Wie bestellt beginnen sich die Wolken bei der Bergstation am Piz Corvatsch langsam aufzulösen, in der Luft flimmern Eiskristalle und erste Sonnenstrahlen bringen den Neuschnee zum Glitzern. Nach einigen Schwüngen auf der frisch präparierten Piste biegen wir ab und queren zwischen letzten Nebelfetzen zu einer Markierungsstange und zur ersten Felsstufe. Ein schmales, exponiertes Schneeband ermöglicht die Traverse und den Wechsel in ein Kar – hinter dem der nächste Abbruch wartet. Ein Fixseil hilft beim Abstieg über die teils senkrechte Felsstufe. Und dann ist es soweit: Der Wolkenvorhang lichtet sich endgültig und gibt den Blick frei auf den Festsaal der Alpen.
Direkt vis-à-vis erhebt sich der frisch verschneite Piz Bernina mit dem Biancograt, daneben ragt der Piz Roseg in den Himmel – ein Klassiker unter den Kalendermotiven. Und im Talschluss des Val Roseg ziehen die gewaltigen Gletscher der Sellagruppe die Blicke auf sich. Am Ende des Tales, am Fuß der Gletscher, sieht man bereits die Chamanna Coaz, eine Oase inmitten der Schneewüste. „Mir kommt die vor wie ein Raumschiff“, meint Timea Marekova, „da sieht man dieses riesige, tief verschneite Kar und die Gletscher. Und dann steht da am Fuß einer kleinen Moräne über einem gewaltigen Abbruch die Hütte – mitten im Nichts.“ Im Winter 2012 arbeitete die 36-Jährige, die seit diesem Winter beim Tourenportal alpenvereinaktiv beschäftigt ist, das erste Mal auf der Hütte – und verliebte sich auf Anhieb in diesen Ort. Genauso wie Ursula Schranz, die seit dem Jahr 2017 zusammen mit ihrem Mann Ruedi die Hütte bewirtschaftet. „Im Sommer 2002 war ich hier erstmals als Helferin“, erzählt sie, „und später haben wir immer wieder davon geträumt, vielleicht irgendwann selbst eine Hütte zu übernehmen.“ Eine Aussage, die Ruedi mit seinem trockenen Humor kontert: „Ich musste mitziehen, entweder machst du das zusammen und beide sind einverstanden oder es geht nicht.“
Längst sind die beiden ein eingespieltes Team, unterstützt durch Menschen wie Timea, die in den letzten Jahren insgesamt fünf Monate während der Skitourensaison auf der Coazhütte arbeitete, zuletzt im Frühjahr 2021. „Eine anstrengende Zeit, auch weil der Raum recht knapp bemessen ist und alle hier oben mit ihren Wünschen und Sorgen gehört werden wollen“, erinnert sie sich, „und die Arbeit hört ja nicht auf, wenn alle auf Tour gehen.“ Hin und wieder geht es sich zwar aus für eine kurze Spritztour, doch für längere Touren reicht die Zeit nicht: „Natürlich war ich immer neugierig, was hinter den Gipfeln und der Sellagruppe kommt.“ Und so ist sie mit Begeisterung dabei, um auf einer Runde über das Rifugio Marinelli, Alp Grüm, Diavolezza, Piz Palü und Piz Chalchagn und damit einmal um den Piz Bernina endlich einmal die Rückseite der Hüttengipfel der Coazhütte zu entdecken – und dabei natürlich auch Ursula und Ruedi zu besuchen.
Tiefe Spalten flankieren die Aufstiegsspur zu beiden Seiten
„Die Saison ist schwierig“, lautet bei unserem Besuch ein erstes Fazit der Hüttenwirtin, „wir hatten zwar über Wochen schönes Wetter und eine günstige Lawinensituation, aber nur wenig Gäste.“ Ein Grund dafür ist sicher die schlechte Schneelage. Teilweise gibt es auf den Gletschern meterhohe Absätze, die einige Routen unmöglich machen. Fast immer machbar ist allerdings die Tour auf La Muongia, eine ideale Abrundung des ersten Tourentages und landschaftlich ein Traum. Zum Greifen nah sind die Eisabbrüche und Hängegletscher unter La Sella und Piz Glüschaint, beeindruckend die Spalten links und rechts der Spur, faszinierend der Ausblick von der flachen Gletscherkuppe, den die meisten als Gipfel wählen, da der Anstieg zum höchsten Punkt leichte Kletterei erfordert. Eine atemberaubende Tour inmitten einer Gletscherarena der Superlative.
