten Mineraliengebiete der Ostalpen“, schwärmt Herbert Hofer, „allein hier gibt es über 80 verschiedene – in den Hohen Tauern sind es sogar über 200.“ Der Ranger des Nationalparks Hohe Tauern gehört zur kleinen Gruppe von Wandernden, die ebenfalls den Smaragd-Express bestiegen haben. Statt der Kristalle lockt sie vor allem die unglaublich abwechslungsreiche Landschaft des Nationalparks mit seiner interessanten Flora und Fauna. Und vielleicht ein klitzekleiner Funken Hoffnung, durch Zufall einen Edelstein zu finden. „Ich kann mich an einen August erinnern“, befeuert Herbert den Suchinstinkt, „da waren wir unterm Schwarzkopf unterwegs und ich habe mitten im Gelände einen großen Bergkristall gefunden.“
So ein Fund wäre natürlich die Krönung, doch wir sind heute nicht zur Mineraliensuche da, sondern starten zu einer Tour durch die imposante Bergregion des Großvenedigers. Die weltalte Majestät, wie der großartige Gletschergipfel seit der Erstbesteigung durch Ignaz von Kürsinger genannt wird, zeigt sich auf dem Venediger Höhenweg immer wieder von einer neuen Seite. Doch statt am Matreier Tauernhaus, eigentlicher Startpunkt des Höhenwegs, beginnen wir im nördlich gelegenen Pinzgau – und entdecken im Habachtal ein erstes landschaftliches Juwel. Das gut zwölf Kilometer lange Trogtal verläuft in Nord-Süd-Richtung und zeigt eine typische, von Gletschern geschliffene U-Form. Entsprechend steil sind die seitlichen Hänge, durch die sich geschickt ein schmaler Steig windet. Noch wird der Blick auf die Eisreste im Talschluss durch hartnäckige Nebelfetzen verdeckt, aus denen plötzlich neugierige Schafe auftauchen – unsere Begleitung auf dem Weg zur großartig gelegenen Neuen Thüringer Hütte. Dort freut sich Andi Eder aus Mühlbach bei Bamberg über jeden einzelnen Gast. „Als Hüttenwirt hat man schöne und schlechte Zeiten“, meint er, „im ersten Coronasommer hatten wir viel Tagesbetrieb, aber wenig Übernachtungsgäste, und in diesem Jahr fehlen beide.“
Ein 3000er zum "Mitnehmen"
Dabei kann man von der Hütte aus ganz bequem den Larmkogel, einen Dreitausender, mitnehmen – und inklusive Abstieg zur Neuen Fürther Hütte eine abwechslungsreiche Runde unternehmen. Mit der Hohen Fürlegg und dem Anstieg über das spaltige Habachkees gäbe es sogar eine wunderschöne, einsame Gletschertour. „Die Alpinisten gehen alle auf den Glockner oder den Venediger“, erklärt Andi, „aber bei uns sind die stillen Dreitausender.“ Seit drei Jahren ist er Hüttenwirt, doch die Neue Thüringer Hütte kennt er schon lange. „Ich bin hier bereits seit 30 Jahren als guter Geist tätig“, erklärt er. „Neben meiner normalen Arbeit habe ich an Wochenenden immer wieder was raufgetragen und ausgeholfen.“ Mittlerweile gibt es zum Glück einen neuen Helfer, „der ist Rentner und hat mir erst gestern wieder Salat gebracht.“ Der Anstieg in die Larmkogelscharte ist ein Traum. Der Steig führt anfangs angenehm durch die grünen Hänge, bis Fels und Schutt das Gras verdrängen, im Hintergrund zeigen sich zwischen den Wolken gelegentlich die Eis- und Schneefelder des Habachkees.
