Dieser zarte Duft nach Thymian und Mandeln, Feigen und Kastanien! Und dieser Hauch von Kiefer, diese leichte Andeutung von Beifuß, diese Ahnung von Rosmarin und Lavendel! Ach, meine Freunde …“ Anmutiger kann man die sardische Geruchsvielfalt wohl kaum beschreiben, auch wenn das Zitat vom Korsen Osolemirnix stammt, der im 20. Asterix-Band anhand dieser olfaktorischen Überwältigung seine Heimatinsel „erriecht“. Auf der spektakulären Tour kommen aber auch die anderen Sinne voll auf ihre Kosten.
Zwischen dem türkisfarbenen Golfo di Orosei und den steil aufragenden Felswänden des Supramonte- Massivs reiht sich während der mehrtägigen Unternehmung eine malerische Traumbucht an die nächste. Klettersteige, kurze Höhlenabschnitte und atemberaubende Abseilstellen bereichern je nach Routenwahl die durch Steineichen- und Pinienwälder führende Exkursion. Felsentore im und über dem Wasser sowie hochaufragende Kalkgesteinsmonolithe runden das visuelle Erlebnis ab.
Aber „den“ Selvaggio Blu gibt es eigentlich gar nicht. Der Weg durch das ursprünglich von Köhlern und Hirten angelegte Pfade- und Steiglabyrinth führt oft scheinbar weglos durch das Gestrüpp der Macchia, über riesige Schotterfelder und auf ausgesetzten Felsbändern entlang. In den 1980er Jahren waren Mario Verin und Peppino Cicalò die Ersten, die Santa Maria Navarese mit der weiter nördlich liegenden Bucht Cala Sisine verbanden und die vielen Wegfragmente zu einer schlüssigen Route zusammensetzen konnten. Auch heute noch ist dies die populärste Variante dieses außergewöhnlichen Trekkingpuzzles.
Wir haben die Extremversion der Tour geplant. Sie verläuft zwar über weite Strecken entlang der klassischen Route, hat aber diverse Abstecher eingebaut, um zu den ausgesetzteren Passagen und besonderen Abseilstellen zu gelangen. Die vielleicht spektakulärste Abseilstelle steht gleich am ersten Tag an. Wir, eine bunt zusammengewürfelte Truppe mit Affinität zu verschiedensten Bergsportaktivitäten, starten morgens mit dem Landrover. Im Hinterland von Baunei geht es über holprige Schotterpisten zum Start. Entgegen dem Normalweg folgen wir unserem Guide Martin über scharfkantig erodiertes Karstgestein Richtung Cala Sisine, unserem ersten Etappenziel. Wie Martin den Weg findet, bleibt uns ein absolutes Rätsel. Über die nächsten Tage bemerken wir zwar immer öfter in Astgabeln geklemmte Felsbrocken oder aufgehängte Steinringe, aber für uns Ungeübte reicht das zur Orientierung nicht aus. Ordentliche Steinmännchen wie auch Farbmarkierungen bleiben im ganzen Gebiet eine Seltenheit.
Hinter einigen Ovili, den traditionellen Hirtenbehausungen mit Dächern aus Wacholderstämmen, bringen uns ein paar kurze Abseiler immer weiter an den Rand eines gewaltigen Grats. Dass wir inzwischen auf dem monumentalen Felsbogen des Arcu e s’orruargiu laufen, können wir nicht ahnen. Im steilen Gelände müssen wir ständig achtgeben, keine Steine loszutreten, die unsere inzwischen mit Helmen ausgestatteten Kamerad*innen treffen könnten.
Freihängend seilen wir von dem gewaltigen Felsentor ab
Dann erreichen wir den nächsten Abseilstand. Der über hundert Meter unter uns liegende Landeplatz ist noch unsichtbar. Als ich dran bin, kann ich ein leicht flaues Gefühl in der Magengegend nicht leugnen. Nur mit großer Mühe bekomme ich das Seil in das Abseilgerät eingelegt, so stark ist der Zug von unten. In die Lederhandschuhe geschlüpft, ein letzter prüfender Blick auf den Standplatz – dann lehne ich mich in den Abgrund. Die ersten zwanzig Meter geht es wie gewohnt an der Felswand entlang hinab. Doch dann weichen die Wände plötzlich zurück, die Füße finden keinen Halt mehr. Frei um die eigene Achse pendelnd eröffnet sich ein wahrhaft majestätischer Ausblick. Die imposanten Dimensionen des natürlichen Felsentors, in dessen Mitte ich mich befinde, rauben mir den Atem. Das Abseilen dauert schier endlos. Meine Hände und Unterarme sind völlig verkrampft, als ich nach einer gefühlten Ewigkeit am Talboden ankomme. Ich blicke in begeisterte, aber auch erleichterte Gesichter, während ich das glühend heiße Abseilgerät aus dem Seil nehme.
Im ausgetrockneten Bachbett geht es nach einer kurzen Pause weiter bergab. Dann steigen wir den rechten Hang hinauf und schlagen uns mühsam zur S’Istrada Longa, dem „langen Weg“ durch. Auf dem teils nur wenige Hand breiten, ausgesetzten Felsband inmitten der steilen Schluchtwand sind Trittsicherheit und Schwindelfreiheit gefragt. Absicherungen sucht man hier vergebens. In der Ferne lockt bereits das türkisblaue Meer, doch ist es noch eine anstrengende Etappe, bis wir uns endlich verschwitzt und erschöpft in die Brandung werfen dürfen.
