Mann klettert an Wand in Kletterhalle
Hartes Training auf den ersten Weltcup 2023 in Salt Lake City an der Wand im Kletterzentrum der Sektion Erlangen. Foto: Karina Brock
Paraclimber Philipp Hrozek

Schicksalsdinge

Phil ist 41 Jahre alt, Vater eines Sohnes und leidenschaftlicher Sportkletterer. Er klettert stark – so stark, dass er 2023 bei den Weltmeisterschaften in Bern dabei war. Und er hat eine ganz spezielle Beziehung zum Klettern. Denn der Sport hat sein Leben gerettet.

Doch von vorn: Mit 14 Jahren ist Phil auf den Geschmack gekommen, durch Zufall. Ein Ruderkollege hat ihn erstmals zum Klettern mit an den Fels genommen – „und dann hat’s mich gepackt“. Was ihn so packte? „Klettern war ganz anders als das Wettkampfrudern, losgelöst von Trainern, von jeder Ansage. Man macht einfach sein Ding.“ Das hat er gemacht. Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder stürzte er sich ins Training, sodass sie zwei Jahre später bereits im 10. Grad (UIAA) kletterten.

2022 gewinnt Phil in Imst die International Paraclimbing Masters. Foto: Nicholas Perreth

Dann kam der Unfall, der sein ganzes Leben veränderte. Der 17. September im Jahr 2016: „Wir waren auf dem Rückweg von Ikea. Es war Starkregen, richtig viel Aquaplaning. Ich bin gefahren, meine Freundin saß neben mir. In einer Linkskurve ist mir der Wagen dann ausgebrochen – ziemlich schnell, ziemlich stark – und wir sind von einem entgegenkommenden Fahrzeug gerammt worden. Direkt in die Fahrerseite rein. Meine Freundin dachte, ich sei tot.“ Tot war er glücklicherweise nicht. Aber es begann die schwerste Zeit seines Lebens – obwohl er rein äußerlich bis auf einen kleinen Kratzer über dem Auge keine Verletzungen davontrug. Es folgte zunächst eine knappe Woche Koma, die die Angehörigen bang zurückließ: Wie geht es weiter? „Die Querschnittslähmung war eigentlich gewiss. Mein Vater war schon dabei, nach einem barrierefreien Haus zu suchen.“

Kampf zurück ins Leben

Obwohl er nicht querschnittsgelähmt ist, ist seitdem nichts mehr, wie es war. Direkt vom Krankenhaus ging es in die Reha, für mehr als drei Monate. Es hieß, ganz von vorn anzufangen: „Ich konnte eigentlich gar nichts mehr, nicht gehen, nicht reden, nicht essen.“ Die Hauptdiagnose war „Schädel-Hirn-Trauma mit Blutung im Stammhirn“. Phil hatte Bewusstseinsstörungen, eine Augenmuskellähmung sowie starke Zerrungen und Nervenabrisse von der Schulter bis zur Hand. Sein rechter Arm war ein ganzes Jahr lang komplett gelähmt. Die lädierten Hirn- und Spinalnerven, die den Rumpf ansteuern, hatten eine Schwächung aller Extremitäten zur Folge. Hinzu kam eine Dysphonie, Phil konnte nicht reden, nicht schreiben, konnte nichts mitteilen, kaum denken. „Das war alles zu anstrengend. Ich konnte nur bei mir sein und mein Ding machen.“ Um Weihnachten 2016 kam er aus der stationären Reha – austherapiert, als bester Patient. Dennoch: „Klettern war immer noch unmöglich für mich.“ Der rechte Arm ließ sich nicht beugen, alle Extremitäten waren ohne Muskulatur „total dünn geworden“. Aber es hieß nun ohnehin erstmal wieder, den Alltag auf die Reihe zu bekommen: Zähneputzen, Gehen lernen, Schreiben lernen, eine Kaffeetasse tragen … All die alltäglichen Dinge. „Die Rückkehr ins wirkliche Leben war anfangs wirklich schwer für mich – aufgrund meiner akuten Hirnschädigung war sogar Busfahren eine Herausforderung, weil ich mich sehr schlecht orientieren konnte.“ Als irgendwann auch die Reha in der Tagesklinik abgeschlossen war und Phil im Rahmen einer Wiedereingliederung zurück ins Berufsleben durfte, ging sein altes, und ein gleichzeitig absolut neues Alltagsleben los: „Die Arbeiten hatten sich verändert, Prozesse sind weitergelaufen und so musste ich mich erst wieder einarbeiten – zusätzlich zu erschöpfenden Therapien, alltäglichen Lebensaufgaben und meiner weiteren Genesung.“ Aber das Klettern war sein täglicher Motor, bald konnte Phil sein Training wieder intensivieren. „Das war meine Therapie daheim. Ich habe trainiert, war motiviert voranzukommen, nie zufrieden mit dem Status quo.“ Nebenbei erhielt er Sprach-, Physio- und Ergotherapie. Und dann standen mehrere Operationen an, an den Augen, den Hüften, den Schultern. Phils starker Wille und das Klettern waren die wichtigsten Bausteine auf seinem Weg zurück ins Leben.