Der bildet das Zentrum einer der weitläufigsten Gletscherflächen der Ostalpen und ist nach dem Großglockner der bekannteste Gipfel des Nationalparks Hohe Tauern. Der größte und gleichzeitig erste Nationalpark Österreichs hat eine Fläche von 1800 Quadratkilometern, für diejenigen, die Natur und Berge lieben, ist er eine wahre Schatztruhe. „Wir sind aber kein Nationalpark, der sich hinter einem Zaun versteckt“, erklärt Herbert Hofer, „wir versuchen, den Leuten die Schönheit der Natur näherzubringen und wollen zeigen, dass diese Natur schützenswert ist.“
Seit über 20 Jahren ist er als Ranger unterwegs. In der Natur, aber auch in Schulen, um bereits die Kinder zu sensibilisieren. Damit auch sie mit Respekt und offenen Augen die Natur erleben und lernen, wie sie sich mancherorts noch frei entwickeln kann. Am liebsten sind ihm aber die Tage in den Bergen. „Es gibt nichts Schöneres, als etwas zu beobachten“, meint er beim Blick durchs Fernglas, mit dem er erst den Himmel nach einem Steinadler oder Bartgeier absucht und dann die Hänge nach einem Steinbock oder einer Gämse. Auch im Nahbereich entgeht dem Ranger nichts. „Das ist die Alpen-Kratzdistel“, erklärt er und zeigt auf eine, nun ja, stachelige Pflanze, auf die man immer wieder in den Bergen stößt. „Die wenigsten wissen, dass man den Stängel essen kann – der schmeckt wie Kohlrabi.“ Ein paar Meter weiter bleibt Herbert wieder stehen und deutet auf ein unscheinbares Gewächs: „Das ist der Lebendgebärende Knöterich, die Schneehühner fressen die Samen.“ Und schon steckt er die ersten in den Mund:
Beim Abstieg zur Neuen Fürther Hütte im Hollersbachtal begeistert der Blick auf den über 30 Meter tiefen Kratzenbergsee. Mit einer Fläche von rund 24 Hektar ist er das größte natürliche Gewässer des Nationalparks. Ein je nach Lichteinfall blau bis hellgrün schimmerndes Juwel inmitten einer eher kargen Hochgebirgslandschaft. Gleich daneben thront auf einem Geländerücken die mit Holzschindeln verkleidete Alpenvereinshütte, die seit dem Sommer 2021 von Roland Schett geführt wird. „Die Hütte ist schön, gemütlich und hat Charakter“, schwärmt er von seinem neuen Arbeitsplatz. Zwar ist das Wetter schlecht („da brauche ich keine Balkonblumen mehr, sondern Wasserpflanzen“), aber langweilig wird ihm nicht: „Arbeit gibt es mehr als genug, man muss die Hütte in Schuss halten.“
Die Kristallwand ist der Höhepunkt des heutigen Tages
Beim Anstieg ins Sandebentörl auf der zweiten Etappe wird man schier von der Neugier getrieben. Überraschenderweise zeigt sich der Großvenediger schon weit vor dem Übergang, doch erst oben sieht man den weißen Riesen fast in seiner ganzen Größe. Man weiß gar nicht mehr, wohin man als Erstes schauen soll: Im Südosten der Großglockner, vis-à-vis unbekannte Dreitausender mit fotogenen Gletscherresten und im Südwesten der Großvenediger mit seinen Trabanten. Wie auf einer Promenade wandert man direkt auf den markanten Gletscherdom zu, steigt auf dem Venediger Höhenweg etwas mühsam ab zum Viltragenbach und quert auf der anderen Talseite die steilen Grashänge der Gamsleiten mit Blick auf den Großglockner.
Umwerfend und doch nur ein Vorgeschmack auf den Höhepunkt des Tages: Nach der Umrundung des vom Vorderen Kesselkopf herabziehenden Rückens hält man erst einmal direkt auf den Hängegletscher unter der Kristallwand zu. Mit jedem Schritt rücken die Gletscher mehr ins Bild, bis bei der Alten Prager Hütte das gewaltige Schlatenkees auftaucht. 2009 wurde der Hüttenbetrieb eingestellt und 2017/18 das ursprünglich vor 150 Jahren erbaute Haus als Kulturdenkmal restauriert.
Die Gipfel und Eisflächen ringsherum bieten eine beeindruckende Kulisse, an der man sich kaum sattsehen kann. Entsprechend großartig ist daher auch der knapp einstündige Anstieg auf die unter Denkmalschutz stehende Neue Prager Hütte, von der man natürlich einen ebenso grandiosen Blick auf diese eisigen Weiten genießt, und anderntags der Abstieg zu den glattgeschliffenen Felsen im Gletschervorfeld. Spätestens beim Gegenanstieg über die ehemalige Seitenmoräne des Schlatenkees erkennt man gut den dramatischen Eisverlust des mit mehr als fünf Kilometern Länge und rund neun Quadratkilometern flächenmäßig größten Gletschers der Venedigergruppe: Vor rund 170 Jahren reichte das Eis noch bis auf die Höhe der Moräne. Nach dem Löbbentörl wechselt man auf die einsame Seite der Venedigergruppe und erreicht die Badener Hütte, einen der abgelegensten Stützpunkte der Ostalpen. Aufgrund der langen Zustiege gibt es hier oben kaum Tagesgäste, doch für Marco Steiner ist das perfekt. „Die Gäste hier sind anders“, meint der Hüttenwirt, „jeder muss mindestens fünf Stunden laufen, was leisten, schwitzen – das sind einfach zufriedene Leute.“
Auf zur Galtenscharte!