Am nächsten Morgen tritt unsere Gruppe mit schmerzenden Beinen den weiteren Weg nach Süden an. Der Kontrast zwischen dem in zahllosen Blautönen schimmernden Golfo di Orosei und den steil aufragenden Felswänden liefert ein Postkartenmotiv nach dem anderen. Am Ende eines in luftiger Höhe angelegten Klettersteigs teleportieren uns zwei Abseilstrecken direkt in eine Geröllwüste. Unterhalb der Punta Plumare verursachten enorme Regenfälle 2015 einen gigantischen Felssturz. In der gelben Schneise, die in die grüne Landschaft gerissen wurde, sind bis heute kaum Pflanzen zu finden. Zwischen haushohen Gesteinsbrocken queren wir den Hang und gelangen am frühen Abend zur idyllischen Cala Biriola, der nächsten Bucht mit Traumstrand. Es folgt ein schweißtreibender Anstieg durch den gleichnamigen Wald. Der durchwühlte Boden und strenge Geruch zeugen von Wildschweinen, denen man nachts lieber nicht allein begegnen möchte. Über Leitern aus abenteuerlich ineinander verkeilten Wacholderstämmen gelangen wir schließlich auf die Hochebene und erreichen den Schlafplatz, wo unsere Ausrüstung bereits auf uns wartet.
„Heut wird es mal etwas anstrengender, dafür noch sensationeller“, verkündet Martin zum Frühstück. Dass in dieses Gelände mühelos noch strapaziösere Tagesetappen gelegt werden können, glauben wir sofort. Aber nach den überwältigenden Impressionen der ersten beiden Tage scheint uns eine Steigerung in Bezug auf das Naturerlebnis kaum möglich. Doch wir liegen falsch. Höhle, Abseilen, Felsentor, nochmal Abseilen direkt über dem Meer, wieder eine Höhle – ein Actionpark könnte nicht attraktiver sein als der durchlöcherte Bergkamm Bacu Padente! Auf Meereshöhe meistern wir einen Klettersteig direkt über der hochbrandenden Gischt. Eine spektakuläre Kulisse folgt auf die nächste. An der Grotta del Fico klettern wir nach oben, dann machen wir südwärts ordentlich Strecke. Nachmittagsziel ist das berüchtigte Felsband am Bacu Mudaloru. In schwindelerregender Höhe kommt hier nur weiter, wer auf dem Rücken liegend seinen Rucksack durch eine etwa 20 Meter lange ausgesetzte Engstelle bugsieren kann.
Es folgt ein Regentag. Wir marschieren durch Erdbeerbaumwälder, deren Früchte roh genießbar sind und Grundlage der sardischen Honig- Spezialität Amaro di Corbezzolo. Eigentlich stand heute ein Meerseillängen-Kletterklassiker an der Cala Goloritzé auf dem Programm. Stattdessen legen wir uns in der Ovile Bertarelli trocken. Abends dürfen wir ein mehrgängiges Festmahl aus im wahrsten Sinne des Wortes schweinischen und anderen sardischen Köstlichkeiten genießen. Am vorletzten Tag fährt der Abenteuerspielplatz ein furioses Finale auf. Ein Klettersteig und die darauffolgende Abseilpiste mit Blick auf die Pedra Longa sorgen einmal mehr für sensationelle Fotomöglichkeiten. Dann bringt uns eine weitere volle Tagesetappe über die am Ende sanft auslaufenden Bergrücken des Supramonte zurück nach Santa Maria Navarese.
Es liegt an uns allen, dieses Paradies zu erhalten
Gekommen waren wir ohne besondere Erwartungen. Serviert wurde uns eine derartige Masse an Superlativen, dass wir uns nicht mehr wundern, dass der Selvaggio Blu heute zu einer der bekanntesten und meistgebuchten Trekkingtouren weltweit zählt. Im Gegensatz zu anderen Individualtourismus-Regionen, wo eine flächendeckende Organisation und vernünftige Rahmenbedingungen für eine Regulierung der Besuchszahlen und einen möglichst umweltverträglichen Ablauf sorgen, ist in Sardinien allerdings noch Luft nach oben. Natürlich liegt es auch an uns, sich in der Natur möglichst so zu verhalten, dass keine Spuren hinterlassen werden. Aber die wachsende Zahl der Besucher*innen überfordert die Infrastruktur vor Ort: Müll und Fäkalien sind vor allem an den Schlafplätzen nicht mehr zu übersehen. Es bleibt zu hoffen, dass die kommunalen Behörden Entscheidungen mit Augenmaß treffen werden, um dieses wunderbare Gebiet in möglichst ursprünglicher Form einem breiten Publikum dauerhaft und nachhaltig zugänglich zu machen.
Und ja, mit genügend Eigeninitiative, soliden Kletter- und Abseilkenntnissen, guter Orientierung und gründlicher Planung lässt sich der klassische Selvaggio Blu auch auf eigene Faust durchführen, natürlich unter Berücksichtigung der lokalen Bestimmungen. Von eigenständigen Versuchen die Extremvariante betreffend raten wir hingegen mit Nachdruck ab. Auf jeden Fall aber wird der Selvaggio Blu für alle ein absolut unvergessliches Erlebnis sein, egal in welcher Form die Tour unternommen wird.