Entspannen beim Familienurlaub in den Tiroler Bergen. Foto: Nicholas Perreth

Neustart zu dritt

Ein weiterer intensiver und „mit Sicherheit der glücklichste Moment überhaupt“ war 2019 die Geburt seines Sohnes Emil. „Zu der Zeit hatte ich einen neuen Job mit 20 Wochenarbeitsstunden und konnte mir die Zeit frei einteilen.“ Somit konnte er zu Hause auffangen, was seine Freundin Carina berufsbedingt nicht leisten konnte. „Es war eine reine Organisationsaufgabe!“ Aber er möchte die viele Zeit mit seinem Sohn nicht missen – auch wenn diese wieder neue Schwierigkeiten mit sich brachte: „Ich konnte nicht am Boden rumkrabbeln und mit Emil auf dem Arm Treppen steigen war anfangs nahezu unmöglich.“ Mittlerweile ist das Vatersein anders geworden. „Ich muss nicht mehr wickeln oder mit einer Trage durch die Welt laufen. Jetzt ist die Herausforderung, beim gemeinsamen Fußballspielen den Ball sauber zu treffen und sicher auf einem Bein zu stehen!“

Kuscheln mit Sohn Emil in der Fränkischen Schweiz. Foto: Nicholas Perreth

Heute ist Phil zu 50 Prozent schwerbehindert. Die Muskulatur ist nicht mehr so kräftig, wie sie einst war, die Nerven reagieren sehr langsam. Auch sein Sehvermögen ist noch beeinträchtigt: „Extreme Winkel funktionieren nach wie vor nicht.“ Hinzu kommen neurologische Einschränkungen: Phils Konzentration und Belastbarkeit sind sehr begrenzt. Manches bleibt und wird nie besser werden, aber insgesamt ist der 41-Jährige mit sich im Reinen: „Ich habe jedes Jahr Fortschritte gemacht. Jetzt immer noch. Ich habe schon das Ziel, wieder einmal eine Tour im 10. Grad zu klettern. Ich will mir das beweisen.“ Und so weit ist der Zehner gar nicht mehr weg: Im 9. Grad ist Phil bereits wieder unterwegs. Nach wie vor klettert Phil am liebsten mit seinem Bruder am Fels, ist inzwischen aber auch Mitglied im deutschen Paraclimbing-Nationalkader – und das, obwohl er früher mit Plastikgriffen so gar nichts anzufangen wusste. 2018 wurde er zum Teamtraining eingeladen, noch im selben Jahr belegte er einen zweiten Platz bei seinem ersten internationalen Wettkampf. Auch dadurch hat er neue Trainingsziele gefunden, die ihn immer weitermachen lassen. „Ich konnte vor vier Jahren keine Sekunde an einer Leiste hängen – heute mache ich daran wieder Klimmzüge. Solche Ziele mögen für andere schwachsinnig erscheinen, mich motiviert so etwas total.“

Paraclimbing – Sportklettern für Menschen mit körperlicher Behinderung

Paraclimber*innen starten auf Wettkämpfen in drei Wertungsklassen:

  • Blind Sport Classes (B1, B2, B3)

  • Amputees (AU1, AU2 (Arm); AL1, AL2 (Bein))

  • Limited reach, power or stability (RP1, RP2, RP3)

Je höher die Zahl, desto geringer der Grad der Beeinträchtigung. Unterschieden wird zudem in männliche und weibliche Startklassen. Phil wird wegen seiner sehr eingeschränkten Beweglichkeit der Klasse RP2 zugeordnet. Die Paraclimber*innen werden einmal zu Beginn ihrer Karriere im Nationalkader von einem Gremium des IFSC eingestuft; alle zwei Jahre erfolgt eine Neubeurteilung.