Mit der Kristallwand gibt es auch ein interessantes Gipfelziel, doch die meisten Übernachtungsgäste sind auf dem Venediger Höhenweg unterwegs und visieren als Nächstes die Bonn-Matreier Hütte an. Schlüsselstelle auf dieser Etappe ist die Galtenscharte. „Von der liest und hört man immer viel“, weiß Marco, „aber jetzt bin ich 13 Jahre da, dort ist noch nie etwas passiert.“ Natürlich ist das Gelände steil, andererseits werden ab Mitte Juli, sobald der Schnee weg ist, an den exponierten Stellen Drahtseile gespannt. Eher unterschätzt wird dagegen der Zustieg, der ab dem kleinen Achselsee extrem steile Grashänge quert – hier darf man keinesfalls stolpern. Vielleicht trägt zum Ruf der Galtenscharte die überaus wilde, fast schon düstere Kulisse bei. Der Übergang ist die einzige Schwachstelle im felsigen Kamm der Virger Nordkette, die aus schroffen, abweisenden Felsgipfeln und -türmen besteht – und damit einen spannenden Kontrast bildet zu den eher sanften, ausgedehnten Gletschern der Venedigergruppe, die man ständig auf Fotos sieht.
Auf der Südseite der Galtenscharte wartet nach einer kurzen, mit einem Drahtseil gesicherten Felsstufe deutlich freundlicheres Gelände – und kurz darauf die wunderschön gelegene Bonn-Matreier Hütte. Ab dem Sommer 2022 startet Andreas Rainer als neuer Hüttenwirt in die Saison. Für die alte Wirtin Nora Rosche war die Hütte etwas ganz Besonderes. „So einen Platz gibt es nicht oft“, meint sie, „der hat etwas Magisches.“ Besonders die Etappe zur Eisseehütte ist ihr ans Herz gewachsen: „Da wandert man auf einem wirklich schönen Höhenweg mit Edelweißwiesen.“ Recht hat sie, der Weg verläuft wirklich traumhaft mit leichten An- und Abstiegen hoch über dem Virgental und ist Genuss pur.
Stundenlang könnte man so weiterlaufen, doch auch der schönste Weg hat irgendwann ein Ende – in diesem Fall in Form der einladenden Eisseehütte.
Der erst im Jahr 1983 erbaute Stützpunkt im Talschluss des einsamen Timmeltals ist seit zehn Jahren im Besitz der Familie Islitzer. „Ich habe ja von Gastronomie keine Ahnung gehabt“, erzählt Markus Islitzer in seiner ehrlichen Art, „ich wusste vielleicht, wie eine Suppe warm zu machen ist, aber nicht, wie sie zubereitet wird.“ Entsprechend schwer war der Start, auch weil neben dem Hüttenbetrieb noch diverse Auflagen der Behörde zu erfüllen waren. „Das erste Jahr war schon hart“, erzählt er rückblickend, „das zweite Jahr schon ein bisschen besser, das dritte gut und das vierte manchmal sehr gut – ist halt immer ein Auf und Ab.“ So wie die Runde um den Großvenediger mit ihrem vielen Rauf und Runter, bei der eine gewisse Grundkondition sicher hilfreich ist. „Ich sag immer, die Berge sind nur hoch, wenn man im Tal ist“, meinte Herbert Hofer am ersten Tag, „sobald man oben ist und herunterschaut, war das gar nicht so schlimm.“ Mit dieser Einstellung lässt sich auch der letzte Anstieg in die Zopetscharte bewältigen, ehe es endgültig bergab geht zur Johannishütte. Von hier aus sieht man den Großvenediger noch einmal aus einer ganz neuen Perspektive und genießt beim langjährigen Hüttenwirt Leonhard Unterwurzacher eine letzte Nacht am Berg. Und denkt dabei an einen weiteren Spruch des Rangers: „Wenn man das nur als Anstrengung sieht, dann ist man am falschen Platz – man muss das als Herausforderung sehen, als Genuss, da oben unterwegs zu sein.“