Seilschaft auf Grat über Wolken
Schroffe Grate sind wunderschön. Aber nur ohne Angst ist Genuss möglich. Foto: Pauli Trenkwalder
Hintergründe, Ursachen und Strategien

Sicherheitsforschung: Panik am Berg

Eine Panikattacke oder Ängste am Berg können alle treffen. Eine Bergsteigerin erzählt, was sie erlebt hat und wie sie mit der Panik umgegangen ist. Zudem veranschaulichen die Autorin und der Autor, weshalb Angst überlebenswichtig ist und welcher Umgang mit ihr unterwegs hilft.

Beim Bergsport sind Panikzustände keine Seltenheit, wie eine Online-Befragung der DAV-Sicherheitsforschung von 2021 (siehe Panorama 4/22) ergab: 14 % der Befragten gaben an, innerhalb der letzten zehn Jahre in den Bergen ein- oder mehrmals einen Panikzustand erlebt zu haben. Dabei ist nicht nur ein bloßes Gefühl der Angst gemeint. So wird der Zustand in dem Fragebogen beschrieben: „Aufkommende Angst, die nicht oder nur schwer kontrolliert werden konnte. Gemeint ist auch, wenn die Panik die Befürchtung auslöste, sich selbst nicht mehr kontrollieren zu können.“ 72 % der Betroffenen hatten einen solchen Zustand einmal erlebt – wiederholte Panikzustände am Berg wurden eher selten genannt (4 %). Jedoch kam die Panikattacke für 62 % sehr überraschend, 45 % erlebten sie als gefährlich und ein Drittel (33 %) empfand die eigene Handlungsfähigkeit als deutlich beeinträchtigt.

„Die Angst gehört zu meinem Beruf. Die Angst ist mein täglicher Begleiter, der mich antreibt, bremst, schützt und leitet. Die Angst als Richtungsgeber. Als Motor. Als Bremse.“
- Alexander Huber, Bergsteiger und Extremkletterer

Weil also nicht wenige Menschen im Gebirge einen derart intensiven Angstzustand erleben, gehen wir der Frage nach, wie überwältigende Angst am Berg entstehen kann, wie man mit ihr umgehen und sie kontrollieren kann. Eine Betroffene schildert im Interview eine solche Paniksituation:

michaela-brugger.jpg Michaela Brugger

Kannst du uns die Situation, in der es zu einer Panikattacke kam, näher beschreiben?

Anna

Mein Partner und ich hatten uns zu einer alpinen Klettertour entschlossen. Es war ein schöner Tag, Anfang November. Wir wussten, der Tag ist kurz und so sind wir sehr früh gestartet. Schon beim Losgehen war ich etwas müde, hatte schwere Beine und brauchte viele Pausen. Dadurch verloren wir Zeit, bis wir am Einstieg waren. Die Kletterei am Grat klappte dann gut, ich war im Nachstieg, hatte Pausen beim Sichern und konnte mich erholen. So bemerkte ich meine hohe Grundanspannung und Erschöpfung nicht mehr. Und dann weiß ich noch, da gab es diesen einen ausgesetzten Gratabschnitt, es ging rechts und links teilweise sehr steil in die Tiefe. Und dann kamen plötzlich Katastrophengedanken auf: „Wenn ich jetzt abrutsche und falle, wenn jetzt ein Stein locker wird oder sogar ausbricht, dann … Ich schaffe das nicht mehr, mein Körper ist nicht mehr fit genug.“ Und dann fing allein schon durch die Angst alles an zu zittern und ich begann mich festzukrallen. Das war der Moment, wo es mit der Panik so richtig losging. Ich saß auf diesem Stein, natürlich am Seil, festgekrallt in der Hocke, alles zitterte, mein Herz schlug wild, ich fing an zu schwitzen und zu verkrampfen. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Meine Wahrnehmung veränderte sich: Als ob es rechts und links von mir wirklich bis ganz ins Tal runtergehen würde. Und da ist nirgendwo ein Tritt oder Griff und ich bin ausgeliefert.

