Ein großes Buchgeschäft in der Münchner Innenstadt, spezialisiert auf Reisethemen: Alpen, das ganze Regal oder besser die ganze Wand lang. Und Schwäbische Alb? „Leider nein, das wird bei uns nicht so oft angefragt.“ Echt nicht? Na dann, nichts wie los auf Entdeckungsreise.
Urzeit – ein Schlüssel zur Alb. Schließlich ist sie ein „Small Barrier Reef“, mindestens 145Millionen Jahre alt. Ein 30 bis 40 Kilometer breiter und über 200 Kilometer langer Riegel vom Nördlinger Ries bis in die Schweiz. Alb und Ries, Meeresboden, Schichtungen und Verwerfungen. Ein riesiger Meteoritenkrater, mesozoischer Kalkstein, das Urtal der Donau. Die Alb ist ein geologisches Geschichtsbuch, 1750 Quadratkilometer Ries und 6200 Quadratkilometer Alb sind Unesco Global Geoparks. Ein zu Fels erstarrtes Korallenriff und ein doppelter Meteoritenkrater. Wo in dieser Welt gibt es sonst noch einen solchen energetischen, urzeitlichen Doppelwumms?
Älteste Skulpturen der Menschheitsgeschichte
Nicht weit entfernt liegen Ulm und seine Archäologische Sammlung. Der hier ausgestellte Löwenmensch ist die momentan älteste von Menschen geschaffene Skulptur eines Fabelwesens. Die Venus vom Hohle Fels, geschnitzt aus Mammut-Elfenbein, die älteste figürliche Frauenskulptur. Sechs Zentimeter Elfenbein aus der jungpaläolithischen Kultur des Aurignaciens. Über eine gläserne Verbindungsbrücke gelangt man in die benachbarte Kunsthalle Weishaupt. Hier hängen Warhol und andere hochdotierte moderne Zeitgenossen. 40.000 Jahre Kunstgeschichte in 100 Meter Luftlinie.
Löwenmensch und Venus stammen aus dem Achtal und dem Blautal bei Blaubeuren, ebenfalls Unesco-Welterbestätte. Der Blautopf, das Kloster, die Höhlen, die Funde – wäre es Australien, würde man hin pilgern, um auf Songline-Traumpfaden der Aborigines zu wandern. Aber es sind ja „nur“ die Flöten aus Schwanenknochen, die ältesten Skulpturen der Menschheit, die Trails im Achtal und das mystische, bis heute nicht gänzlich erkundete Höhlensystem des Blautopfs.
Vater Rhein und die Alb haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam und bei einer Donau-Radtour denkt man wahrscheinlich an Passau-Wien. Die romantische Alb-Variante des Donauradwegs führt von Donaueschingen nach Sigmaringen mitten durchs Donaubergland, wo Rhein und Donau auf eine sehr charmante Weise zusammenkommen. Man kann die 90 Kilometer an einem Tag runterradeln. Trotzdem lohnt es sich, innezuhalten. Erster Stopp: die Donauversickerung zwischen Immendingen und Tuttlingen. An bis zu 160 Tagen im Jahr versickert, besser versinkt die Donau. Eine unterirdische Flussanzapfung, in der das Wasser in einem Karstwassersystem (Erdgeschichte!) verschwindet. Und in der wasserreichsten Quelle Deutschlands, dem Aachtopf, wieder austritt, in den Bodensee mündet und in den Rhein bis zur Nordsee fließt. Über die Kammlinie der Alb verläuft die Europäische Hauptwasserscheide und die Donau geht ihre eigenen Wege. Sie wird so zum Fluss, der in zwei Meere mündet. Mal so ganz nebenbei!
An 160 Tagen kann man also trockenen Fußes durch die Donau wandern. Wenn das Wasser doch fließen sollte, springt man am Jägerhaus hinter Fridingen in der Furt über die Blocksteine. Kommt man im Frühjahr, blüht in meterlangen, dichten Ranken der ranunculus aquatilis, der flutende Hahnenfuß, und erinnert an den Amazonas. Wer Asien statt Südamerika bevorzugt, überquert vor Sigmaringen die Donau auf einer Hängebrücke. Schaukelndes Nepaltraining auf der Alb.
Für ein Linsengericht sollte man sich erst einmal aufs Bike setzen und das Große Lautertal abradeln. Es ist eine sehr entspannte Radtour, deren Länge sich beliebig ansetzen lässt – und auf der die scheinbar unschlagbare Performance von E-Bikes gefeiert wird: „In dr Alb, da brauchts a E-Bike, da gohts schtändig auf“, verkündet ein Kollege am Nachbartisch und schwärmt stolz von den Porsche-Qualitäten seines Gefährts. Seine Begleiterin schweigt.