Zum Krafttanken geht es zurück zur Hütte, auf der alle bestens versorgt werden. Viele wissen gar nicht, wie groß der Aufwand dafür ist. „Wir haben keine Dusche und kein fließendes Wasser, sondern müssen das von der Quelle mühsam hertragen, wir spülen alles von Hand ab, du musst immer Feuer machen und es ist überall kalt“, erzählt Ursula, „im Vergleich zum Winter ist der Sommer Luxus.“ Eisig kalt sind auch die Toiletten. „Wenn man da mit Wasser den Boden putzen will, dann gibt das einen Gletscher“, erzählt Ruedi von seinen Versuchen. Doch im Sommer 2023 starten die schon länger geplanten Renovierungsarbeiten. „Ich bin kein Nostalgiker oder Romantiker von alten Hütten“, freut sich Ursula schon jetzt, “ich habe es gerne ein bisschen moderner und angenehm zum Arbeiten.“
Die Coazhütte ist ein beliebter Skitourenstützpunkt, der vom Piz Corvatsch gut zu erreichen ist und bereits im März in die Saison startet, mit einer Gipfelauswahl für mehrere Tage. Doch für die Runde um den Piz Bernina muss man bis Anfang April warten, denn das Rifugio Marinelli auf der italienischen Seite der Berninagruppe öffnet keinen Tag früher. Aufgrund schlechter Sichtverhältnisse und stürmischem Wind müssen wir zwar den Piz Sella rechts liegen lassen, doch gleich hinter der Fuorcla da la Sella bessert sich das Wetter schlagartig. „Es ist immer wieder schön, von der Nord- auf die Südseite zu wechseln“, freut sich unser Bergführer Simone Porta, „gefühlt ist da einfach mehr Sonne“.
Norden vs. Süden
Die zwei Seiten der Bernina: Riesige Gletscher auf der Nordseite, steile Felswände in Richtung Süden.
Wie das Wetter hat auch die Berninagruppe zwei Seiten. Riesige Gletscher etwa auf der Nordseite, während die Gipfel nach Süden mit steilen Felswänden abbrechen. Wir queren südseitig unter den imposanten Felsabbrüchen von Piz Roseg, Piz Scerscen und Piz Bernina – die von hier zwar gewaltig ausschauen, aber bei weitem kein Postkartenpotenzial besitzen – und steigen schließlich zum Passo Marinelli Occidentale auf. „Noch vor etwa 20 Jahren konnte man flach vom Gletscher zum Pass laufen“, erinnert sich der 36-jährige Bergführer, „mittlerweile wird der Gegenanstieg jedes Jahr länger.“
Die Marinelli Bombardieri Hütte ist ein stattlicher Steinbau, der über die Jahre immer weiter ausgebaut wurde. „In den 70ern des letzten Jahrhunderts gab es ungefähr 200 Plätze“, erzählt Giuseppe Della Rodolfa, „und selbst die reichten im Sommer manchmal nicht aus.“ Seit dem Jahr 2009 bewirtschaftet der Bergführer die Hütte, die für die Wintersaison natürlich völlig überdimensioniert ist. „Normalerweise zähle ich im April rund 600 Übernachtungen“, lautet seine Erfahrung, „diesmal wäre ich schon mit 300 zufrieden.“ Die meisten kommen von der Nordseite, also von der Coazhütte oder der Diavolezza und bleiben für maximal zwei Nächte. „Die Locals vom Tal nutzen die Touren dagegen nur zum Trainieren“, bedauert Giuseppe, „von denen übernachtet keiner bei mir.“ Wir sind zu dritt und gleichzeitig die ersten Gäste auf der soeben aufgesperrten Hütte. Auf der Terrasse stapeln sich Getränkeflaschen, die der Hubschrauber erst vor wenigen Minuten abgesetzt hat – und die jetzt verstaut werden wollen. Ein kleiner Holzofen in der Stube versucht vergebens, die Temperatur über dem Gefrierpunkt zu halten – die einzige Wärmequelle in einem über Monate ausgekühlten Haus. Gemütlich schaut anders aus, aber es gibt was zum Essen und Trinken – und in den Zimmern mehr als genug Decken. Und die Hütte hat zumindest überhaupt offen: „Es gab schon schlechtere Winter mit noch weniger Schnee“, erinnert sich Giuseppe, „da haben wir gar nicht erst aufgesperrt.“
