Die meisten Unfälle und Notlagen von DAV-Mitgliedern ereignen sich beim Bergwandern. Sie machen mit knapp einem Drittel den größten Teil aller Meldungen in der DAV-Bergunfallstatistik aus. Bergwandern wird hier definiert als das Begehen von markierten Wegen und Steigen (auch mit kurzen, leichten drahtseilgesicherten Passagen) bis zum Schwierigkeitsgrad T5 (Schweizer Wanderskala von T1 – T6) und mit Klettersteigpassagen im Schwierigkeitsgrad A. Das ist die gesamte Bandbreite des sommerlichen Bergsteigens außerhalb des Kletterns, Klettersteig- und Hochtourengehens.
Die gemeldeten Unfälle und Notlagen sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Unerkannt "unter der Oberfläche" liegen die Bedrängnisse und Notlagen, in denen sich Bergwandernde selbst oder wechselseitig geholfen haben oder die schlicht gerade noch mal „gut gegangen“ sind. Dieser verborgene Teil ist das eigentliche Unfallpotenzial.
Die DAV-Sicherheitsforschung möchte mit dem Projekt „Schief gegangen“ diese Kenntnislücke schließen. Die Idee: Wenn das Unfallpotenzial beim Bergwandern besser verstanden wird, können Präventionsmaßnahmen gezielter entwickelt werden. Unfallmeldungen oder Unfallanalysen allein, so notwendig sie sind, reichen nicht aus, denn das Ziel heißt, dem Unfallgeschehen voraus zu sein und nicht darauf zu warten, bis Unfälle und Notlagen eintreten.
Das Projekt „Schief gegangen“
Drei Fragen lagen der Studie zugrunde:
Wie häufig geraten Menschen, die im Gebirge bergwandern, in Bedrängnissituationen? Damit sind Situationen gemeint, die unfallträchtig sind; Notlagen, in die Bergwandernde geraten, auch wenn sie glimpflich ausgehen; Situationen, die zu körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen führen können; und schließlich Situationen, in denen gesundheitliche Faktoren zu Schwierigkeiten führen.
Wie erleben Bergwandernde diese Situationen? Eine Bedrängnissituation kann „objektiv“ gefasst werden: Eine Person, die im Gebirge schutzlos einem Gewitter ausgesetzt ist, ist faktisch in Bedrängnis. Damit sie aus dem Erlebnis einen richtigen Schluss zieht (etwa: früher aufbrechen), sollte das Bedrängnis auch als solches empfunden worden sein und nicht nur als ein Naturspektakel. Drei Aspekte können dazu führen, dass eine Bedrängnis auch zur Bedrängniserfahrung wird:
- die erlebte Gefährlichkeit der Situation
- der Grad der Überraschung für die Betroffenen (etwa vor einer weggerissenen Brücke zu stehen)
- die Beeinträchtigung der HandlungsfähigkeitWelche Rolle spielen Personen- oder Gruppeneigenschaften dabei, ob, in welche und wie häufig Bergwandernde in Bedrängnissituationen geraten? Können typische Vorstellungen („Stereotypen“) abgeleitet werden? So könnte man vermuten, dass junge und alpin nicht formal ausgebildete Menschen, die vor allem in sozialen Medien sehr beliebte Touren (Hotspots) auswählen, sich möglicherweise weniger gut orientieren können als Erfahrene, oder dass ältere Bergwanderer mit alpinem Ehrgeiz eher Gefahr laufen, sich gesundheitlich zu überfordern.
Methodisch zielte die Studie darauf ab, die Auftretenshäufigkeit von Bedrängnissituationen bei Bergwandernden abzuschätzen. Die Befragten sollten dafür die letzten zehn Jahre ihres Tourengehens betrachten.
Zur Erstellung der Umfrage sammelte und formulierte das Projektteam möglichst vollständig unfall- oder notfallträchtige Vorkommnisse beim Bergwandern. 59 Bedrängnissituationen wurden konkret beschrieben und mit einer standardisierten Frage eingeleitet:
Das wurde gefragt
Die Aspekte Überraschung, Gefahr und Handlungsbeeinträchtigung wurden für die Befragung mit Beispielen beschrieben und für den Fall erfragt, dass eine Bedrängnissituation mindestens einmal aufgetreten war.
