Nationalpark Eifel, Obersee, ein Platschen lässt die Wasseroberfläche erzittern. Der Ranger an unserer Seite verharrt. Ralf Hilgers deutet am Ufer auf abgenagte Birkenstämme und flüstert: „Biber.“ Ich spähe durch die Äste auf den See und erkenne nichts. Da ist nur ein Kreis, der schnell verschwindet und einen perfekten Wasserspiegel hinterlässt. Sattgrün steht der Laubwald im Wasser Kopf. Nebel steigt auf, die schrägen Sonnenstrahlen tauchen die Szene in ein mildes Licht.
Es ist der letzte Samstag im Juni, acht Uhr am Morgen des dritten Reisetages. Wir sind seit zwei Stunden mit Ralf Hilgers unterwegs. Er trägt einen Schnauzbart, einen Rangerhut und führt an einer Leine seine Hündin „Molly“, eine Slowakische Schwarzwildbracke. Uns zeigt er die zweite Etappe des Wildnis-Trails. Vom Dorf Einruhr sind wir durch den Wald gewandert und am Wasser entlang immer tiefer in den Park hinein. Kamille fasst den Weg ein. Auf meine Frage, wie viele Tier- und Pflanzenarten es im Nationalpark gibt, überrascht uns Ralf Hilgers mit der exakten Zahl: „Das kann ich genau sagen, weil wir am Mittwoch Leistungspflichtprobe hatten. 10.847 Arten sind es.“ Der im Januar 2004 ausgerufene Nationalpark reicht von Nideggen im Norden bis an die belgische Grenze. Etwa 400 Höhenmeter trennen die Gipfel der Hocheifel von den Tälern der Flüsse Rur und Urft. Oberhalb der massigen Urfttalsperre macht der Trail seinem Namen alle Ehre.
Ralf Hilgers erzählt im Eifeler Platt: „Unsere Schreibtischtäter hatten hier einen Radweg ausgewiesen, den gibt es nicht mehr.“ Der Schotterweg steigt steil wie eine Skisprungschanze an. Der Puls pocht, die Luft wird knapp. Ralf Hilgers mahnt: „Wenn man da von oben mit dem Fahrrad als Familienvater mit drei Kindern ankommt, wird es abenteuerlich. Manche fahren ja auch mit E-Bikes her.“ Zu beiden Seiten liegen umgestürzte Laubbäume. Dazwischen Fingerhut-Blumen. Wir wandern über die Dreiborner Hochfläche. Das mit Büschen durchsetzte Grasland war bis 2005 ein Truppenübungsplatz. Im Süden grast eine Schafherde. Im Osten liegt die ehemalige Ordensburg Vogelsang. Hinter den dicken Mauern eine NS-Dokumentation und die Nationalpark-Erlebnisausstellung „Wildnis( t)räume“. Das Land wellt sich. Am Horizont Wälder, Wiesen, Windräder. Dazwischen Dörfer. Vor dem Bahnhof der Stadt Düren sind wir in den Sattel geklettert. Von dort aus leitete uns das Flüsschen Rur zum Nationalpark Eifel. Die Reise führt durch das Rheinische Schiefergebirge.
Zum Hohen Venn
Als Nächstes schnaufen wir auf das Hohe Venn, ziehen durch die Vulkaneifel zur Mosel und über die Höhen des Taunus. 580 Kilometer verteilt auf neun Etappen. Was wir noch nicht ahnen, manche Wege fordern richtig. Die einstige Tuchmacherstadt Monschau ist unser nächster Übernachtungsort. Frühmorgens holpern wir über das Kopfsteinpflaster. Die Gassen sind noch leer. Fachwerkhaus reiht sich an Fachwerkhaus. Es gibt wenig Platz, so dass sich die Bauten die umliegenden Hänge hinaufziehen. Unten wirft die Rur Schleifen.
Sie und der im Zentrum mündende Laufenbach wurden im Juli 2021 zum Wildwasser. Es rauschte durch die Altstadt, riss Pflastersteine mit sich und flutete Keller. Drei Wochen vor der Flutkatastrophe radeln wir stromaufwärts. Die Rur hat sich in die Schieferschichten geschnitten. Im Wasser liegen Felsbrocken. Daneben eine schmale Blumenwiese, dahinter krallen die Bäume ihre Wurzeln in die Hänge. Geschottert zieht sich der Weg rüber nach Belgien und auf das Hohe Venn.
Hier in den Ardennen entladen von Westen heranziehende Regenwolken ihre nasse Fracht. Auf dem 5000 Hektar großen Hochplateau fallen bis zu 1500 Millimeter Niederschlag. So bildete sich zum Ende der letzten Eiszeit auf den kargen, wasserstauenden Böden eine mehrere Meter dicke Torfschicht. Am 694 Meter aufragenden Signal de Botrange durchfurchen Bäche die Hänge. Geschützt wird das Hochmoor im länderübergreifenden Naturpark Hohes Venn-Eifel.