Unabdingbar ist im Lautertal ein Halt in Lauterach. Hier hat die Wiederentdeckung der Alb-Leisa, der Alblinsen, ihren Ursprung. Die Geschichte ist ein Possenstück der Globalisierung und der vielgelobten Sparsamkeit. Auf der Alb waren Linsen (und Spätzle) traditioneller Fleischersatz, bis ab den 1960er Jahren billige Importe der heimischen Linse den Garaus machten. Irgendwann war Schluss mit Linsen und dem Linsen-Saatgut. Nach einer filmreifen Spurensuche mit viel ökologischem und nachhaltigem Engagement wurde 2006 von Woldemar Mammel und Freunden Saatgut in einer russischen Gendatenbank wiederentdeckt. Heute bilden rund 120 Anbaubetriebe eine Erzeugergemeinschaft mit höchstem ökologischem Standard. „Dr oi brauch dr andra“, erklärt Franz Häßler, einer der Sankt-Petersburg-Pioniere von den Lauteracher Alb-Feld-Früchten. „Die Linse braucht eine Stützfrucht wie Bio-Braugerste, und der Boden mindestens sieben Jahre Pause, um Krankheiten und Pilzbefall zu vermeiden.“ Sieben Jahre! Das erfordert Albtugenden wie Geduld und Ausdauer. Doch das ist nur eine von vielen erfolgreichen Bio-Geschichten der Region. Die Schwäbische Alb hat ein knapp 86.000 Hektar großes Biosphärenreservat, das 2008 als Biosphärengebiet des Landes Baden-Württemberg eingerichtet wurde.
Staufische Festungsarchitektur
Das Staunen der Welt: Stupor mundi, so nannte man Friedrich II. Die Staufer gehören auf der Alb dazu. Vor allem mit Burgen auf Zeugenbergen und dem Albtrauf entlang. Ein Prototyp staufischer Festungsarchitektur ist die Burg am Hohen Neuffen. Heinrich I. von Neuffen geleitete 1211 den 16-jährigen Stauferkönig Friedrich II. zur Königskrönung von Italien nach Schwaben. Wer am Ende einer Wanderung seine Trutzburg erreicht, fühlt sich an die Stauferbauten in Süditalien erinnert; die Burg könnte eins zu eins auch in Apulien oder Sizilien stehen. Beim abendlichen Schoppen in der Burggaststätte gibt es zum Sonnenuntergang einen Traumblick übers weite Ländle obendrauf. Und Hochgenuss bietet auch die Aussicht auf die Weingärten unterhalb der Burg.
Gut, edel und harmonisch eingebettet schmiegen sich die Weinberge an die Hänge zwischen den aus dem Albtrauf hervorragenden Jurafelsen und dem Ort Neuffen. Sie erinnern an Südtirol oder die Burggüter Frankreichs. Inzwischen haben die Württemberger Winzerbetriebe und die Alb massiv aufgeholt zu den großen Nachbarn. Und natürlich setzen sie noch eins drauf: Was man früher vielleicht skeptisch beäugt haben mag, ist inzwischen zu einer äußerst spektakulären Lage herangereift. Württemberger Albweine wie vom Hohen Neuffen haben den Sprung in die feine Weinklasse geschafft. Die hohen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht garantieren Spannung, eine starke Aromatik und ausgeprägte Säure. Das ist, wie ein Weinmagazin meinte, „cold climate at its best“. Nicht umsonst setzen heimatverbundene Hochkaräter der feinen Gastronomie wie Gerd Windhösel (bei Reutlingen) oder Vincent Klink (Stuttgart Degerloch) diese Weine auf ihre Karte.
Dichtes Wander- und Fahrradnetz
Traufgänge sind keineswegs wagemutige Kerle mit Schreibfehler, sondern ausgesucht schöne Wanderrouten mit kleinen Zuckerln. Man findet sie an den aussichtsreichen Stellen rund um Albstadt. Aussichtsfelsen mit etwas Luft, der Hangende Stein und die Fernblicke von der Traufkante, dazu gleichsam als Belohnung das Postkartenpanorama vom Zeller Horn auf die Burg Hohenzollern. Die feine Wanderrunde mit entspannten 16 Kilometern ist großes Alb-Kino pur. Es gäbe noch viel mehr zu erzählen auf diesen 200 Kilometern von der Riesalb und dem Albbuch über die Kuppen- und Flächenalb zum Heuberg und zur Hegaualb. Eins ist klar: Wer sich auf eine Entdeckung der Alb einlässt, wird reichlich belohnt. Schwäbisch gründlich und konsequent ist die Alb gut vorbereitet: Das Wander-, Trail- und Bikenetz ist so dicht und komplex, da kann man sich überall nach eigenem Gusto durch den Schilderwald schlängeln. Trotzdem: Ein oder zwei Bücherl in der Münchner Buchhandlung wären schon schön.
Ach ja, noch etwas ganz am Schluss und weil man auf der Alb nicht drum rumkommt: Die Ortsendungen mit „ingen“ stammen aus den Siedlungsphasen im 5./6. Jahrhundert und bezeichnen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Person, einem Anführer. So lebten in Sigmaringen die Angehörigen eines Sigmars und in Winterlingen die Freunde des Winters. Also das „mia san mia und schreibn uns uns“ der Alb. Und ach? Ach, „ach“ bedeutet nichts anderes als Fluss und das Achtal (Blaubeuren) ist eben das Flusstal.