59 mögliche Bedrängnissituationen hatte das Projektteam für die Studie definiert (Tab. 1). Für jede Situation mussten die Teilnehmenden zunächst angeben, ob und wie oft sie eine solche in den letzten zehn Jahren erlebt hatten. Anschließend beurteilten sie auf einer Skala von 1-5, wie sie diese empfunden hatten – in Bezug auf Überraschung, Gefährlichkeit und persönliche Handlungsfähigkeit. Dazu gab es eine beispielhafte Erklärung.
Die Teilnehmenden: 20 Jahre Wander-Erfahrung
Die Studie wurde als Online-Erhebung von Mai bis Juni 2021 durchgeführt, 1235 Personen füllten den Fragebogen vollständig aus. Sie können überwiegend als erfahrene Bergwandernde angesehen werden: Seit durchschnittlich 20 Jahren und an 30 Tagen jährlich unterwegs, auch auf längeren Wanderungen (siehe Tab. 2). Fast 70 % der Teilnehmenden waren zwischen 30 und 60 Jahre alt (im Durchschnitt 44). 57 % der Befragten gaben einen Universitätsabschluss als höchsten Bildungsgrad an. 69 % waren Mitglied des Deutschen Alpenvereins, 13 % Mitglied im ÖAV, AVS oder SAC.
Die häufigsten Bedrängnisse: Sich an einer Wegpassage unwohl fühlen und Rutschen oder Stolpern
Im Durchschnitt erlebten die Befragten 13 der 59 Bedrängnisse am Berg einmal bis öfter. Das Bedrängnis, das am häufigsten genannt wurde: sich an einer Wegpassage unwohl oder unsicher zu fühlen; eng gefolgt davon, schon einmal ausgerutscht oder an einer Stelle gestolpert zu sein. Die überwiegende Mehrheit (77% bzw. 82%; s. Abb. 3) der Befragten gab an, diese Bedrängnisse erlebt zu haben. Und dies nicht nur einmal: 35% der Befragten gaben an, sich zwei- bis dreimal unwohl gefühlt zu haben, weitere 22% bejahten ein noch häufigeres Auftreten. Beim Rutschen und Stolpern zeigte sich ein ähnliches Bild (2-3-mal: 30%, öfter: 33%).
Die Rangreihe wurde nach der Anzahl der absoluten Nennungen (mindestens einmal bis öfter) gebildet. Die Prozentzahl bezieht sich auf die Anzahl der Beantwortungen des Items. Beispiel für „Weg unwohl fühlen“: N = 1676 beantworteten die Frage; N = 1292 gaben an, diese Bedrängnis mindestens einmal erlebt zu haben. Das ergibt 77 %.
Bedrängnisse aus der Kategorie Tourenplanung (s. Tab. 1) waren unter den "top ten" mehrfach vertreten: schlechtere Wegverhältnisse, Tourenabbruch, erhöhter Zeitbedarf oder eine Tour, die schwieriger war als erwartet. Auch Orientierungsprobleme wurden häufig berichtet. Ebenso berichtete mehr als die Hälfte der Befragten (57%), dass sie in den letzten zehn Jahren ein Gewitter in der Nähe erlebt haben; viele nicht nur einmal.
Obwohl die Befragten überwiegend erfahren waren, war die Anzahl der Bedrängnisse aus der Kategorie Trittsicherheit und Souveränität überraschend hoch. Allerdings passt das zur DAV-Bergunfallstatistik: Stolpern, Umknicken oder Ausrutschen sind für 46% der gemeldeten Unfälle verantwortlich. Diese Ergebnisse bestätigen, dass souveränes Gehen und Trittsicherheit das A & O beim Bergwandern sind und daher das wichtigste persönliche Entwicklungsziel sein sollten. Ebenso dürften eine gute Tourenplanung und Orientierungskompetenzen die Gefährdung beim Bergwandern reduzieren. Angesichts der Tatsache, dass Gewitter von den Wetterberichten zuverlässig vorhergesagt werden und die Vorzeichen in der Regel gut erkennbar sind, gibt es zu denken, wie häufig diese gefährliche Situation erlebt wurde. Der Abruf aktueller, regionaler Wettervorhersagen und eine lokale Wetterbeobachtung auf Tour können diese Gefahr deutlich reduzieren.
Um die Relevanz einer Bedrängnissituation zu bewerten, reicht die Häufigkeit allein nicht aus. Es kann nämlich sein, dass sich eine Person an einer Wegpassage unwohl fühlt, sich aber dennoch als handlungsfähig erlebt. Dies könnte man dann als tolerable Grenzerfahrung einstufen. Deshalb müssen wir die Aspekte Gefahr, Überraschung und Handlungsfähigkeit zusätzlich betrachten.