Die Climbing und Paraclimbing World Championships finden von 1.-12. August 2023 in Bern statt. Qualifikation und Finale im Paraclimbing stehen am 8. und 10. August auf dem Programm.

Weitere Infos: instagram.com/philipphrozek, bern2023.org, ifsc-climbing.org, paraclimbing.org

Phil ist ehrgeizig. Doch wenn es nicht gerade um Weltmeisterschaften geht, steht Siegen für ihn im Para-Team nicht an erster Stelle: „Paraclimbing im Team ist ein Mitteilungsort, da verstehen alle alles. Und alle haben ihr Päckchen zu tragen.“ Beim Gedanken an die WM in Bern kommt der Ehrgeiz dann aber klar durch: „Mein allergrößtes Ziel ist es, ein einziges Mal im Leben der Beste der Welt zu sein!“ Deswegen bereitet er sich seit der Nominierung mental vor und versucht, seine Beeinträchtigung durch konsequentes Training zu seiner Stärke zu machen. Phil ist aber auch realistisch, was seine mentale Verfassung angeht, wenn es dann so weit ist: „Ich bin jetzt zwar noch nicht aufgeregt, weiß aber, dass die Nacht vor den Qualifikationen schlaflos sein wird. Ich freu mich aber auch drauf, dieses Kribbeln und die Spannung! Die Möglichkeit zu haben, an einer WM teilzunehmen, ist ein absolutes Privileg.“ Einen Vorgeschmack auf das Wettkampf-Feeling gab es gerade im Juni beim Paraclimbing Weltcup in Villars (CH), wo Phil Gold holte – ein gutes Omen für die WM?!

Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft

Ohne Training geht aber auch sechs Jahre nach dem Unfall nichts. Zur Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft ist er jeden Tag zu Hause an Griffbrett, Hanteln, Hangelgestänge oder Trainingswand. So oft es geht, schaut er in der DAV Sparkassen Bergwelt in Erlangen vorbei, wo er immer auf bekannte Gesichter trifft: „Ich finde es echt schön, ich bin gerne hier.“

Training am Kilterboard der Boulderhalle Steinbock Erlangen. Foto: Nicholas Perreth

Somit hat sich der Stellenwert des Kletterns für ihn nicht verändert. Wohl aber die Qualität. „Klettern war schon immer mein Lebensinhalt – und bleibt es auch.“ Aber wo er zuvor ein Eigenbrötler war, zählt jetzt das Team. Schwierigkeitsgrade sind zudem weniger relevant geworden. Das sei vielleicht auch der Hauptunterschied zwischen „Normalos“ und Parasportler*innen. Sie machen ihren Sport für sich, für niemanden sonst. Und niemand neidet den anderen etwas. Allein deshalb sollten Parasportarten mehr Aufmerksamkeit bekommen, meint Phil. „Es ist immer noch eine Nische, aber das wird dem nicht gerecht, was dort geleistet wird: Paraclimber sind viel stärker als normale Kletterer!“ Phil muss es wissen. Denn ihn hat der Sport wortwörtlich gerettet. Ein Gutachterkreis hat seinen Unfall rekonstruiert und bewertet. Sein jahrzehntelanges Training, die dadurch aufgebauten Muskeln, haben ihm das Leben gerettet. „Mein Neurologe in der Klinik hat mir gesagt: Ohne das Muskelkorsett am Rücken wäre ich zerbrochen, da wäre meine Wirbelsäule einfach zerplatzt. Oftmals denke ich: Ist das vielleicht so ein Schicksalsding? Ich habe mich echt jahrelang vorbereitet auf genau diesen Tag. So kommt es mir oft vor.“

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