In der Region Wallonien radeln wir in einem Routennetz mit Knotenpunkten. An jeder Kreuzung stehen Wegweiser mit Ziffern. Wer mit dem Rad unterwegs ist, kann sich spontan eine individualisierte Tour zusammenstellen. Unsere springt von Nummer 72 zu 71, von 63 zu 83 und 43. Letztere liegt am Vennbahn- Radweg. Mit ihm kosten wir die gewonnenen Höhenmeter aus. Die Räder flitzen über eine stillgelegte Bahntrasse. Auf dem Gleis neben dem Radweg kommen uns ab elf Uhr mehrere Draisinen entgegen, vierrädrige Gefährte angetrieben mit Muskelkraft. Schnaufend, aber gut gelaunt genießen die Menschen ihren Ausflug.
Von der Eifel zur Mosel
Egal wie man unterwegs ist, die Eifel macht Laune. In dem Mittelgebirge fällt es leicht, eine Mehrtagestour zu erstellen. Unser Plan ist es, Richtung Osten zu ziehen. Die Wege sollen verkehrsfrei sein. Genau das bieten die Eifel-Höhen-Route, der Kylltal-Radweg und der Eifel-Ardennen- Radweg. Wir brauchen sie nur aneinanderzureihen. Das Oleftal runter, durch herrlich stille Wälder zur Kyll und weiter hügelauf, hügelab in die Vulkaneifel. Schotterwege, Asphalt, Wiesentrails – alles dabei. Auf der Fahrt von Nordrhein-Westfalen rüber nach Rheinland-Pfalz verliert der Wald an Dominanz. Nun warten Hügel mit weiten Blicken auf. Sie sind Relikte des Vulkanismus. Gut erhalten haben sich die Maare, das sind trichterförmige Senken vulkanischen Ursprungs, die mit Wasser vollgelaufen sind. Die fotogensten serviert der Maare-Mosel-Radweg. Auf seinen knapp 60 Kilometern geht es von 410 Meter Höhe runter auf 108 Meter. Vom heilklimatischen Ort Daun aus folgt man mit dem Rad der stillgelegten Bahntrasse auf eine Hochfläche. Nahe am Weg leuchten die drei Dauner Maare riesigen Augen gleich im Sonnenschein. Hinter dem Scheitelpunkt der Bahntrasse drehen die Räder immer schneller. Einfach laufen lassen, in die Kurven legen und die vorbeiziehenden Eindrücke genießen, die Viadukte, Brücken, Tunnels und den breiten Asphaltweg. Richtung Süden senkt sich das Land. Wir begleiten den Alfbach, passieren das Pulvermaar und lassen uns von der 74 Kilometer langen Lieser zur Mosel führen. Der Strom hat eines der malerischsten Täler Deutschlands aus dem Rheinischen Schiefergebirge gewaschen. Die Mosel legt ihre Schleifen in die Höhenzüge von Eifel und Hunsrück. Sie umarmt Weinberge und von Burgen bewachte Kleinstädte. Hier müssen wir uns entscheiden: auf dem Mosel-Radweg Strecke machen? Oder in der Höhe durch die Weinberge fahren? Wir freuen uns auf beides. Da am Himmel dunkle Wolken drohen, fällt die Wahl zunächst auf den Uferweg via Bernkastel-Kues und Traben-Trarbach dem Etappenort Pünderich entgegen. Anderentags zieht sich unsere Route in Kehren zur Marienburg empor und folgt ein Stück der Kammlinie. Wir strampeln zum Prinzenkopfturm, stellen die Fahrräder ab und steigen zur Aussichtsplattform hinauf. Unten dehnt sich das Moselland im Breitband-Format aus. Grüne Wälder, dahinter die Marienburg eingerahmt von Weinbergen und dem Fluss zu beiden Seiten. An den Hängen ziehen sich Winzerdörfer entlang. Schiefergedeckte Häuser kuscheln sich um eine Kirche. In Bremm zwingen Serpentinen in die kleinen Gänge. 370 Höhenmeter auf fünf Kilometer. Zur Belohnung gibt es den Ausblick auf einen der steilsten Weinberge weltweit, den Calmont mit bis zu 65 Grad Neigung. Die Böden mit ihrem Schieferverwitterungsgestein lassen edle Rieslingweine reifen. Der in Terrassen abfallende Höhenzug ist nur zu Fuß begehbar.