Erlebte Gefährlichkeit: nur die Hälfte der Befragten schätzt Gewitter gefährlich ein.
Die drei am gefährlichsten erlebten Bedrängnisse waren Gewitter, Steinschlag und Panik.
Nach Expertenmeinung ist die direkte Exposition in einem Gewitter hoch gefährlich. 519 (38%) der Befragten gaben an, mindestens einmal direkt in ein Gewitter geraten zu sein, aber nur gut die Hälfte von ihnen (51%) schätzte die Situation auch als ziemlich oder sehr gefährlich ein. Dies verstärkt den Eindruck, der sich bereits bei der Häufigkeit der Bedrängnisse ergeben hat: Gewittererfahrungen treten nicht nur durchaus häufig auf, sie werden zum Teil unterschätzt. Allerdings sorgten die Befragten offensichtlich dafür, diese Erfahrung nicht zu oft wiederholen zu müssen: Lediglich 17 Personen gaben an, mehr als zwei- bis dreimal direkt in ein Gewitter geraten zu sein.
444 (33%) Personen gerieten mindestens einmal in einen Steinschlag, 50% von ihnen erlebten dies als ziemlich oder sehr gefährlich. Möglicherweise wird Bergwandern nicht mit „Steinschlaggefahr“ in Verbindung gebracht. Bergwege führen aber auch durch steinschlaggefährdetes Gelände oder darunter entlang, etwa unter Felswänden.
Panikzustände wurden von knapp 14% der Befragten mindestens einmal in den letzten zehn Jahren berichtet. Die zugehörige Beschreibung lautete: „Aufkommende Angst, die nicht oder nur schwer kontrolliert werden konnte. Gemeint ist auch, wenn die Panik die Befürchtung auslöste, sich selbst nicht mehr kontrollieren zu können.“ Wiederholte Panikzustände sind selten: Sie wurden von knapp 4% der Befragten berichtet. Gleichwohl erschienen Panikzustände 45% der Befragten als gefährlich. Schwierig zu unterscheiden ist, ob die erlebte Gefahr mit dem Panikzustand selbst zu tun hat (z.B. Gefahr, an der Panikattacke zu sterben) oder mit einer indirekten Gefahr durch die Panikattacke (z.B. in ein Gewitter zu geraten, weil die Angst blockiert; oder sich nicht mehr kontrollieren zu können und zu befürchten, abzustürzen). Eine Gefahr wird wohl meist in beiden Fällen erlebt werden.
Abb. 5: Bedrängnisse nach dem Grad der Überraschung
Eine Gefahr, auf die man gefasst ist, kann man oft besser kontrollieren. Deshalb ist der Grad der Überraschung ein Kriterium für die Brisanz der Bedrängnisse. Unter den zehn überraschendsten Bedrängnissen wurden einige besonders häufig erlebt (s. Abb. oben):
33% der Befragten berichteten das Ausbrechen eines Trittes. Bedenkt man, dass die Festigkeit eines Tritts optisch zumeist gut eingeschätzt und im Zweifelsfall geprüft werden kann, überrascht es, dass dieses Bedrängnis von 71% der Befragten als überraschend erlebt wurde.
Eine akute Steinschlaggefahr kann schwierig einzuschätzen sein, da oberhalb gelegene Wildwechsel oder andere Wandernde als Gefahrenquelle nicht immer auszumachen sind. Potenziell steinschlaggefährdetes Gelände dagegen lässt sich meist gut erkennen. Dieses Bedrängnis war ebenfalls relativ häufig (bei 33%) und überraschte zwei Drittel der Befragten deutlich (67%).
An einer Passage zu rutschen oder zu stolpern war das zweithäufigste Ereignis dieser Erhebung. Knapp zwei Drittel erlebten dies als überraschend. Mit alpiner Erfahrung lassen sich Halt und Reibung der Wegoberfläche meist gut einschätzen, so dass sowohl die Häufigkeit wie auch der Überraschungsgrad nachdenklich stimmen.
Rangreihe der Bedrängnisse nach der Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit
Im Unterschied zu den Aspekten Überraschung und Gefahr sahen die Befragten sich in den Bedrängnis Situationen meist noch als handlungsfähig an. Die stärkste Einschränkung der Handlungsfähigkeit empfanden die Betroffenen bei Panikzuständen, doch auch hier geben nur 33 % an, kaum oder nicht handlungsfähig gewesen zu sein.
Welches sind die problematischsten Bedrängnisse?