Michaela

Eine Angst, ins Bodenlose zu fallen?

Anna

Genau, das war wirklich ein Gefühl von „Wenn ich jetzt falle, sterbe ich.“ Oder: „Wenn ich das jetzt nicht schaffe, muss die Rettung kommen.“ Das alles endete in Katastrophengedanken: „Ich muss durchhalten, jetzt ist keine Zeit für Blockierung. Die Sonne geht auch noch unter. Ich komme da jetzt nicht mehr raus. Ich bin gefangen.“ Alles Faktoren, die diese Spannung noch mal hochgetrieben haben. Die Panikattacke überrollte mich so richtig.

Michaela

Gab es einen konkreten Auslöser für die Panikattacke?

Anna

Ja. Ich vermute, zu der starken Grundanspannung kam ein kurzer Moment des Schocks oder der Verunsicherung: ein loser Stein oder der Fuß rutscht kurz weg. So ein kleiner Moment, der diese körperliche Reaktion komplett ins Rollen brachte. Es kann aber auch einfach ein Gedanke sein wie: „Da ist kein Tritt. Wie komme ich hier runter? Ich schaffe das nicht.“

Michaela

Es können also auch harmlose Gedanken sein, die die Gedankenspirale auslösen?

Anna

Genau. Es ist ein kleiner Gedanke und wenn ich diesen in einer nicht angstbesetzten Situation hätte, wäre das überhaupt kein Problem. Wenn ich mich sicher fühle, psychisch stabil und körperlich fit bin, würde ich denken: „O.k., da ist kein Tritt, wo kann ich sonst meinen Fuß hinsetzen?“ Aber dieses lösungsorientierte Denken war einfach nicht mehr da. Und die Angst verstärkt sich dann, dass man sich selber nicht ganz vertrauen kann.

Michaela

Kehren wir nochmals zur Paniksituation zurück. Wie bist du mit der Paniksituation umgegangen, wie seid ihr als Seilschaft und Paar damit umgegangen?

Anna

Hier war es so, dass ich alles, was in mir vorging, aussprechen konnte, ohne mich vor meinem Partner zu schämen. Eine gute Unterstützung war, dass er anbot, meine Hand festzuhalten, wodurch ich Kontakt und auch Sicherheit spürte. Es war wichtig, dass mein Partner Verständnis für mich in der Situation zeigte und mit mir gemeinsam die Atmung regulierte. Heute weiß ich auch, ich brauchte etwas Kreislaufstärkendes: einen Riegel oder Schokolade und etwas zu trinken. Man darf nicht unterschätzen, wie verdammt anstrengend so eine Panikattacke ist. Das ist wie Leistungssport, man ist erst mal müde und erschöpft. Dann brauchte es einen Plan, wie und ob die Tour weitergeht.

Michaela

Wie können die anderen Beteiligten in so einer Situation selbst die Ruhe bewahren?

Anna

Ich denke, dass es hilfreich ist, wenn der Partner sozusagen eine Art Notfallplan hat: Hey, wir setzen uns jetzt hin und beruhigen uns. Wir trinken was und finden gemeinsam eine Lösung. Und anschließend, um Sicherheit zu geben, helfen klare, deutliche Ansagen: „Hier ist ein Tritt, hier kannst du den Fuß draufsetzen.“ Diese Begleitung half in der Panikattacke sehr und dann kam bei mir der Moment, wo ich diese detaillierte Anweisung nicht mehr brauchte und mich wieder in meinem Körper wohlfühlte.

Michaela

Hast du bereits mit der Atmung und positiven Selbstgesprächen gearbeitet? Helfen dir diese Methoden in der Situation?

Anna

Absolut. Ich glaube, das ist eigentlich auch das Realistische, was man umsetzen kann. Tatsächlich die Atmung zu regulieren, wieder gut auszuatmen, vielleicht auch mit einem Partner in den Atemrhythmus zu kommen. Das hilft mir sehr. Und Selbstgespräche führe ich auch gerne. Eher in Situationen, wo ich nicht gehört werde. Ich beschreibe und erkläre mir dann am liebsten selbst, in welcher Situation ich bin oder sage mir: „Ja, das hat mich jetzt erschrocken, aber es war nur ein kleiner Stein.“ Und mir selbst sozusagen die Situation und meine Gefühle spiegle.