Der nächste Tag startet grandios. Vis-à-vis leuchtet verführerisch der Monte Disgrazia im ersten Morgenlicht. Nach einem kurzen Gegenanstieg wechseln wir vom Schatten in die Sonne und auf die weiten, unberührten Schneeflächen des Vedretta di Fellaria. Die Kulisse bilden die steilen Abbrüche von Piz Argient und Piz Zupò, in die sich Reste eines Hängegletschers klammern. Vor einem begeistert ein imposanter Gletscherbruch, neben dem wir hinaufspuren auf die nächste Terrasse, das Altipiano di Fellaria. Wir steuern den Gipfelkamm des Piz Palü an und stoppen auf einer Höhe von gut 3550 Meter. Ein beliebiger Punkt in der Schneewüste bildet den Start für die Abfahrt zur Alp Grüm. Für Simone Porta eine der Schlüsselstellen der Runde. „Bei der Querung des Vadret da Palü hältst du dich am besten an die in der Schweizer Landeskarte eingezeichnete Route“, lautet seine Empfehlung. In normalen Wintern ein skifahrerischer Höhepunkt, doch im April 2022 keine gute Idee. Bei so einer schlechten Schneelage empfiehlt Simone, unbedingt über den Piz Palü oder Fortezzagrat zur Diavolezza zu wechseln. Denn nach den ersten, wirklich schönen Hängen erreicht man auf der Abfahrt zur Alp Grüm einen steilen Moränenhang über dem Lagh da Caralin. Der ist normalerweise gut eingeschneit, doch bei wenig Schnee aper und absolut steinschlaggefährdet.
Ein Highlight
Die Abfahrt durch das Loch (Foura) ist ein skifahrerisches Aushängeschild der Berninagruppe, das nur in schneereichen Jahren fahrbar ist.
Auf der Diavolezza erwartet einen eine komfortable Unterkunft mit Dusche, Heizung und Traumblick auf den Piz Palü. An perfekten Frühlingstagen zieht dieser Skitourenklassiker mehrere hundert Tourengeher*innen an. Die meisten geben sich mit dem Ostgipfel zufrieden, doch bei guten Verhältnissen sollte man die Überschreitung angehen – und zum krönenden Abschluss vom Eisbalkon der Bellavista die selten gemachte Abfahrtsvariante durch das Loch (Foura) wählen. So nennt sich das westlich der Fortezza eingeschnittene Kanonenrohr. Ein skifahrerisches Aushängeschild der Berninagruppe, das nur in schneereichen Jahren fahrbar ist. Ansonsten versperren meterhohe Eisabsätze oder breite Spalten das Durchkommen.
So wie im letzten Winter, in dem bereits der Normalweg auf den Piz Palü aufgrund der offenen Spalten ein Abenteuer ist. Selbst die Bovalhütte hat aufgrund der schlechten Schneelage noch geschlossen, so dass wir abkürzen und uns gleich Richtung Piz Chalchagn orientieren. Landschaftlich ein Traum – und wie die letzten Tage sind wir wieder komplett allein unterwegs. Ein steiler Südhang führt zum Finale hinauf auf den Gipfelkamm und auf einen im Vergleich zu seinen Nachbarn unscheinbaren, wenngleich unglaublich aussichtsreichen Eckpunkt der Berninagruppe. Auch hier ist der Schnee mehr als knapp, statt der geplanten Nordabfahrt Richtung Pontresina geht es daher zurück ins Val Morteratsch. Mit dem Flachstück hinaus zum Bahnhof endet die spannende Runde um den östlichsten Viertausender der Alpen. Während wir im Zug zurück nach St. Moritz fahren und dabei in Erinnerungen schwelgen, senkt sich der Vorhang – der Festsaal der Alpen verschwindet in den Wolken.