Um die problematischsten Bedrängnisse zu identifizieren, wurde folgendermaßen priorisiert: Gefährlichkeit war der wesentlichste Aspekt, gefolgt von Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit. Bedrängnisse, die häufig auftreten, wurden auch dann berücksichtigt, wenn sie weniger gefährlich sind. So erwiesen sich 18 von 59 erfragten Bedrängnissen als besonders problematisch:
Folgende Themen sollten bei Präventionsmaßnahmen besondere Aufmerksamkeit erhalten:
Souveränes Gehen und Trittsicherheit sind das „A & O“ beim Bergwandern und sollten daher persönliches Entwicklungsziel sein.
Bedrängnisse werden nicht immer als so gefährlich eingeschätzt, wie sie sind. Aufklärung sollte die Aufmerksamkeit für Alpine Gefahren wie Steinschlag und vor allem Gewitter beim Bergwandern in den Fokus rücken.
Bei Orientierung und Tourenplanung scheint es vielen schwierig zu fallen, die umfangreich angebotenen Infos aus Literatur, Karten und digitalen Apps gut ins Gelände zu übertragen.
Stereotypische Unfallkandidaten? Fehlanzeige!
Wir alle sind anfällig für Stereotypen, etwa für die Annahme, dass gesundheitliche Schwierigkeiten eher bei älteren Männern auf anspruchsvollen Bergwanderungen auftreten. Oder: die 20 jährige socialmedia-affine Hotspotsucherin, die blind einem GPS-Track hinterherläuft und die Orientierung verliert.
Nach möglichen Personenclustern und Unterschieden bei Bedrängniserfahrungen zwischen Gruppen wurde mit mehreren statistischen Verfahren gesucht – es konnten aber keine überzeugenden Cluster gefunden werden. Wenn Personengruppen sich in der Realität klar voneinander abgrenzen würden, hätte sich das bei der großen Stichprobe auch in den Daten zeigen müssen. Daraus folgt, dass Vorurteile wie „typisches Instagram-Haserl“ oder „alternder Bergsteiger, der nicht runterschalten kann“ zwar gelegentlich Einzelpersonen beschreiben können, jedoch nicht verallgemeinert werden dürfen und damit unseren Blick auf „den oder die Bergwandernden“ nicht prägen sollten.
Wie kann es weitergehen?
Die komplexe Situation am Berg und der Faktor Mensch lassen sich nicht mit einfachen Stereotypen beschreiben. Die Studie zeigt, dass Bergwandernde vor allem in den Kategorien „Trittsicherheit – Souveränes Gehen“, „Tourenplanung“ und „Orientierung“ Bedrängnisse erleben, diese aber meist nicht als sehr gefährlich einschätzen. Auch die Gefährlichkeit von Gewittererfahrungen wird oft unterschätzt. Denn all diese Bedrängnisse können zu Unfällen führen, wie die DAV-Bergunfallstatistik zeigt. Was bedeutet das für die Unfall-Prävention?
Wir müssen akzeptieren, dass im Gebirge nicht immer alles „glatt“ geht. Gewisse Bedrängnisse passieren auch umsichtigen und souveränen Akteuren. Negative Erfahrungen und Bedrängnisse können dazu motivieren, sie in Zukunft durch Kompetenzen und Haltungen vermeiden zu wollen. Um diese Umsicht und Souveränität zu erwerben, sind Präventionsmaßnahmen dennoch sinnvoll und notwendig.
Dabei müssen wir weiterhin zugestehen, dass Menschen im Rückblick auf Bedrängnisse dazu neigen, die Gefährlichkeit der Situation etwas abzuschwächen – vermutlich, um das allgemeinmenschliche Bedürfnis zu befriedigen, Situationen unter Kontrolle zu haben, und auch, um sich grundsätzlich als jemand sehen zu können, der richtige Entscheidungen treffen kann.
Ein Bedrängnis kann man vor allem dann uneingeschränkt reflektieren, wenn man feststellen darf, dass man damit nicht allein ist. Ideal geschieht das im Gespräch mit Menschen, die ähnliches erlebt haben, und in einer Atmosphäre der vertrauensvollen Selbstöffnung. Dann kann die Bedrängnis-Erfahrung eine persönliche Entwicklung anstoßen. Glücklich, wer ein solches Umfeld hat. Das DAV Ressort Sportentwicklung entwickelt derzeit ein webbasiertes Präventionsinstrument, das an dieser Verortung des eigenen Erlebens im Erleben von anderen ansetzt.