Michaela

Wie lange dauerte es ab dem Zeitpunkt, als das Gedankenkarussell mit den Katastrophengedanken begonnen hat, bis du dich wieder stabil genug gefühlt hast, um die nächsten Schritte zu gehen?

Anna

Bei mir waren es vielleicht fünf Minuten. Meine Wahrnehmung war in dieser Situation ziemlich verändert: Ich hörte Geräusche extrem laut, die Steilheit wirkte bedrohlicher, der Abgrund sah viel tiefer aus, die Distanz weiter. In meiner Erinnerung war das ein ewiger Moment. Aber mein Freund berichtet, dass es rasch wieder vorbei war.

Michaela

Was hilft dir heute in deiner Vorbereitung und während der Tour?

Anna

Es ist sehr hilfreich, wenn ich in die Tourenplanung mit einbezogen werde. Und wenn ich ernst genommen werde mit meinen Sorgen und Bedenken. Und ich habe jetzt gerne Optionen parat, um auf verschiedene Situation reagieren zu können. Damit bekomme ich wieder Kontrolle und habe nicht das Gefühl, eine Tour unbedingt schaffen zu müssen. Auf der Tour nehme ich Frühwarnzeichen viel ernster und überlege dann gemeinsam mit dem Partner: Ist das heute wirklich die richtige Tour? So banal das klingt: Miteinander sprechen hilft!

Michaela

Die Panik war bei dir kein Einmalerlebnis und es ist realistisch, dass das nochmals auftreten kann.

Anna

Es ist mir bewusst, dass das wieder passieren kann. Deshalb ist es wichtig, nicht Angst vor der Angst zu bekommen, sondern ein Stück weit zu akzeptieren, dass es wieder passieren darf. Deshalb ist eine Nachbesprechung zu Hause sehr sinnvoll. Was waren die Bedingungen, die die Situation schwierig gemacht haben? Und vor allem: Was waren die Frühwarnzeichen und was hat geholfen, was nicht.

Toleranz für Stressreize

Die geschilderten Erlebnisse und Eindrücke verdeutlichen, wie bei erhöhter Grundanspannung die Resilienz (Widerstandsfähigkeit) gegenüber zusätzlichen, plötzlich auftretenden Stressreizen sinkt. Panikzustände können jeden Menschen treffen, auch wenn die Schwelle individuell verschieden ist. Bei geringer Anspannung können starke Stressreize gut verarbeitet werden, ohne dass die Panikschwelle erreicht wird. Wichtig: Sich nicht angespannt zu fühlen, kann trügerisch sein – auch positive Faktoren (z.B. ein beruflicher Aufstieg) erhöhen das Anspannungsniveau. Daher ist es wichtig, auf erste Anzeichen von psychischer Belastung zu achten. Bei hohem Anspannungsniveau können bereits geringe Reize Panikzustände auslösen.

Maßnahmen für Betroffene und Begleiter*innen

Nach der Tour/dem Panikerleben

  • Gemeinsam das Erlebte reflektieren

Bei wiederkehrenden Panikattacken

  • Körperliche Auslöser hausärztlich abklären und gegebenenfalls das Gespräch mit psychologisch Fachkundigen suchen

  • Belastend für Menschen, die eine Panikattacke im Gebirge erlebt haben, ist oft auch, dass sie es im Gelände, in dem sie sich einst wohlgefühlt haben, nun nur noch unter großer psychischer Anstrengung aushalten. Häufig bilden sich Angstreaktionen auch wieder zurück, Ängste hängen von der Tagesform und auch von größeren Veränderungen im Leben ab. Man kann darauf bauen, dass die Situation sich wieder bessern wird. Aber es gilt auch: Nach einem solchen Geschehen schwingt die Möglichkeit eines erneuten Auftretens durchaus mit.