Wir hangeln uns oben einen Waldpfad entlang und ziehen durch das verwunschene Tal des Ellerbachs hinab zur Mosel. Die folgenden Stopps gelten der Stadt Cochem und der Burg Eltz. Mit dem Märchenbau beginnt das siebte Teilstück. Der Alkener Bach führt hoch in den Hunsrück. Wir sausen runter zum Schloss Stolzenfels und bummeln längs des Rheins nach Koblenz. Oben Stille, unten Gewusel. Über das Deutsche Eck rollen, ein Imbiss in der Altstadt und entlang der Lahn in den Naturpark Nassau. Links läuft der Westerwald aus, rechts der Taunus. Im schmalen Tal dazwischen zieht sich Bad Ems in die Länge. Vor Ort reicht die Badetradition bis in die Römerzeit zurück. Später entspannten Könige, Kaiser und Zaren am Ufer der Lahn. Bei einem Aufenthalt schrieb der russische Schriftsteller Fjodor M. Dostojewski: „Das Städtchen Ems liegt in einer tiefen Schlucht zwischen bewaldeten Hügeln. An Felsen, die malerischsten der Welt, lehnt sich das Städtchen. Es gibt Promenaden und Gärten – und alles reizend.“ Bad Ems zählt zweifach zum Unesco-Weltkulturerbe. 2021 adelte man die Stadt mit dem Titel „Bedeutende Kurstädte Europas“. 2005 wurde der Obergermanisch-Raetische Limes ein Welterbe. Letzterem gebühren die finalen 140 Kilometer. Ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. errichteten römische Legionäre in Germanien eine Grenzbefestigung – den Limes. Er verband den Rhein mit der Donau. Beide Flussradwege sind Klassiker. Dazwischen Wald, Wiesen, Felder, Kleinstädte und viel Ruhe. Die vorletzte Etappe beginnt und wir schalten in die kleinen Gänge. Steil ansteigend zieht sich der Limes-Radweg in den Westlichen Hintertaunus.
Letzterem gebühren die finalen 140 Kilometer. Ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. errichteten römische Legionäre in Germanien eine Grenzbefestigung – den Limes. Er verband den Rhein mit der Donau. Beide Flussradwege sind Klassiker. Dazwischen Wald, Wiesen, Felder, Kleinstädte und viel Ruhe. Die vorletzte Etappe beginnt und wir schalten in die kleinen Gänge. Steil ansteigend zieht sich der Limes-Radweg in den Westlichen Hintertaunus.
Mit seinen 550 Kilometern ist der Obergermanisch-Raetische Limes nach der Chinesischen Mauer das zweitlängste Bodendenkmal. Wir fahren mal im Rausch zu Tal, dann wieder im Schneckentempo bergan. Über die Grenzbefestigung ist Gras gewachsen. Die Stürme der Zeit haben die Spuren verwaschen. Alle Spuren? Nein! Auf dem Boden der heutigen Gemeinde Pohl stand vor rund 1900 Jahren ein Kleinkastell. Uns lockt ein Nachbau mitsamt Palisade und Wachturm. Für elf Uhr sind wir mit Thomas Steffen verabredet. Wir treffen uns in einem der drei Gebäude. Dessen Bauweise täuscht weiße Steinquadermauern mit roten Fugenstrichen vor. Thomas Steffen erzählt: „Die Theorie des Archäologen ist, dass in Pohl einhundert nach Christus eines der ersten Kastelle am Limes entstand. Er wurde gerade aufgebaut und von der Provinzhauptstadt Mainz gesteuert. Man hat Holz-Erde-Kastelle errichtet, die man schnell bauen konnte und vielleicht eine Generation oder eineinhalb gehalten haben.“ Der Limes diente vor allem als Demarkationslinie. Die Legionäre schlugen eine Schneise in den Wald. Hinein stellten sie eine Palisade, später auch Wachtürme.
Im Grenzverlauf gab es viele Durchlässe für den Handel. Auf die Frage, wo man ein erhaltenes Stück des Limes sehen kann, erwidert Thomas Steffen mit Blick auf meine Outdoorkarte: „Hier oben im Wald liegt die Turmstelle 2/25. Sie fahren hier hoch und nehmen den Wiesenweg parallel zur B260. An der Kreuzung ist die Turmstelle.“ Zurück auf den Fahrrädern begeben wir uns auf die Suche. Der im GPS markierte Weg ist mit Brennnesseln zugewuchert. Wir tasten uns schiebend durch das Unterholz einen Hohlweg entlang. Darüber greifen die Äste von Buchen und Birken ineinander. Rechter Hand ein zirka zwei Meter hoher Wall. Der Limes! Auf der einen Seite dehnte sich die römische Provinz Germania superior aus, gegenüber lag Germania Magna, das Siedlungsgebiet der nicht unterworfenen Germanen. Die letzte Etappe verläuft über ruhige Nebenstraßen und zugewucherte Forstwege. Vorbei an weiteren Relikten der Grenzbefestigung, rauf auf den Großen Feldberg und runter ins Fachwerkstädtchen Butzbach. Dort in der Wetterau liegt das Reiseziel. Der Radweg ginge noch bis zur Donau. Die Fahrt vollenden wir später einmal: Rom wurde ja auch nicht an einem Tag erbaut.