Um wieder in Gelände gehen zu können, in dem eine Panik aufgetreten ist, gilt: keine Holzhammermethoden! Es kann notwendig sein, sich in ähnliche Situationen zu bringen, um zu erleben, dass eine Angst zu bewältigen ist. Aber es gilt, freundlich mit sich selbst zu sein:

  • Sich Zeit geben: Das Ziel ist nicht, bestimmte Wegpassagen sofort wieder angstfrei bewältigen zu können, sondern sich anzunähern, ohne sie zwingend ganz zu schaffen.

  • Sich kontrolliert dem Erleben der Angstempfindungen aussetzen, so weit gehen, wie man sich traut, innehalten, ggf. auch umkehren. Entscheidend ist nicht die Bewältigung, sondern das Erleben, dass eine Panik in einem bestimmten Rahmen bleibt.

  • Lernen, sich auch bei Empfinden von Angst selbst zu beruhigen. Das gelingt am besten über die Atmung (siehe oben).

  • „Augen zu und durch“ ist der falsche Ansatz; besser: Augen auf und selbstfürsorglich hinein. u Anforderungen langsam steigern: Überforderung hilft nicht.

  • Schließlich sollte man für sich klären, welches Gelände, welche anspruchsvollen Touren und welche Ausgesetztheit zum eigenen bergsteigerischen „Portfolio“ gehören sollen. Das kann auch die Entscheidung beinhalten, sich bestimmten Situationen nicht mehr oder seltener auszusetzen.

Gefühle am Berg: von Unsicherheit bis Panik

Zusammenhang zwischen Anspannung, Schwelle für Panikanfälle und Toleranz für Stressreize (überarbeitet nach Margraf & Schneider, Lehrbuch der Verhaltenstherapie). Quelle: DAV/Sicherheitsforschung

Funktionale Angst versus Panik

Angst warnt uns vor Gefahren und ist damit ein überlebenswichtiger Ratgeber. Ohne die Fähigkeit, Angst zu haben, könnten wir Gefahren nicht erkennen und deshalb auch nicht gegensteuern. In die Berge zu gehen bedeutete dann stets Lebensgefahr. Evolutionsbiologisch kann der Körper auf drei verschiedene Arten auf externe Stressoren reagieren: kämpfen, fliehen oder in Schockstarre verfallen (in der Hoffnung, die Gefahr möge vorbeiziehen). Dieses Schema läuft automatisch in uns ab, wenn Anzeichen von Gefahr wahrgenommen werden. Das Spektrum des Angsterlebens erstreckt sich dabei von einer einfachen Unsicherheit mit geringer Intensität (z.B. Gefühl von Beklommenheit, Zaghaftigkeit) mit geringem individuellem Angstempfinden über starke Nervosität, Furcht und Verzweiflung bis hin zur Panik mit Hilflosigkeit. Damit gehen auch immer massive körperliche Reaktionen einher. Sie reichen von erhöhtem Herzschlag, schnellerer Atmung, schwitzenden Händen, Schwindel, Muskelanspannung bis hin zu Schmerzen in der Brust. Auch die Mimik und der Sprachtonus können sich verändern. Funktionale Angst mit geringer Intensität kann gut reguliert werden. Bei bergsportlichen Aktivitäten verhindert sie vielfach Momente der Unachtsamkeit, die im schlimmsten Fall fatal enden könnten: „Da ist ein Abgrund, hier gehe ich jetzt langsam und konzentriert, setze jeden Schritt sorgsam und bedacht.“ Die funktionale Angst lenkt die Aufmerksamkeit auf die Erfordernisse der aktuellen Situation („Mach jetzt keinen Fehler!“) und sorgt für die nötige Klarheit. Erst mit hoher Angstintensität – der Panik – kommt es zum Erleben des Kontrollverlusts und gegebenenfalls zur Handlungsunfähigkeit. Doch auch in dieser Situation handeln wir meist nicht irrational oder gefährlich, sondern passen unser Verhalten instinktiv der jeweiligen Situation und den herrschenden Umständen an.

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